Früh verschwägert, spät verliebt

Sie sind nicht verheiratet und tragen doch den gleichen Namen. Zita und Markus Moser sind auf Umwegen zusammen gekommen. Dies ist die Geschichte ihrer zweiten Liebe. 

Zita und Marku Moser in ihrem Wohnzimmer.

Herr und Frau Moser sind ein Paar. Sie heißen gleich, ob wohl sie nicht miteinander verheiratet sind – und sie sind dennoch seit Jahrzehnten verwandt miteinander. Die Erklärung für diese ungewöhnliche Beziehungskonstellation ist einfach: Zita war 24 Jahre mit Markus‘ jüngerem Bruder verheiratet und hatte zwei Kinder mit ihm. Markus war 51 Jahre mit Herta verheiratet, mit der er auch eine Tochter hatte. Vor sechs Jahren ist seine Frau an Brustkrebs gestorben. Schwager und Schwägerin rückten in der Folge näher, so wie man das in der Familie eben tut. Man hilft einander, ohne Hintergedanken.

Heute leben Zita, 65, und Markus, 77, fast durchgehend zusammen in einem großzügigen Haus in der Nähe von Wiener Neustadt, das Markus, der über 40 Jahre Postangestellter war, mit seiner Frau vor über 20 Jahren gebaut und bezogen hat. Gegenüber beim Nachbarn stehen zwei in die Jahre gekommene Pferde auf einer Koppel. Das Zentrum des Hauses ist der helle, freundliche Wintergarten mit vielen Pflanzen. Im Sommer spendet vor den großen Fenstern ein wuchtiger Marillenbaum Schatten. „In guten Jahren trägt der Baum 300 Kilogramm“, sagt Markus mit demütigem Stolz.

Zita hat ihre eigene Wohnung in der Steiermark behalten. 24 Jahre lang lebte sie mit ihrer Schwiegermutter unter einem Dach. („Das war keine einfache Zeit.“) Der Mutter ihres Ex-Mannes und ihres heutigen Partners. Zita kennt also auch die engste Familie von Markus. Und das hat, glaubt man dem Paar, mehr Vor- als Nachteile. Markus muss Zita seine Verwandten nicht mehr vorstellen oder erklären, die Eigenheiten seiner mittlerweile verstorbenen Mutter kennt Zita selbst zu gut. Umgekehrt ist Markus Zitas Lebensweg vertraut, er weiß, was sie wann beruflich gemacht hat, kennt ihre erwachsenen Kinder. Begegnet man einander erst im Alter, hat man als Paar blinde Flecken vom Leben des anderen. Die haben Markus und Zita nicht.

Es ist schön, wie offen und unverkrampft das alte Paar über ihre noch frische Beziehung plaudert. Ihre Gesichter und den vollen Namen wollen sie dennoch lieber nicht in der Zeitung lesen. Darum nennen wir sie in dieser Geschichte Moser.

Zuerst war da Trauer

Die erste Zeit nach dem Tod seiner Frau war nicht einfach, erzählt Markus während er am Kopf des großen Esstisches im Wintergarten Platz genommen hat. Seinen Hausarzt hat er damals gebeten, dass er ihm Tabletten verschreibt, die es ihm ein bisschen leichter machen würden. „Aber der hat gesagt, dann wird es später nur umso schwerer, wenn Sie mit den Tabletten aufhören wollen.“ Also hat Markus nichts genommen. Hat sich stattdessen nach einem halben Jahr gezwungen, wieder mehr nach draußen zu gehen. Freunde getroffen, Bekannte zum Schnapsbrennen eingeladen, Seniorenfahrten gemacht. Auch gekocht und das Haus geputzt hatte er in dieser Zeit selber. Das macht er heute noch, wenn Zita nicht da ist. In dieser Hinsicht sei er immer schon ein moderner Mann gewesen, sagt Zita zufrieden.

Und dann kam eines Tages Zita aus der Steiermark zu Besuch. Die Schwägerin packte an, wo es notwendig war, half ihrem Schwager bei Hausarbeiten, die man eben doch nicht alleine schaffen kann. „Die ersten zwei Jahre habe ich, wenn ich auf Besuch war, im Gästezimmer geschlafen, wenn ich da war“, erzählt sie. „Und irgendwann hat’s Klick gemacht.“ Sie lacht laut und sieht dabei sehr glücklich aus. „Schon vor 30 Jahren haben wir gemeinsam Wein gelesen bei strömendem Regen“, sagt Markus. Da greifst immer nach oben und dir rinnt das Wasser bei den Ärmeln herein. Meine Bruder war nie da. Der hat nie bei der Arbeit geholfen.“ Aber an Zita war Markus nie interessiert. „Ich wäre nie scharf gewesen auf meine Schwägerin. Das war die Frau von meinem Bruder“, sagt er. Außerdem hatten er und seine Frau geglaubt, Zita führe eine zufriedene Ehe mit seinem Bruder. „Sie haben nichts gewusst von meiner Misere. Ich hatte nur zwei Freundinnen, bei denen ich mir mein Herz ausgeschüttet habe“, sagt sie. In Wahrheit sei ihre Ehe schon nach den ersten drei Jahren zu Ende gewesen, ihr Mann wenig zu Hause gewesen und habe seine Zeit mehr in seinem Geschäft und im Wirtshaus verbracht. „Aber ich habe immer gesagt, ich gehe erst dann, wenn meine Kinder auf eigenen Füßen stehen.“

Neues Leben mit 43

Genau so hat sie es dann 1996 getan. Hat mit 43 Jahren allein eine eigene Wohnung in einem anderen Ort bezogen und noch einmal von vorn Leben begonnen. Einige Jahre hatte sie einen jüngeren Partner. Auch bei ihrem 50. Geburtstag, den sie groß im Kreis von Freunden und Familie gefeiert hat, war der dabei. Sie zeigt das bunte Fotoalbum, das ihre Tochter ihr danach mit den Schnappschüssen von den Gästen und den Glückwunschkarten zusammengestellt hat. Und plötzlich taucht da ein Foto auf, das Zita und Markus längst vergessen hatten: Er und sie, der Schwager und die Schwägerin, Arm in Arm bei Zitas Fünfziger. Das Bild gleich links daneben zeigt die Jubilarin mit ihrer Schwägerin, der Frau von Max. Man sieht, wie nah man sich in der Familie war. 15 Jahre ist das bald her. Markus und Zita haben damals beide nicht in ihren kühnsten Träumen gedacht, später einmal miteinander das Leben zu teilen.

Die Kinder haben sich gefreut

Seit gut drei Jahren sind sie jetzt ein Paar. Zita wohnt die meiste Zeit bei Markus in der 1500-Einwohner-Gemeinde. Ihre Wohnung in der Steiermark hat sie ebenso behalten wie den kleinen Fischteich mit einer Holzhütte. Auch weil ihre Kinder und ihre Mutter dort wohnen und sie die immer wieder besucht. So verbringen sie ihre Zeit mal in seinem Haus, dann in ihrer Wohnung, dazwischen auch mal ein paar Tage getrennt, aber meist gemeinsam.

Ihr engstes Umfeld haben sie damals in Etappen informiert. Zuerst die engsten Freunde. Dann Zitas Kinder. Ihre Tochter, heute 45, und ihr Sohn, 41, haben sich besonders gefreut. Denn Markus ist nicht nur der Taufpate der beiden, sondern immer schon ihr Lieblingsonkel gewesen. Ihr Vater hatte sich in jungen Jahren wenig für seine Kinder und ein intaktes Familienleben interessiert. So kam es zu der paradoxen Situation, dass der Vater bei der Taufe seiner Kinder nicht dabei war, Markus als Taufpate aber schon.

Als Letzter erfuhr es der Ex und Bruder. „Die Verwandten haben schon gewusst von uns, aber er noch nicht.“ Beim Begräbnis einer gemeinsamen Cousine saß Markus in der Kirche neben ihm. „Und die anderen haben hinter unserem Rücken geredet: ,Schau, wia’s sitzen, die Brüder.‘ Beim Totenmahl ist ein Bekannter zu mir gekommen und hat gefragt, ob sich bei mir schon etwas tut mit einer neuen Partnerin. Und ich hab vor meinem Bruder noch gesagt: ,Na, es tut sich nichts.'“ Max lacht. Schließlich haben ihn die Kinder über die neue Beziehung ihrer Mutter informiert. „Da war er momentan schon geschockt“, sagt Markus. „Aber dann hat er gesagt: ,Meinen Segen habt’s und ihr passt’s eh besser zusammen als wir damals.'“ Heute hören sie sich regelmäßig und richten sich Grüße aus. Die Brüder verstehen sich, obwohl sie sich weder charakterlich noch äußerlich ähnlich waren.

Zita und Markus genießen ihr Leben, das spürt man. Und sie mögen das Leben mit dem anderen. Verstanden haben sie sich ja immer gut. Und dann erkannt, dass sie ein ähnliches Bedürfnis nach Gesellschaft und Aktivität haben. Gerade ist eine von Markus Urenkerl auf Besuch bei ihnen und wird liebevoll betreut. Zita hat das letzte Jahrzehnt ihres Berufslebens als Aktivbetreuerin in verschiedenen Seniorenheimen gearbeitet. Weshalb sie heute noch regelmäßig Walken und in ein Fitnessstudio geht. Markus brennt dann in der Zwischenzeit Schnaps im Keller, den er dann verschenkt oder verkauft, vor allem bei einem Markt jedes Jahr vor Weihnachten. Zita hilft ihm dabei, den Stand zu dekorieren und macht eifrig Fotos. Sie wandern und reisen gern, heuer geht es noch nach Südtirol und und auf eine Hütte ohne Strom in die Ramsau. Im Vorjahr hat Markus Zita auf eine einwöchige Fastenkur in die Steiermark begleitet, bei der er tapfer das karge Suppen- und Saft-Menü und das sanfte Sportprogramm absolvierte. Es überrascht nicht, dass sie die Leiterin der Fastengruppe längst besucht haben. Wenn man bei den Mosers zu Gast ist, klingelt ständig das Handy, einmal ihres, einmal seines. Der Nachbar von nebenan ist gerade Vater geworden und lädt die beiden spontan zur Taufe seines Neugeborenen ein. Zwei Tage kommt ein junges Paar, auf deren Hochzeit sie kürzlich eingeladen waren. Der Bräutigam wünscht sich Linsen mit Speck und Knödel und die bekommt er bei den Mosers.

Heiraten müssen wir nicht

Dass das mit ihnen so gut funktioniert, sei „wirklich ein Glück“, sagt Zita. „Wir gehen beide aufeinander ein.“ Wenn es doch eine Meinungsverschiedenheit gibt, wird die ausgeredet. So hat es Markus auch mit seiner ersten Frau gehalten. 51 Jahre waren die beiden verheiratet und haben unvorstellbar harte Zeiten überstanden. Vor 23 Jahren starb ihre Tochter mit nur 29 Jahren an plötzlichem Lungenversagen und hinterließ ihren Mann und zwei Töchter. „Das war nicht leicht“, sagt Markus. Auch das hat Zita mitbekommen, Markus muss seine Trauer nicht erklären.

Ganz ausschließen können sie es nicht, aber ans Heiraten denken Markus und Zita derzeit nicht. Sie heißen ohnehin gleich. Und die Vermögensdinge haben sie, aufgeräumt wie die beiden sind, bereits geregelt, auch ohne Trauschein. [*]

Späte Liebe: Die Zahl jener Menschen, die mit 60 Jahren oder später heiraten, hat sich in den vergangenen Jahren in Österreich mehr als verdoppelt. Gab es im Jahr 2000 noch 260 Frauen, die sich mit 60+ trauten, waren es 2014 schon 690. Bei Männern stieg die Zahl von 615 auf 1705. 2014 gab es einen Mann, der mit 95 (oder älter) heiratete. Für eine glückliche neue Beziehung ist es offenbar nie zu spät. 

Zita und Markus Moser in seinem Esszimmer. Ihre Wohnung in der Steiermark hat Zita behalten, doch sie verbringt viel Zeit bei Markus. Fotografieren lassen wollten sie sich lieber nur von hinten. [*] Clemens Fabry

Foto: Clemens Fabry
Zita und Markus Moser in seinem Esszimmer. Ihre Wohnung in der Steiermark hat Zita behalten, doch sie verbringt viel Zeit bei Markus. Fotografieren lassen wollten sie sich lieber nur von hinten.

Die Flüchtlinge und wir: Die neue Art der Hilfsbereitschaft

Wohnung bereitstellen, Deutsch beibringen, Kleidung sammeln. Die Flüchtlingskrise animiert viele Privatpersonen, sehr konkret Hilfe zu leisen. Das zeigt, wie sehr sich Freiwilligenarbeit verändert. Auch dank sozialer Netzwerke und wegen der Politik-Trägheit.

Eine deutsche Journalistin er zählt auf Facebook von ei ner ungewöhnlichen Taxi fahrt: Bepackt mit Säcken voller Windeln und Babysachen war sie auf dem Weg zu einem Berliner Flüchtlingsheim. Als sie beim Aussteigen zahlen wollte, fragte der Taxifahrer: „Sind das alles Spenden?“ Nachdem sie bejahte, erwiderte er: „Dann bezahlen Sie nichts.“ Anekdoten wie diese fallen noch immer auf, weil sie noch immer nicht selbstverständlich sind. Dennoch sind sie auch Zeichen für die zunehmende Welle der Solidarität mit den tausenden in Österreich, Deutschland und Ungarn gestrandeten Menschen aus Kriegsgebieten wie Syrien.

So kennt nun beinah jeder jemanden, der in der aktuellen Flüchtlings krise nicht mehr zusehen oder ein bisschen Geld spenden, sondern selbst aktiv werden will. Viele Privatpersonen sind in den vergangenen Wochen regelmäßig mit Kleidung, Toiletteartikeln oder Obst in das bis vor wenigen Tagen völlig überfüllte, unterversorgte Erstaufnahmezentrum in Traiskirchen gefahren. Zuvor hatten sie in ihrem Freundeskreis nach Sachspenden gefragt oder darum gebeten, auf eigene Kosten Deutschunterlagen auszudrucken. Manche stellen leer stehende Wohnungen für Flüchtlingsfamilien bereit oder verbringen Zeit mit einer Familie, andere veranstalten regelmäßig ein Begegnungs-Picknick im Prater, wieder andere organisieren einen Nachmittag für jugendliche Flüchtlinge in Wien. Unternehmen rufen zu Sammelaktio
nen auf. Nicht wenige Helfer tun dies auch öffentlich kund, das soziale Medium Facebook ist beliebte und geeignete Plattform dafür. Dort kann man nicht nur auf die Eigeninitiative aufmerksam machen und die eigene Hilfsgeschichte mit Bildern inszenieren (Motto: „Mein Flüchtling und ich“), sondern auch andere zur Mithilfe, zum Spenden animieren.

Die Hilfsbereitschaft wird so sichtbar – und sie verändert sich. Sie ist viel individueller und unmittelbarer geworden. Während man bei den Balkankriegen vor 20 Jahren vorwiegend mittels Geldspenden bei „Nachbar in Not“ half, wird heute mit ganz konkreten Dingen geholfen und direkt Kontakt mit Betroffenen gesucht. Die aktuelle Krise hat auch eine schöne Seite: sie zeigt eine wachsende Zivilgesellschaft, die sich engagieren will.

Einerseits hat das Versagen der Politik – vor allem in Traiskirchen – viele Menschen wütend gemacht und zum Handeln animiert. „Man traut dem Staat die konkrete Hilfe gar nicht mehr zu“, sagt Michael Walk, der Organisator der Wiener Freiwilligenmesse, die demnächst zum vierten Mal stattfindet. Zudem ist das Leid durch neue Medien viel unmittelbarer sichtbar als früher. Die bereits erwähnten sozialen Netzwerke sind nicht nur Mittel, um leichter miteinander in Kontakt zu treten, Hilfe zu organisieren oder sich in täglichen Dosen zu empören, sondern dort wird auch ein Klein-Wettbewerb im Helfen geführt. Offizielle Institutionen haben sich bisher mit groß angelegten Aktionen deutlich zurückgehalten. Das mag an den Sommerferien oder an der bevorstehenden Wien-Wahl gelegen sein, die die Parteien lähmt.

Erst jetzt laufen langsam größere Aktionen an. „Helfen. Wie wir.“, die Hilfsplattform des ORF soll im September starten. Morgen, Montag findet in der Wiener Innenstadt eine Groß-Demo unter dem Motto „Mensch sein in Österreich“ statt, am 3. Oktober lädt die Plattform für eine menschliche Asylpolitik zu einer ebensolchen.

Manchmal nur gut gemeint statt gut.

Michael Walk beobachtet die aktuelle Flüchtlingshilfe als Kenner der Freiwilligen-Szene sehr genau. Die Hilfsbereitschaft freut ihn, aber er hat auch einige Beobachtungen gemacht. In Österreich spielt Freiwilligenarbeit eine große Rolle. Vier Millionen Menschen helfen anderen unentgeltlich, ungefähr zur Hälfte innerhalb der Familie oder Nachbarschaft (informelle Freiwilligenarbeit), zur Hälfte in Vereinen und Institutionen (formelle Freiwilligenarbeit) – von der Freiwilligen Feuerwehr bis zur Altenpflege.

Aber Walk sieht massive Herausforderungen auf den Sektor zukommen: „Freiwilligenarbeit muss man sich leisten können“, sagt er. Bei steigender Arbeitslosigkeit und sinkendem Lohnniveau wird die Gruppe derer, die sich unentgeltliches Engagement leisten kann und will, immer kleiner. Auch sei es heute schwerer, Studenten für freiwillige Auslandseinsätze, etwa organisiert vom Österreichischen Bauorden, zu gewinnen, weil diese im Studium keine Zeit verlieren wollen.

Zudem würden die Helfer immer älter, weil es immer mehr aktive Senioren gibt. „Langfristig kann das aber ins Negative umschlagen, weil Vereine überaltern.“ In der aktuellen Flüchtlingskrise sieht er die vielen privaten Initiativen zwar positiv, manche Aktionen seien aber eher „gut gemeint als gut“. Er wünscht sich daher eine „stärkere Koordinierung der vielen individuellen Hilfsaktionen“. Er kenne viele „Projekte, die sich um Flüchtlinge kümmern, die gerade vor Helfern untergehen – aber dann gibt es andere, die dringend Helfer benötigen würden.“

Freiwillige werden mehr. Auch Petra Mühlberger von der Caritas beobachtet schon seit Längerem, dass das freiwillige Engagement im Land zunimmt. So waren etwa im Jahr 2014 insgesamt 300 Freiwillige im Asylbereich im Einsatz, 2015 sind es schon 500. (Zum Vergleich: Insgesamt 2200 Menschen helfen freiwillig in Caritas-Einrichtungen). Seit mehr als acht Wochen steht zudem der Omni.Bus vor dem Erstaufnahmezentrum Traiskirchen. „Gemeinsam mit knapp 1000 freiwilligen Helfern, die geschlichtet und sortiert haben, konnten wir seit Anfang Juli bei 40 Spendenausgaben an je 300 Menschen insgesamt rund 12.000 Spendenpakete verteilen“, sagt Martin Gantner, Pressesprecher der Caritas. Aber auch die Caritas bittet Helfer angesichts der Spendenmasse sich genau zu erkundigen, was konkret gebraucht wird. Sachspenden etwa können derzeit gar nicht mehr angenommen werden, weil das Spendenlager übergeht.

An konkreter Hilfe – egal, ob Zeit, Wohnraum oder Sprachkurse – wird es hingegen noch länger mangeln.

 

 

Zusammen hilft man besser als allein

Elf Wienerinnen bieten Hanaa, Abd und Zain Hamid aus Syrien ein neues Zuhause in Wien.

Vor ein paar Tagen ist er kollabiert. Plötzlich war Abd Hamid in seiner neuen Wiener Bleibe zusammengesackt. Seine Magenschmerzen waren zu stark geworden – er hatte sie bei seinen Gastgebern lange nicht erwähnt, weil er keine Umstände machen wollte. Aber Ehefrau Hanaa wusste, was zu tun war: Sie rief ihre Helferinnen an. Die hatten nach einer kurzen Beratung in ihrer WhatsApp-Gruppe und einigen Telefonaten erstaunlich rasch einen Arzt aufgetrieben, der den unversicherten Abd unentgeltlich behandelte. Am selben Tag kehrte er wieder nach Hause zurück und erholt sich seither langsam.

Elf Wienerinnen sind es insgesamt, die sich seit Kurzem gemeinsam um die Hamids kümmern (siehe großes Bild). Die elf sind Freundinnen seit den Kindergartentagen ihrer mittlerweile halbwüchsigen Kinder. Darunter etwa die Volksschullehrerin Doris Kucera, die Gastronomin Barbara Stöckl (nicht die Moderatorin), die Verlegerin Sibylle Hamtil, die Freizeitpädagogin Larissa Mayer und Sabine Klein, Sprecherin einer NGO. Immer wieder tauschten sie sich über die Entwicklungen in der aktuellen Flüchtlingskrise aus. „Am letzten Schultag standen wir zusammen und haben uns gedacht, dass man irgendwie helfen sollte“, erzählt Doris Kucera. Weil eine der Frauen eine kleine, freie Wohnung in der Gegend besitzt, entstand die Idee, dort eine Familie unterzubringen. Sie meldeten sich also Anfang August bei der Diakonie und noch am gleichen Tag lernten sie die Hamids kennen.

Freundschaft entsteht. Für Hanaa und Abd Hamid, beide 26, und ihren kleinen Sohn Zain ist es mehr als ein sicheres, sauberes Zuhause. Zwischen ihnen und den Helferinnen gab es sofort eine Verbindung. Hanaa ist eine schlanke, junge Frau mit hellen Strähnen im dunklen, langen Haar, wachen, funkelnden Augen und einem gewinnenden Lächeln. Sie spricht inzwischen so gut Englisch, dass man sich mit ihr unterhalten kann, und kann schon einige Worte auf Deutsch sagen.

Hanaa kommt aus der syrischen Küstenstadt Latakia, ihr Mann aus Aleppo. Sie war in ihrer Heimat als Buchhalterin tätig, er arbeitete nach dem Militärdienst als Verkäufer. Weil sie weder mit Assads Regime noch mit den Machthabern des Islamischen Staates (IS) kooperieren wollten, beschlossen sie zu fliehen. Ehemann Abd ging voraus in die Türkei, Hanaa kam kurz darauf nach. Da war ihr Sohn Zain nur wenige Tage alt. Heute geht der 17 Monate alte Bub mit den gelockten Haaren schon allein, wenn auch manchmal noch recht wackelig, und spricht erste Worte. Mehr als 50 Tage war die Familie zu Fuß von Griechenland nach Österreich unterwegs. „Die Schlepper sagten uns nicht, wo wir landen werden, ob Deutschland oder Schweden“, sagt Hanaa. Anfang Juli erreichten sie schließlich Österreich und das Auffanglager in Traiskirchen. Dort schliefen sie zunächst alle im Freien, ehe Hanaa und Zain mit 30 anderen in einem Raum schlafen konnten. Weil alle drei und vor allem der kleine Zain so krank waren, konnten sie das Lager verlassen und trafen schließlich auf die elf Helferinnen. „Ich bin so froh, dass ich diese großzügigen Frauen getroffen habe“, sagt Hanaa und lächelt.

Nach dem Einzug der Hamids übernahm jede der Freundinnen etwas anderes. Die einen kauften Möbel, die anderen halfen beim Aufbauen, andere begleiten die Familie bei Arztbesuchen oder zeigen ihr die neue Gegend und sprechen Deutsch mit ihr. Der Asylantrag läuft für die drei. Ihr oberstes Ziel ist: so schnell wie möglich Deutsch lernen.

Die Helferinnen erzählen, dass es von Vorteil ist, eine so große Gruppe zu sein: „Zusammen können wir das packen. Da traut man sich mehr zu. Allein ist das fast nicht vorstellbar,“ sagt Doris Kucera. Natürlich seien auch Kommunikationsmittel wie WhatsApp von Vorteil. „Manches geht dann ein bisschen schneller“, erzählt Sabine Klein. Auch im Bekannten- und Freundeskreis holen sie sich Hilfe. Die Reaktionen in ihrem Umfeld seien ganz verschieden. Von der unaufgeforderten 500-Euro-Spende im Kuvert bis zu blöden Sprüchen über „Machen wir jetzt auf Gutmensch“ sei alles darunter. Derzeit suchen sie für eine andere junge Syrerin und deren dreijähriges Kind, die Hanaa aus Traiskirchen kennt, eine kleine Wohnung innerhalb des Gürtels.

 

Die Presse am Sonntag, 29. August 2015

 

Der teuerste Tag

36.000 Ehen werden jedes Jahr geschlossen. Die Formel Standesamt/Kirche und zum Wirt ums Eck gilt längst nicht mehr. Ob klein oder groß, die Feier muss ungewöhnlich sein.

Irgendwann zwischen dem letzten April- und dem ersten Mai-Wochenende beginnt sie, zumindest in unseren Köpfen: die Hochsaison für das Ja-Sagen. Das Wetter ist endlich, die vielen Feiertage erleichtern das Freinehmen vor und nach dem Fest für Brautpaar, Familie und Freunde– und der Frühling steht ja immer irgendwie für Neuanfang.

Untersucht man die Zahlen der Statistik Austria, zeigt sich aber: Der Mai ist schon seit Jahren nicht mehr beliebtester Hochzeitsmonat. 2013 wurde am häufigsten im August geheiratet, 2012 und 2011 im Juni. Zudem lässt sich ein Faible für Zahlenspiele erkennen: Von 2001 bis 2012 gab es stets in jenem Monat (deutlich) mehr Hochzeiten, der numerisch zur Einerstelle der Jahreszahl passte (also: 2006 im Juni, 2010 im Oktober, aber auch im änner 2001 und im Februar 2002 waren es ungewöhnlich viele Hochzeiten für diese Jahreszeit). Spitzenreiter war der 8.8.2008.

Insgesamt geht die Zahl der Eheschließungen zurück, wenn auch nicht so dramatisch, wie viele glauben. Wurden in den 1990ern zwischen 42.000 und 45.000 Ehen pro Jahr geschlossen, sind es seit einiger Zeit 35.000 bis 39.000 (2005). Leicht gehen auch die kirchlichen Trauungen zurück: 2003 waren es noch 12.545, zehn Jahre später sind es 11.155.

 

Ein Tag ist nicht genug: Heirate lieber ungewöhnlich

In der gehobenen Mittelschicht ist es schon länger schick, kostspielige Hochzeitsgalas für mehrere hundert Gäste auszurichten.

Eine Fotoecke mit skurrilen Utensilien für die Gäste des Brautpaars gehört aktuell zur Minimalausstattung einer modernen Hochzeit. Bunte Brillen, Perücken oder Sprechblasen, in die man Glückwünsche für das Paar schreiben kann, bringen alle zum Lachen – und am Ende eines langen Tages Leichtigkeit in eine Sache, die bei vielen monatelang generalstabsmäßig geplant wurde.

Kutschenfahrt, berühmte Sänger, supergeschmackvoll dekorierte Galatische, mitternächtlicher Hotdog-Stand– die eigene Hochzeit wird in der gehobenen Mittelschicht gern als teures Großevent inszeniert, das schnell 20.000 bis 40.000Euro kostet. Das Schmalspurprogramm „Standesamt, Kirche, Wirt ums Eck“ ist schon sehr lange mehr Ausnahme als Regel. Brautpaare wollen heute nicht nur einfach vor Zeugen Ja sagen. Vielleicht, weil sie sich im Durchschnitt länger Zeit lassen mit dem Heiraten – und wenn es so weit ist, mit Ende 20, Anfang 30, will man dem bis dahin durch Studium, Auslandsaufenthalte und erste Berufsjahre ordentlich angewachsenen Freundes- und Bekanntenkreis nicht nur zeigen, wie gern man einander hat, sondern dass man verdammt noch mal eine wirklich fette Party feiern kann.

Wer schon in der Traumwohnung wohnt, am Anfang einer vielversprechenden Karriere steht und sich die gewünschten Autos, Reisen und/oder Hobbys dank Einkommen und/oder dem entsprechenden familiären Background leisten kann, der muss nur noch in der letzten Disziplin namens „Super-Wedding“ reüssieren. Also wird entweder wirklich groß in Palais, Schlössern oder (wenn auch in Österreich eher seltener) auf dem Privatgrundstück gefeiert. Oder besonders individuell, in Südfrankreich oder Italien oder an ganz speziellen Locations. Das Haus im (Neusiedler-)See der Familie Eselböck etwa lebt in den Sommermonaten gut von Hochzeiten.

Wenn ein oder beide Teile des Brautpaars eine Zeit im Ausland studiert oder gelebt haben oder nicht an ihrem Wohnort feiern, wird die Hochzeitsfeier schnell zum Dreitagesfest, in manchen Kreisen gar mit striktem Dresscode: Tracht bei der Soirée am Vorabend. Cut in der Kirche am Nachmittag. White Tie (bodenlanges Ballkleid für sie, schwarzer Frack für ihn) beim abendlichen Gala-Dinner. Sportlich-leger und mit Sonnenbrille beim Brunch am Tag danach. Dass Gäste für Outfits und Hotelzimmer selber aufkommen, ist dabei selbstverständlich.

Dass Hochzeiten von Kindern aus bürgerlichen oder aristokratischen Familien heute in der Regel größer sind, als die ihrer Eltern vor 30 Jahren, lässt sich erklären. Weil Freundeskreise dank Studium, sozialer Netzwerke und Berufe beider Partner noch einmal größer sind als früher – und wenn man Glück hat, der Wohlstand in einer Generation sich gesteigert hat. Den Rest hat die US-Eventkultur erledigt. Wer regelmäßig die „Wedding“-Seiten der Wochenendausgabe der „New York Times“ liest, erfährt fast nur von Hochzeiten der Upper- oder Middleclass in der eben beschriebenen Dimension.

 

Das Fest für andere planen

Weddingplanner sind die Cupcake-Bäcker der Eventbranche.

Seit sechs Jahren betreibt Ingrid Loss ihre „Hochzeitswerkstatt“ in Wien Währing. Als sie begonnen hat, habe es nur 60 Mitbewerber gegeben, „heute sind es sicher an die 200“, schätzt sie. Auch Diana Gruber und Miriam Kanneberger beobachten, dass sie immer mehr Konkurrenz bekommen. Seit 15 Jahren bieten sie mit ihrer Agentur Weddingplanner Hochzeitsberatung an. Jüngst seien viele junge Unternehmer mit Dumpingpreisen auf den Markt gedrängt. Nicht zuletzt, weil man sich heute auch beim Wifi einfach zum Eventmanager ausbilden lassen kann. In der Eventbranche sind die Weddingplanner also so etwas wie die Cupcake-Bäcker in der Patisseriewelt.

Das dürfte allerdings auch an der zunehmenden Nachfrage liegen. Vom Rundum-sorglos-Paket bis zu einzeln buchbaren Leistungen wie der Organisation des Caterings, der Blumen oder der Musik wird alles angeboten. Die Komplettorganisation einer standesamtlichen Trauung beginnt in der Hochzeitswerkstatt bei 1890 Euro, bei kirchlichen Trauungen bei 2490 Euro. Maryan Yeganehfar gehört die Wiener Yamyam Event Production, die seit 2008 auch Hochzeitsplanungen anbietet, darunter häufig mehrtägige Auslandshochzeiten. Ihr Komplettpaket beginnt erst bei 30.000 Euro „und ist nach oben offen“. Wie lang braucht man, um eine Hochzeit zu planen? „Ein Jahr im Voraus ist schön, aber ich habe auch schon Hochzeiten in vier Tagen geplant“, sagt Yeganehfar. Eine echte Notsituation: Das Brautpaar brauchte dringend Hilfe, weil alle Lieferanten plötzlich abgesprungen waren.

Opa wohnt jetzt in einer WG

Wohngemeinschaften sind längst nicht nur etwas für Junge. In Österreich sind Senioren-WG zwar noch eine Seltenheit, immer mehr Menschen wollen aber im Alter nicht allein leben und suchen Mitbewohner. 

Von Anna-Maria Wallner und Eva Winroither

Wenn Veronika Kritzer ihre Ruhe haben will, klebt sie ein Post-it mit den Worten „Bitte nicht stören!“ an ihre Eingangstür. Auch ihre fünfjährige Enkelin weiß dann, dass sie die Oma jetzt nicht stören darf. Wenn Frau Kritzer ein paar Stunden später aber ihr „Glas Rotwein nicht allein trinken will“, kann sie sich Gesellschaft in ihrem Haus suchen. Die 62-jährige Pensionistin lebt allein – und irgendwie auch wieder nicht. Vor über einem Jahr hat sie mit 60 Erwachsenen und 30 Kindern den sanierten Genossenschaftsbau in der Krakauerstraße bezogen. Familien, Paare, Alleinstehende haben ihre eigenen Wohnungen, teilen sich aber 700 m2 an Gemeinschaftsräumen und verpflichten sich, Zeit für die Gemeinschaft aufzubringen. Auch Kritzers Sohn ist mit Frau und drei Kindern hier eingezogen. So kann man sich nah sein, aber nicht zu nah. „In einem Zweifamilienhaus zu wohnen, das könnten wir uns nicht vorstellen“, sagt seine Mutter. Hier kann man sich aus dem Weg gehen, aber sich unterstützen, wenn es notwendig ist.

Mit ihren Gedanken ist Kritzer nicht allein. Alternative Wohnformen für Senioren, wie Hausgemeinschaften oder WG nach dem berühmten Serienvorbild der „Golden Girls“, erleben gerade einen Aufschwung. In Filmen wie der deutsch-französischen Komödie „Und wenn wir alle zusammenziehen“ oder gerade erst in der ARD-Komödie „Alleine war gestern“ wird diese Entwicklung (wenn auch etwas zu glatt) zunehmend thematisiert. Aber auch abseits der Kinoleinwand tut sich einiges. Das liegt in erster Linie an der 68er-Generation, die schon in der Jugend alternative Wohnformen gesucht hat und nun ins Pensionsalter kommt.

Und manchmal wird aus einem früheren Mehrgenerationenprojekt langsam eine Seniorengemeinschaft. Im Wohnprojekt Dörflein in Herzogenburg etwa wurden 1987 zehn Häuser rund um einen gemeinsamen Dorfplatz gebaut. Die 30 Bewohner waren sich besonders nah, als ihre Kinder klein waren – „und jetzt rücken wir wieder zusammen, da die Ersten ins Pensionsalter kommen“, erzählt der Jurist Markus Distelberger. Heute gibt es gemeinsame Sauna-, Frühstücks- und Walkingrunden. Seit einigen Jahren betreibt er mit einem Kreis von 50 bis 100 Menschen auf einem 20.000 m2 großen Gelände am Rand von Herzogenburg auch den Garten der Generationen. Dort wird zwar nicht gemeinsam gewohnt, aber gemeinsam geackert und gegartelt. Auch die Musikerin Beatrix Neundlinger, früher Teil der Band Die Schmetterlinge, beobachtet, dass ihre Hausgemeinschaft in Wien näherrückt, „wenn jemand Hilfe braucht oder eine Operation hat“. 1984 zogen mehrere Familien in das sanierte Haus, eine ehemalige Fabrik im 18. Bezirk – jeder in seine eigene Wohnung, aber man teilte sich Sauna, Hobbyraum und die Kinderaufsicht. Nun, da die Kinder langsam ausgeflogen sind, hat die Gemeinschaft andere Prioritäten.

Betreute WG

Dass alternative Seniorenbetreuung zusätzlich oder abseits von Altersheimen künftig eine große Rolle spielen wird, wissen NGOs schon längst. In Wien betreiben Wiener Hilfswerk, Caritas und Samariterbund (und die Stadt selbst) einige mehr oder weniger betreute WG. Ein Angebot, das langsam auf Nachfrage stößt: Der ehemalige Museumsmitarbeiter Johann Paternusch entschied sich etwa schnell dafür, in einer Senioren-WG zu wohnen. „Ich hab’s mit dem Blutdruck, da ist eine eigene Wohnung nicht mehr so gut, wenn man hinfällt. Hier hat man eine Hilfe“, erzählt er. Der 73-Jährige lebt seit vier Jahren in einer Senioren-WG des Wiener Hilfswerks. Zuerst im vierten Bezirk, seit Kurzem in einer neu gebauten WG nahe der U3-Station Enkplatz. Hier wohnt er mit Johanna Spielauer, einer 80-jährigen Wienerin mit schneeweißen Haaren und großen braunen Augen, die nach einer schweren Rückenoperation auf eine Gehhilfe angewiesen ist. Die WG hat sogar Platz für acht Senioren, bald soll ein neuer Bewohner einziehen. Wer hier wohnen will, muss allerdings mobil sein und sich selbst versorgen können. Eine Heimhilfe kommt zwar, „aber wenn etwas passiert, müssen sie sich zuerst selbst helfen können“, sagt Julia Gaviano, die die sechs Senioren-WG des Hilfswerks als Sozialarbeiterin betreut.

Dass er nicht rund um die Uhr bewacht wird, gefällt Paternusch hier besonders. „Im Altersheim ist man in gewisser Hinsicht eingesperrt“, sagt er. Hier aber könne er kommen und gehen, wann er will, auch in der Nacht. Und mit seiner Mitbewohnerin Johanna hat er, wie er sagt, „ein gutes Einvernehmen“. Auch das Zusammenleben in seiner ersten WG im vierten Bezirk, in der er mit zwei Männern, 85 und 75 Jahre alt, lebte, habe sehr gut funktioniert. „Man muss sich in jeder Lebensphase, ob alt oder jung, zusammenraufen“, sagt er. Gemeinsam hätten die drei Männer geschaut, dass Küche und Bad sauber gehalten wurden, ganz ohne Putz- oder Badezeitenplan. „Den Dreck, den ich mache, den muss ich auch wegräumen“, sagt Paternusch und klingt dabei wie ein Student, der den neuen Mitbewohnern die Regeln für das Zusammenleben erklärt.

Fingerspitzengefühl

Es sind die gleichen Regeln wie unter jungen oder mitteljungen Leuten, an die sich Senioren-WG halten müssen – und die gleichen Probleme, über die sie stolpern. Natürlich werden die gemeinsamen Unternehmungen mit zunehmendem Alter und schlechterem Gesundheitszustand der Bewohner weniger; alte Gewohnheiten lassen sich schwerer ändern. Überhaupt erfordert es Fingerspitzengefühl, die richtigen Bewohner zusammenzubringen.

Denn auch wenn das Thema „Zusammenwohnen im Alter in Mode kommt, nicht alle Bewohner, die Interesse an den WG bekunden, würden auch dazu passen, erzählt Sozialarbeiterin Gaviano. Beim Hilfswerk würden sich etwa immer mehr Menschen melden, die schwere psychische Problemen haben. „Das kann man den anderen nicht zumuten.“ Auch müsse manchen Menschen erst klargemacht werden, wie das Leben in einer WG funktioniert: Es gibt keine Bedienung wie im Altersheim, kein Programm, der Alltag wird nicht von extern strukturiert. Und manchmal passen Menschen auch einfach nicht zusammen. „Die Toleranz ist im Alter auch nicht mehr so hoch.“

Und so wie unter Jungen gibt es auch unter älteren Menschen jene, die sich selbst als nicht unbedingt WG-tauglich sehen. Mirsada Fazlic wohnte nach einem Schlaganfall in einer Hilfswerk-WG, möchte aber unbedingt wieder allein wohnen. „Ich will nicht so viel mit älteren Menschen zusammen sein“, sagt sie. Johann Paternusch hingegen will seine WG nicht mehr verlassen. „Meine vorletzte Station ist hier“, sagt er. „Dann kommt der Friedhof.“ [*]

Alternative Wohnformen: Adressen und Filme

Senioren-WG. Einen Überblick über organisierte Senioren-WGs gibt es auf www.wien.gv.at Das Wiener Hilfswerk betreibt derzeit etwa sechs WG. Plätze sind noch frei: www.hilfswerk.at.

Mehrgenerationenprojekte gibt es viele, und es werden immer mehr: etwa das Wohnprojekt Krakauerstraße, Wien (www.wohnprojekt-wien.at). Oder das Gemeinschaftsprojekt Brot in Kalksburg (www.brot-kalksburg.at). Derzeit sind in beiden Projekten alle Wohnungen vergeben.

Gleichgesinnte für eine private WG kann man über Kleinanzeigen oder im Freundeskreis suchen.  

Garten der Generationen: Hier wird nicht zusammen gewohnt, aber ein 20.000 m2 großer Garten am Rand von Herzogenburg bestellt: gartendergenerationen.net

Filmkomödien zum Thema: Die britische Komödie „Best Exotic Marigold Hotel“ (mit u. a. Maggie Smith) und das französisch-deutsche Pendant „Und wenn wir alle zusammen ziehen?“ (mit u. a. Jane Fonda) waren Vorlage für die deutsche Komödie „Alleine war gestern“, die gerade in der ARD lief (Bild rechts), ist noch bis Donnerstag in der Mediathek abrufbar. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Buch von Beatrice Meier.

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Die neuen Geschäftsbedingungen von Facebook verunsichern manche Nutzer. Dabei seien sie nicht neu, sagen Experten und geben Tipps, wie man mit der Datensammelei leben kann.

„Folgen, posten, hiden, hosten/ich muss ins Netz, bin am Verdursten/Ich muss Freunde filtern, Bild aus, Bild an/Ich muss Jesus liken, Learjets ordern.“ So singen die Krawallmacher der Hamburger Band Deichkind in ihrem neuen Lied „Like mich am Arsch“. Es ist eine spaßige Digitalkritik, die unser Verhalten in sozialen Netzwerken verblödelt. Aber selbst bei den humorig-intelligenten Texten von Deichkind kommt ein Aspekt der Social-Media-Nutzung gar nicht vor: nämlich das, was Unternehmen wie Facebook, Google und Co. hinter unserem Rücken mit unseren Daten machen.

Seit wenigen Tagen erntet Facebook vor allem in Europa wieder Kritik. Mit 1. Februar hat der Social-Media-Riese, der in Österreich mittlerweile mehr als 3,4 Millionen Nutzer hat, seine allgemeinen Geschäftsbedingungen geändert. Ab sofort wertet Facebook auch die Daten seiner Nutzer von WhatsApp und Instagram aus und führt sie mit Ergebnissen von GPS-, Bluetooth-, Wifi- und Zahlungsvorgängen zusammen. So will es den Nutzern noch gezielter Werbung anbieten. Zwar hat Facebook diese Ausweitung seiner Datensammelaktivitäten angekündigt, doch das bedeutet nicht, dass die AGB auch Geltung haben. Wie schon bisher setzt sich das Silicon-Valley-Imperium von Marc Zuckerberg darüber hinweg und geht davon aus, dass jeder User den neuen AGB automatisch mit der Nutzung des Netzwerks zustimmt.

Digital Detox? Vergangene Woche listeten Foren und Blogs zahlreiche Ratschläge auf, wie man sich gegen den Datenzugriff von Facebook wehren kann. Doch fragt man bei Digitalexperten genauer nach, erklären sie einem: Machen könne man dagegen eigentlich nichts. Judith Denkmayr, Gründerin der auf Social Media spezialisierten Wiener Agentur Digital Affairs, sagt: „Wenn ich im Internet bin, muss ich davon ausgehen, dass ich beobachtet werde und Spuren hinterlasse.“ Die Aufregung um die AGB-Änderung von Facebook kann sie zwar nachvollziehen, doch gibt sie zu bedenken, dass sich die öffentliche Kritik stets auf die großen Unternehmen Google und Facebook konzentriert. Dabei werde außer Acht gelassen, dass so gut wie alle Internetunternehmen mittels Cookies und über andere Plattformen an Daten der Internetnutzer herankommen. „Facebook und Google sind zwar die großen Mächtigen, die unter besonderer Beobachtung stehen, aber andere Unternehmen machen es deswegen nicht weniger.“

Was also soll man tun, aussteigen oder radikales Digital-Detoxing betreiben? Judith Denkmayr hat einen anderen Zugang: „Wir müssen lernen, damit umzugehen.“ Denn auch, wenn es durchaus Sinn ergeben würde, nicht mehr mit dem Handy zu telefonieren, wenn man glaubt, dass das schädlich für das Gehirn ist, sei das einfach nicht praktikabel. Jeder Einzelne müsse sich selbst fragen, wie wichtig ihm Datensicherheit ist, wie viel Informationen er von sich preisgeben will. Es kann beispielsweise aufschlussreich sein, sich auf Facebook unter den Einstellungen eine Kopie der gespeicherten Daten zuschicken zu lassen. Allerdings gilt zu bedenken: Vieles, was dort gespeichert ist, ist überhaupt nicht relevant oder nützlich für Facebook. Und noch etwas sei vielen Nutzern nicht bewusst, sagt Denkmayr: „Es bringt mir auch nichts, wenn ich nicht meinen echten Namen angebe. Facebook ist mein Name nämlich egal, die Daten sind viel wichtiger.“

Nicht neu. Auch Max Schrems, der österreichische Jurist, der seit Jahren datenschutzrechtlich gegen Facebook vorgeht, versteht die Aufregung um die jüngste AGB-Änderung nicht recht. Dass Facebook auch Daten von Drittseiten auswertet, hat er bereits 2011 angezeigt. Zudem würde Facebook jedes halbe Jahr seine Geschäftsbedingungen ändern.

Auch er sagt, ähnlich wie Denkmayr: „Entweder man wird Einsiedler und benutzt das Internet nicht mehr, oder man lebt mit dem Bewusstsein, dass das eigene Tun gespeichert wird.“ Und er räumt mit einer weit verbreiteten Mär auf: Jeder Nutzer kann seine Einstellungen auf Facebook so programmieren, dass andere Menschen möglichst wenig von der eigenen Aktivität mitbekommen. Es habe auch Sinn, sich mit diesen Einstellungen genauer zu beschäftigen. Doch was den meisten nicht bewusst ist: „Auch wenn ich alle meine Aktivitäten nur für mich sichtbar mache, liest einer immer noch mit: Facebook!“ Man könne also verhindern, dass Freunde oder Fremde Postings lesen oder hochgeladene Fotos sehen können, ebenso kann man abstellen, Werbung zu sehen, „aber die Datensammelei von Facebook kann ich nie ausschalten.“ Ebenso unmöglich zu verhindern ist es, dass Facebook und andere Unternehmen über meine Freunde, also Dritte, Daten von mir sammeln. Denn die meisten Apps greifen mittlerweile auf die Kontakte der Smartphone-Nutzer zu. Wenn ich also in geschätzten 100 Adressbüchern von Bekannten und Freunden gespeichert bin, tauche ich in hunderten Apps auf.

Auch wenn es etwas abgeklärt wirkt, was die Digitalexperten proklamieren, sind Denkmayr und Schrems naturgemäß skeptisch gegenüber Facebook. Noch dazu, weil sich das börsenotierte Unternehmen gerade von einem sozialen Netzwerk zu einem allgemeinen IT-Anbieter wandelt, der vor allem eines will: noch mehr Geld verdienen. Die „New York Times“ beschrieb das Netzwerk mit einem laut bellenden Hund, der auf einen zurennt, von dem man aber nie genau sagen könne, ob er mit einem spielen oder einen fressen wolle. Für Denkmayr stellt sich die Frage, ob Facebook es sich wegen der ständigen AGB-Änderungen und Algorithmusspielereien „nicht irgendwann mit seinen Usern verscherzen wird“. Doch wie gesagt: All die anderen Internetriesen machen es nicht viel anders.

Credit: Clemens Fabry

(Presse am Sonntag, 8.2. 2015)

Alexander von Schönburg: „Plädiere dafür, auch mit Vollidioten auszukommen“

Der Journalist und Autor Alexander von Schönburg hat eine Verteidigungsschrift auf den Small Talk verfasst. Ein Gespräch.Schönburg_Alex_von_(C) Benno Kraehahn_007.JPG_Druck

 

 

Nach der „Kunst des stilvollen Verarmens“ schreiben Sie jetzt über „die Kunst des stilvollen Mitredens“. Wieso?

Alexander von Schönburg: Verstehen Sie es bitte als Resultat einer Kapitulation. Ich wollte ursprünglich ein Buch über all das schreiben, was wir nicht wissen. Ich wollte um die Welt reisen und Wissenschaftler aus allen möglichen Disziplinen dazu befragen, was sie als letzte Geheimnisse ihrer jeweiligen Spezialgebiete betrachten. Nach kurzer Zeit musste ich aber feststellen: Es gibt keine letzten Rätsel, es gibt viel mehr Unwissen als Wissen. Mit jedem Rätsel, das die Wissenschaft gelöst hat, haben sich weitere Rätsel aufgetan. Um es mit Donald Rumsfeld zu sagen: „There are known unknowns. But there are also unknown unknowns.“ Kurz gesagt, die Welt ist so komplex geworden, dass man nur noch ackselzuckend davor steht. Und doch leben wir ja in einer Welt, in der alle glauben, immer und überall mitreden zu können. Mein Buch ist da gewissermaßen Aufschrei und Rettungsanker zugleich, weil ich inmitten dieses Überinformationschaos ein paar Themen benenne, mit denen man sich über Wasser halten kann ohne wie Vollidioten zu wirken, was wir in Wahrheit natürlich alle sind.

 Sie teilen diese Themen in drei Kategorien: Pauschalthemen wie Fußball, das Internet oder Kunst. Jokerthemen wie Adel, Jagd und Sex, die durchaus Kontroversen auslösen können und Chloroformthemen wie das FAZ-Feuilleton, New York und Fernsehserien. Bei denen geht es um nichts, aber jeder kann etwas dazu sagen.

Mein Buch ist kein Buch über Smalltalk, es ist Smalltalk. Weil dies heutzutage die einzige angemessene Tonart ist, um über die Themen unserer Zeit zu reden. Alles andere ist Hochstapelei. Wer behauptet, den Durchblick zu haben, kann nur ein Aufschneider sein. Nur im Plauderton, nur im Witz, kann man mit den Ungereimtheiten unseres Daseins umgehen, der Plauderton ist der einzige Ton, der Rechthaberei und Moralscheißerei ausschließt.

Viele Menschen tauschen sich heute mehr in digitalen als in realen Räumen aus, etwa auf Twitter. Wird dort auch Smalltalk gemacht?

Die sozialen Medien sind das Gegenteil von Kommunikation, weil sie Empathie verhindern. Im Internet können Sie jede x-beliebige Person fertig machen und anspucken ohne dabei auch nur rot zu werden. IRL, in real life, um im Internet-Speak zu bleiben, würden Sie sich so etwas niemals zu trauen. Zu recht. Regeln des zivilen Miteinanders würden einen davon abhalten. In virtuellen Räumen gelten keine Regeln des zivilen Miteinanders.

Wenn aber Smalltalk wie ein Tennis-Spiel ist, bei dem man sich Bälle unterschiedlicher Stärke zuspielt, dann geht das auf Twitter auch recht gut.

Das ist jetzt als ob Sie YouPorn mit echtem Sex vergleichen.

 Warum hat Smalltalk einen schlechten Ruf?

Alle haben Angst, seicht zu wirken. Das ist ein Erbe unserer bildungsbügerlichen Tradition. Von einem Gombrich raunte man noch, er hätte angebliche sämtliche Bücher seiner Zeit gelesen, die Enzyklopädisten der Aufklärung hatten noch den Anspruch, das gesamte Wissen der Welt in einem Werk zu sammeln, von Fragen der Philosophie und Anatomie bis hin zur Kunst des Marmeladeneinkochens. Am Ende landeten sie mehr als 70.000 Texten in 35 Bänden. Wie viele Bände müssten es heute sein, um das ganze Wissen der Welt zu sammeln? Wahrscheinlich wurden, während wir gerade sprechen, mehr Informationen online gestellt als in den letzten 10.000 Jahren Menschheitsgeschichte zusammen genommen aufgeschrieben wurde. Es gab eine Zeit, da sprachen kluge Menschen mit Autorität. Das ist vorbei. Heute gestehen kluge Menschen sich vor allem ihre Ahnungslosigkeit ein.

Wie sieht es wirklich mit aktuellen politischen Themen wie der Ukraine-Krise, Islamlischer Staat, Pegida aus. Soll man darüber reden?

Das sind ja noch die einfachen Themen. Kompliziert und langweilig wird es bei wirklichen Politikthemen wie Energieversorgung, Pensionsversicherung, Euro-Kurs der EZB… Blicken Sie da etwa durch?

Das Heikle an politischen Debatten ist ja auch, dass man schnell erfährt, welche Weltanschauung und mitunter welche radikale das Gegenüber hat.

Ich plädiere dafür, auch mit Vollidioten auf Dinnerpartys auszukommen. Mit Leuten zu plaudern, die auf der gleichen Wellenlänge liegen, ist keine Kunst. Zivilisiert und taktvoll zu bleiben, wenn der Gegenüber ein Langweiler oder ein Scheusal ist, das ist die Kür.

Wie entkommt man einer langweiligen Konversation?

Da hilft nur die paradoxe Intervention: Mit voller Aufmerksamkeit zuhören. Ein echten Gesellschaftslöwen zeichnet übrigens aus, dass er gerade scheinbar uninteressanten Menschen besondere Aufmerksamkeit schenkt und Nervensägen mit ganz ausgesuchter Herzlichkeit begegnet, allein schon um dadurch deren Charmedefizit auszugleichen.

Was langweilt Sie derzeit?

Das meiste. Langweilige Themen sind üppig. Man sollte eher über das Wenige reden, was nicht langweilt.

Und was ist das bei Ihnen?

Ich bin im Moment ganz besessen von Houellebecqs neuem Buch. Ich lese es nicht nur langsam und genüsslich, ich lese auch alles, was darüber geschrieben wird, die Rezeption und ich begebe mich in die Neben-Avenuen, die sich darin eröffnen. Vom Wallfahrtsorts Rocamadour habe ich zum Beispiel dank Houellebecq das erste Mal erfahren. Jetzt will ich da unbedingt hin. Dann natürlich die geheime Hauptperson des Romans: Joris-Karl Huysmans! Dessen Buch „Gegen den Strich“ kommt ja als geheimnisvolles „yellow book“ im „Bildnis des Dorian Gray“ vor. Ein völlig vergessener Autor. In meinem „Kunst des stilvollen Verarmens“ spielt Huysmans Figur Des Esseintes natürlich auch eine Rolle, aber bislang war Huysmans eigentlich nur Eingeweihten ultra-katholischer Untergrund-Literatur ein Begriff.

Österreicher versus Deutsche: Wer ist der geübtere Smalltalker?

Das liegt nahe, das ist wirklich fishing for compliments.

Wieso? Wir vertragen durchaus Kritik.

Österreich profitiert nun mal davon, dass dass hier lange Zeit das Zentrum osteuropäischer und jüdischer Intelligenz war. Und so eine Hofkultur wie die in Wien gab es in Deutschland auch nie. Der olle Wilhelm hat ja versucht, Wiens Glanz zu kopieren, aber das scheiterte am Geschmack. Typisch für Deutschland ist nicht die große, zentralistische Hofkultur, typisch für uns sind all die Mini-Höfe unter denen Orte wie Darmstadt oder Braunschweig das Höchste der Gefühle waren. Diese vielen kulturellen Zentren haben auch ihren Reiz, aber es dann doch etwas anderes als Paris, London oder Wien.

Spürt man den historischen Vorteil wirklich noch? Die Wiener sind doch viel direkter und uncharmanter.

Das zeichnet alle wirklichen Großstädte aus, dass die Ureinwohner jeden Fremden, die in der Überzahl sind, verachten. Die Berliner können genauso unverschämt sein wie die Wiener. Übrigens gehe ich in Wien am liebsten in die Kaffeehäuser, in denen ich unverschämt behandelt werde, zum Beispiel in den Bräunerhof. Ich empfinde die Verachtung des Obers hier als großen Trost angesichts der „Hi, ich bin Sandy, wie heißt du, was kann ich für dich tun“-Kultur.

Wir sind mitten in der Ballsaison. Sind Bälle überhaupt ein gutes Smalltalk-Pflaster?

Ich komme ja aus der Provinz. Meine Familie kommt aus Sachsen. Für mich hat der Begriff Ballsaison in Wien etwas Einschüchterndes. Aber dann sieht man in den Zeitschriften die Bilder von diesen Bällen und man stellt fest, das sind riesengroße, geschmacklose Veranstaltung, die rein potemkinsche Funktion haben und mit authentischem Glamour nichts zu tun haben.

Kann man beim Tanzen gut Smalltalken?

Tanzen ist wie Smalltalk, nur intensiver. Zündstufe zwei sozusagen. Letztlich hat wahrscheinlich jeder zwischenmenschliche Kontakt, der prickelt, etwas mit Eros zu tun.

Ihre oberste Regel für den Smalltalk ist: Einem darf nichts peinlich sein.

Stimmt. Wenn Sie schon in einen Fettnapf treten, dann sollten Sie es mit Panache tun. Fehltritte seiner Mitmenschen bemerkt man am besten gar nicht und für die eigenen entschuldigt man sich nicht, weil man damit erst die Aufmerksamkeit darauf lenken würde, „qui s’excuse s’accuse“, hieß es bei uns immer. Wie man das Trainieren kann? Man muss sich immer wieder gesellschaftlichen Desastern ausliefern, dann verlieren sie ihren Schrecken.

Und wie gewöhnt man sich das Recht haben wollen ab?

Das ist ein großes Geheimnis. Ich meine die Frage, warum es uns so schwer fällt, einzugestehen, Unrecht zu haben. Ich glaube fast, das hat etwas mit dem Tod zu tun. Als ob das Gefühl, im Unrecht zu sein ein bisschen wie Sterben sei.

Unlängst hat in der Presse ein Riedel-Glas-Erbe erzählt, dass er nicht mit Menschen reden würde, die den Unterschied zwischen Pinot Noir und Cabernet nicht kennen. Ist das in Ordnung?

Es ist vor allem ein fantastisches Statement, weil es Widerspruch auslöst. Von solchen Sätzen lebt ein guter Smalltalk.

Der Wein ist bei Ihnen kein Smalltalk-Thema.

Die gesamte Genusskultur nervt mich. Ich esse und trinke auch gerne, aber diese Vernarrtheit in das Essen und das rechte Glas zum rechten Wein finde ich parvenuhaft. Genuss macht nur Spaß, wenn man dabei nonchalante bleibt und dem ganzen nicht so eine Bedeutung beimisst.

Wo liegt die Grenze zwischen Smalltalk und Diskussion?

Smalltalk kann immer nur der Auftakt zu einem guten Gespräch sein. Mein liebstes sind gute Streitgespräche, mit einem Drink in der Hand statt mit Messer zwischen den Zähnen natürlich. Aber Diskussionen, bei denen man den Dingen auf den sogenannten Grund gehen will, finde ich meist ermüdend.

Kommt man zu Weihnachten oder sonst im Kreise der Familie mit Smalltalk weiter?

Smalltalk ist eine unterschätzte, wichtige Kulturtechnik unserer Zivilisation, eine die im Zeitalter der elektronischen Kommunikation bedroht ist – aber es gibt einen einzigen Ort, an dem Smalltalk überhaupt nicht weiterhilft. Die Familie. In der Familie kennt jeder Deinen Bullshit, da kann man niemanden blenden. Deswegen ist Familie ja so ein wunderbarer Ort, und zugleich manchmal ein Ort des Horrors.

Presse am Sonntag, 25.1.2015

Warum wir das Warten verlernt haben

Erwachsene lehren ihre Kinder gerade in der Vorweihnachtszeit Geduld. Dabei fällt ihnen selbst das Warten immer schwerer. Ein Zustand, der nicht nur dank Smartphone und Internet aus der Mode kommt.

Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier, dann steht das Christkind vor der Tür.“ Es gibt so viele Auszählreime und Sprüche für die Adventzeit, dass man ahnt, worum es bei ihrer Entstehung auch gegangen sein mag: den ganz Kleinen die Wartezeit bis zum 24. Dezember zu verkürzen. Eltern erzählen in diesen Tagen gern, warum sie den Advent abwechselnd verdammen und dann wieder schätzen. Weil die Kinder einerseits so ungeduldig und unausstehlich werden, wenn sie auf das Christkind und die Geschenke warten. Und weil die Kinder andererseits in dieser Zeit des Jahres so leicht zufriedenzustellen sind. Frühes Schlafengehen? Das sei plötzlich kaum mehr ein Problem, weil die Vorfreude auf das Öffnen des Adventkalender-Kästchens so groß ist. Und jeder Dezembertag bringt sie ein Stückchen näher zum 24.

Warten, das ist vor allem für Kinder eine schwierige Übung. Und das nicht nur im Advent – das ganze Jahr über gibt es etwas, worauf man warten kann. Auf den Geburtstag. Auf die Schule. Auf die großen Ferien. Auf die neue Playmobil-Serie. Oder darauf, dass man endlich acht, neun oder zehn Jahre alt ist. Die Eltern sind Meister darin, ihre Kleinen immer wieder zu mehr Geduld zu mahnen. Dabei sind die Erwachsenen selbst gerade dabei, das Warten zu verlernen.

Während des Zähneputzens werden E-Mails abgerufen, in der Warteschlange im Supermarkt SMS beantwortet, und an der Tankzapfsäule wird mit dem Chef telefoniert. Das alles tun wir, weil wir es tun können. Das sogenannte Multitasking wurde uns vor allem im vergangenen Jahrzehnt durch die Entwicklung der Smartphones in vieler Hinsicht erleichtert. Und führt dazu, dass wir Leerläufe im Alltag mit hektischem Hin- und Herwischen füllen, um entweder Dinge zu tun, die früher nur auf dem Schreibtisch und zu Hause erledigbar waren. Oder um eine weitere Runde „Candy Crush“ und „Quizduell“ gegen die Langeweile zu spielen.

Warten ist out

Aber auch in anderen Lebensbereichen lässt sich erkennen, dass das Warten mittlerweile out ist. Serienfans wollen nicht mehr darauf warten, dass die neueste Staffel ihrer Lieblingsserie legal und auf Deutsch synchronisiert erhältlich ist, sondern streamen die neuesten Folgen bereits kurz nach der Ausstrahlung in den USA. TV-Unternehmen wie der Bezahlsender Sky und der Online-Videodienst Netflix haben längst auf dieses Bedürfnis reagiert und bieten Serien in Europa oft nur Stunden nach der Ausstrahlung in Amerika an.

Urlaube werden immer seltener lang im Voraus gebucht, sondern kurzfristig wenige Tage oder Wochen vor dem Abflugtag. Wohl, um sich möglichst lang offenzuhalten, wohin es gehen soll, aber vielleicht auch, um die Vorfreude zu verkürzen. In der Partnerschaftsvermittlung bekommen Online-Dating-Portale, in denen man ellenlange Umfragebögen ausfüllen muss, neuerdings Konkurrenz von Schnell-Apps wie Tinder. Dort kann in Sekundenschnelle ein/e mögliche/r Partner/in gefunden werden. Und wenn er oder sie nicht mehr gefällt oder nicht schnell genug auf die letzte Nachricht antwortet, ebenso rasch wieder ein/e neue/r. US-amerikanische Kaufhausketten erfinden ausgeklügelte Systeme bei den Supermarktkassen, die den Kunden den Eindruck vermitteln, sie würden nicht mehr so lang warten müssen. Und in der Modebranche hat sich längst das Prinzip namens „Shop the Show“ durchgesetzt: Schon während die Models auf dem Laufsteg eine neue Kollektion präsentieren, sind Teile davon online bestellbar.

Die deutsche Eurodance-Band Culture Beat sang bereits vor über zwanzig Jahren in ihrem Song „Mr. Vain“ und in Abwandlung der Queen-Lyrics: „I know what I want and I want it now“. Dieses „I want it now“ hat im Englischen sogar einen Namen: Instant Gratification nennt man jenen Wunsch, Vergnügen oder Entspannung sofort und ohne Verzögerung zu genießen. Die Marktwirtschaft hat mit ihrem „more, bigger, faster“ dazu beigetragen, dass die Gesellschaft in so gut wie allen Lebenslagen nach diesem „Mehr“ und „Schneller“ verlangt.

Relax!

Dass das Warten nicht mehr so en vogue ist wie früher, ist schon seit längerer Zeit unübersehbar. Eine Allensbach-Studie aus dem Jahr 2013 ergab, dass 43 Prozent der Deutschen Warten als Stress empfinden. Die „New York Times“ empfahl bereits im Winter 2013: „Relax! You’ll Be More Productive“ und schreibt seither in regelmäßigen Abständen davon, warum es Sinn hat, öfter einmal innezuhalten und sich in Geduld zu üben. Holm Friebe schrieb zuerst in der „Süddeutschen“ und dann in seinem Buch „Die Stein-Strategie“ davon, dass die menschliche Neigung, in unübersichtlichen Situationen aktionistisch zu handeln, mitunter zu einer gehäuften Fehleranfälligkeit führt: „Man könnte den gesellschaftlichen Action Bias leicht für einen Kollateralschaden der hektischen Neuzeit halten, eine Art gesellschaftlichen Action Bias.“ Er plädiert dafür, ein bisschen mehr dem britischen Spruch „Keep calm and carry on“ zu folgen. Den hat Großbritanniens König George VI. übrigens während des Zweiten Weltkriegs auf Plakate schreiben lassen, für den Fall, dass die Deutschen die Insel tatsächlich besetzen. Da es dazu nie kam, wurden auch die Plakate nie öffentlich ausgestellt.

Für die deutsche Autorin Friederike Gräff ist es eindeutig, dass das Warten ein „unliebsamer Zustand“ geworden ist. Dabei hat diese Tugend einst einen sehr guten Ruf gehabt. In der Mythologie oder in Sagen waren oft jene Figuren, die warten konnten, Helden. Penelope wartete zwanzig Jahre auf die Rückkehr ihres Mannes, Odysseus wartete ebenso wie die Protagonisten in den Werken von Anton Tschechow oder die Figuren in Samuel Becketts Theaterstück „Warten auf Godot“.

Die Romantik des Warten

Friederike Gräff hat sich für die Recherche zu ihrem Buch über das Warten die unterschiedlichsten Aspekte dieses Zustands, der anscheinend etwas aus der Mode gerät, angesehen. Sie schreibt über die Warteschlangen des Ostblocks, in denen vor allem Frauen standen, das Trauerjahr der Witwen und wie das Warten auf lebensrettende Organe gerecht organisiert werden kann. Sie selbst gesteht zwar, keine besonders geduldige Warterin zu sein (siehe Interview rechts), kann dem Thema aber dennoch etwas Romantisches abgewinnen. Und tatsächlich hat die Kunst des langen Atems auch etwas Faszinierendes. Wir bewundern Menschen, die stoisch und gleichmütig etwa auf die große Liebe oder die Gerechtigkeit warten. Das ist der Stoff, aus dem Hollywood-Filme und dicke Romane sind. Aber im Alltag haben wir trotzdem lieber alles sofort und dalli dalli.

Autorin Gräff jedenfalls hat sich auch mit der Frage auseinandergesetzt, warum es für Kinder so wichtig ist, nicht nur im Advent Geduld zu üben. Nach Recherchegesprächen mit Psychologen und Experten kommt sie sogar zu dem Schluss, dass aus „geduldig wartenden Kindern erfolgreiche Erwachsene werden“. Das haben berühmte Studien wie das Marshmellow-Experiment an der US-Universität Stanford ergeben. Dabei wurde Kindern angeboten, entweder direkt ein Marshmellow zu bekommen oder später, wenn der Versuchsleiter nach einer Zeit von ungefähr 15 Minuten zurückkam, zwei. Es zeigte sich, dass Kinder, die warten konnten, später nicht nur selbstbewusster, sondern auch beruflich erfolgreicher und sozial kompetenter waren, mit Stress besser umgehen konnten und weniger suchtgefährdet waren.

Das Warten hat deshalb einen so schlechten Ruf, weil es uns in einen Zustand der Hilflosigkeit und Passivität versetzt, so Gräff. Wobei man das Warten auf wirklich wichtige oder sogar lebensverändernde Dinge wie ein neues Organ, ein Pflegekind oder eine Aufenthaltsgenehmigung tunlichst nicht mit den kleinen Alltagswartereien auf die neue Einbauküche, das Designersofa oder den PC, der erst hochfahren muss, verwechseln sollte.

Als letzte Warte-Bastion gilt auch in hyperdigitalen Zeiten das Wartezimmer beim Arzt. Nicht nur an so manchen Einrichtungsgegenständen ist da zu spüren, dass die Zeit stehen geblieben ist. Auch an den immer gleichen Illustrierten, die dort stapelweise gehortet werden. Die Zeit steht in diesen Räumen scheinbar still – das Warten kann einem hier niemand abnehmen. Gerade da merkt der hyperaktive Mensch, wie sehr er von modernen Kommunikationsgeräten wie dem Smartphone abhängig geworden ist. Oder haben Sie in letzter Zeit einmal versucht, einen Arztbesuch ohne ein Mobiltelefon zu überstehen? Ein aufgeladenes Mobiltelefon. [*]

BÜCHER ÜBER DAS WARTEN

[*] Frank Partnoy: „Wait. The Art and Science of Delay“ (2012, Profile Books)
[*] Holm Friebe: „Die Stein-Strategie. Von der Kunst, nicht zu handeln“ (Carl Hanser Verlag, 2013)

[*] Coen Simon: „Warten macht glücklich! Eine Philosophie der Sehnsucht“ (Theiss-Verlag, erscheint im März 2015)

Die Presse am Sonntag, 14.12. 2014

Interview:

Warten mit Zorn: »Drei Minuten können uns sehr aufbringen«

Für die deutsche Autorin Friederike Gräff hat das Warten viele Facetten: Es kann romantisch oder ausdauernd sein, aber auch krank machen. [*] VON ANNA-MARIA WALLNER

Wie kamen Sie auf die Idee, ein Buch über das „Warten“ zu schreiben?

Friederike Gräff: Mich hat die Ausdauer von Menschen fasziniert, die lange auf etwas gewartet haben – auf die Rückkehr eines wichtigen Menschen etwa oder den Erfolg eines Experiments. Was mich daran fasziniert hat, war die wilde Hoffnung, die darin liegen kann.

Warum ist das Warten-Können in der Kinder-Psychologie so wichtig?
Warten zu können bedeutet, dass man eine gewisse Selbstdisziplin besitzt und ein Bedürfnis nicht unmittelbar befriedigen muss. US-amerikanische Forschungen haben gezeigt, dass Kinder, die dazu in der Lage sind, im späteren Leben beruflich erfolgreicher und im Privaten glücklicher sind, als die, die nicht warten konnten.

Und wie lernt man das Warten später, als Erwachsener, neu oder wieder?
Ich glaube, dass man sich erst einmal bewusst machen muss, wie unverhältnismäßig der Ärger über das Warten-Müssen oft ist: Drei Minuten können uns sehr aufbringen. Von da aus kann man versuchen, diese Zeit statt mit Zorn mit etwas anderem zu füllen: in der Schlange im Supermarkt den Tag Revue passieren lassen oder beobachten, mit wem man da steht und was die anderen Leute eigentlich tun, während sie warten müssen.

Welche Erkenntnis hat Sie bei der Recherche für Ihr Buch am meisten erstaunt?
Dass Warten in der Vergangenheit für große Gruppen existenzielle Ausmaße hatte: etwa für tausende Menschen vom Land, die sich in der Sowjetunion unter Stalin vor den Lebensmittelläden anstellten – auch noch, als es wegen der Produktionseinbußen verboten wurde. Sie hatten schlicht keine Wahl.

Es ist schwierig, den schmalen Grat zwischen dem Warten-Können und dem Man-sollte-nicht-mehr-Warten zu schaffen. Das andere Extrem sind Profi-Prokrastinierer, die alles anstehen lassen oder immer auf den richtigen Zeitpunkt für etwas warten. Das ist auch gefährlich.
Sicher. Eine andere große Falle ist es, das wirkliche und schöne Leben erst in der Zukunft zu erwarten, nach dem Motto: Wenn erst der Prinz auftaucht, der herrliche Job, dann geht es los.

Warten kann aber auch existenziell bedrohlich werden und krank machen, etwa wenn es um eine Organspende oder die Zuerkennung einer Aufenthaltsgenehmigung geht.
Dieses Warten ist eben nicht selbst gewählt, sondern ein Zustand, der als große Ohnmacht erlebt wird. Warten mussten vor allem die Machtlosen – in der Vergangenheit und auch heute. Dass das Warten der Flüchtlinge auf eine Aufenthaltsgenehmigung oder eine Arbeitserlaubnis krank machen kann, ist wissenschaftlich erwiesen.

Worauf warten Sie besonders ungern?
Ich finde es mühsam, auf Antworten anderer Menschen zu warten: Man hängt in der Warteschleife und fragt sich, warum der andere nicht in die Gänge kommt und schnell einmal meine E-Mail beantwortet. [*]

STECKBRIEF

Friederike Gräff
Jahrgang 1972, Journalistin, seit 2006 Redakteurin bei der „Taz“ in Hamburg und zuständig für die Ressorts Justiz und Kultur. 2014 erschien ihr erstes Buch:

»Warten. Erkundungen eines ungeliebten Zustands«
Verlag Christoph
Links, 189 Seiten

Ein guter Tag fährt Straßenbahn

Thomas Weber, Herausgeber der Gratisqualitätsmagazine „The Gap“ und „Biorama“, hat ein gar nicht langweiliges Buch zum etwas langweiligen Thema Nachhaltigkeit verfasst.

Die Band Mondscheiner gibt es längst nicht mehr. Unter anderem, weil sich Sänger Manuel Rubey seit einigen Jahren auf die Schauspielerei konzentriert. Trotzdem hätte eines ihrer Lieder das Zeug zur Titelmelodie von Thomas Webers erstem Buch: „Dieser Tag fährt Straßenbahn“ heißt es in dem Gutelaunesong. Er passt deshalb gut zu Webers Ideenfibel, weil er darin beschreibt, was ein guter, umweltschonender Tag ist. Mit der Straßenbahn (oder generell mit öffentlichen Verkehrsmitteln) zu fahren gehört da natürlich dazu.

Der St. Pöltner Residenz-Verlag ist wohl aus mehreren Gründen mit einer Buchanfrage auf Weber zugegangen. Der langjährige Herausgeber des 1997 gegründeten Kultur- und Musikmagazins „The Gap“ ist nicht nur ein profunder Literatur- und Popkenner, sondern interessiert sich auch schon seit Langem – und nicht erst seit der Gründung des Magazins „Biorama“ 2005 – für Themen rund um Landwirtschaft, Tiernutzung und einen ressourcenschonenden Lebensstil. Obwohl er zuerst noch dachte, das Thema Nachhaltigkeit sei nun wirklich schon „totgekaut“, kam ihm dann aber doch schneller als gedacht eine spezielle Buchidee. Vor einigen Jahren hatte er über die Initiative „Ein guter Tag hat 100 Punkte“ des Vorarlberger Unternehmens Kairos und der Designagentur Integral Ruedi Baur geschrieben. Mit einem Koordinatensystem wird dabei „die abstrakte CO2-Verbrauchsmetapher, in der niemand denken kann“, so Weber, verständlich gemacht. Jeder Mensch sollte nur 6,8 kg CO2 pro Tag verbrauchen, um Welt und Klima im Gleichgewicht zu halten. Tatsächlich verbraucht der Industriestaatenbewohner derzeit im Schnitt 450 kg. Aber wer weiß schon, wie viel wir verbrauchen, wenn wir ein Huhn essen, Kaffee trinken, Lift fahren oder uns die Hände beim warmen Luftgebläse trocknen lassen? Das 100-Punkte-System soll dabei helfen, die eigene Tagesbilanz auf der Website einguterttag.org zu berechnen. Ein Huhn aus dem Billigsupermarkt (250 g) schlägt in der Tagesbilanz mit 29 Punkten zu Buche, ein Biohuhn hingegen nur mit 15. Genauso viele Punkte kostet ein Mal Wäschewaschen. Kaffee ist mit vergleichsweise geringen 0,8 Punkten (0,6 bei Biokaffee) eine ressourcenschonende Angelegenheit. Und dass man sich mit der eingangs erwähnten Straßenbahn umweltschonender fortbewegt als mit dem Auto oder Bus, weiß jedes Vorschulkind. Noch weniger Punkte, nämlich null, verbrauchen wir nur beim Radfahren und Zufußgehen.

Hat Weber also nur eine gute Idee gefunden und nacherzählt? So einfach hat er sich das nicht gemacht. Sein Buch basiert zwar auf der Eingutertag-Idee, will aber vor allem Lust auf nachhaltiges Leben machen, frei von Reformhaus-Romantik oder „rustikalem Vintage-Retro-Leben“. Weber zieht seine eigenen Schlüsse und stöberte neue und zum Teil sogar für ihn, den „Biorama“-Experten, unbekannte Initiativen auf, die den nachhaltigen Lebensstil nicht nur erleichtern, sondern auch nach einem schönen Wochenend- oder Urlaubsprogramm klingen. Weber rät etwa, jeder Mensch sollte sich einen Bauern suchen. Also einen Landwirt, bei dem man Obst, Gemüse oder Tierprodukte bezieht und mit dem man auch eine Gesprächsbasis hat.

Bei Webers insgesamt 30 Handlungsanleitungen überraschen gerade jene rund um Haltung und Nutzung von Tieren. Anders gesagt: Strenge Veganer wird Webers Buch vermutlich enttäuschen. Im Kapitel „Zelebriere den Tierfreitag“ erläutert er die Idee von Kochbuchautorin Katharina Seiser, einmal pro Woche bewusst auf tierische Lebensmittel zu verzichten. Den Rest der Woche können Fleisch und Tierprodukte aber ruhig auf dem Speiseplan stehen. Auch die Auseinandersetzung mit der Jagd empfiehlt Weber. „Würden alle acht Milliarden Menschen auf Fleisch oder überhaupt auf tierische Produkte verzichten, hätten wir ein riesiges Problem.“ Pflanzenfressende Nutztiere wie Rinder und Ziegen würden dem Menschen schließlich dabei helfen, Landschaften zu nutzen. Der Mensch kann frisches Gras oder Heu nicht verdauen.

Iss Innereien

Feinschmecker werden den Vorschlag „Iss Innereien“ gern beherzigen. All jenen, die bisher Herz, Leber oder Niere mit Naserümpfen abgelehnt haben, erklärt Weber, wie wichtig es ist, alle Teile eines Tieres zu essen. Überraschend ist auch der Ratschlag „Iss bedrohte Tiere“: „Nur die Pflanzen und Tiere, die wir nutzen, werden wir tunlichst erhalten wollen.“

Ohne erhobenen Zeigefinger oder Insiderangeberei rät Weber also zu unkonventionellen („Miete eine Waschmaschine“ oder „Werde Bauer auf Zeit“) und auch bekannten („Radle zur Arbeit“, „Repariere, anstatt wegzuwerfen“) Nachhaltigkeitsmethoden für den Alltag. Für manche mag das Endprodukt eine „Gutmenschenfibel“ sein. Thomas Weber stört das nicht. „Da ich kein Problem damit habe, als Gutmensch bezeichnet zu werden. Ich weiß nicht einmal, was das ist.“ Zudem ist er selbst nicht in allen Bereichen vorbildlich. „Ich habe ein Auto, aber ich fahre auch Rad und mit öffentlichen Verkehrsmitteln.“

Kann der zweifache Vater und viel beschäftigte Herausgeber von zwei Magazinen seinem letzten Ratschlag „Lebe intensiver, arbeite weniger“ wirklich folgen? Er versucht es zumindest. Um das Buch zu schreiben, habe er etwa „die WM ausgelassen“. Kein großer Verzicht für den wenig Fußballinteressierten. „Ein Match anzusehen kann Teil eines intensiven Lebens sein, aber manchmal heißt intensiver zu leben auch, auf etwas zu verzichten.“ Schon mehr geschmerzt hat ihn, dass er ein Jahr lang „de facto keine Belletristik“ gelesen habe. Das hole er jetzt nach.

In seinem Buch will Weber den Lesern vor allem klarmachen, dass es sich lohnt, bei Themen wie Jagd, Fleischkonsum, Energieverbrauch oder Freizeitgestaltung genauer hinzusehen und sich die Kreisläufe von Lebensmittelproduktion und Tierhaltung bewusst zu machen. Nicht alles, was sinnvoll oder umweltschonend klingt, ist gut – und umgekehrt.

Buch und Termin:

„Ein guter Tag hat 100 Punkte“ von Thomas Weber (Residenz, 224 Seiten, 18 Euro).

Buchpräsentation am 28.10., 19h, Wien 9, Hartliebs Bücher, Porzellangasse 36.

Thomas Weber, Martin Strele und Katharina Seiser (Initiatorin des „Tierfreitags“) diskutieren.

 (Credit: Clemens Fabry)

 

90 Jahre Radio: Das „Jugendzimmer“ als Tor zur Welt

Das FM4-»Jugendzimmer« gibt es nicht mehr. Erinnerung an den Sommer 1998, in dem ich dort zu Gast war.

Als der Sender FM4 1995 on air ging, eröffnete sich für mich eine neue Welt. Eine mit Musik, die ich bis dato auf Ö3 und in den CD-Verkaufsecken der karg und lieblos bestückten Libro-Filialen nicht entdeckt hatte. Aber auch eine der Satire, der Ironie und des Austauschs. Freitagabend war das Highlight der Woche mit Ster- und Grissemanns „Salon Helga“, deren Humor ich erst nach und nach verstand, und der Techno-Sendung „La Boom De Luxe“, die nach Freiheit klang. Es gab Zeiten, da wollte ich freitags lieber zu Hause bleiben und Radio hören, als mich für die Tanzschule aufzubrezeln und danach in irgendeinen Stadtrandclub zu stellen, schließlich gab es weder Podcasts noch Radio-Streams. Die besten Szenen aus „Salon Helga“ spielten Freundin Carina und ich uns am Samstag in der Schule auf Kassette vor.
Besonders gern hörte ich das „Jugendzimmer“. Elisabeth Scharang besuchte jede Woche andere Jugendliche aus unterschiedlichsten Milieus, ließ sie erzählen und spielte ihre Musik. In meinem Jugendzimmer sitzend fühlte ich mich den mehr oder weniger Gleichaltrigen verbunden.
Im Sommer 1998 nahm ich meinen Mut zusammen und lud die „Jugendzimmer“-Redaktion per Brief (!) in das Ferienlager am Wolfgangsee, in dem ich seit Jahren meinen Sommer verbrachte. Und Scharang kam, sprach mit mir und Sommerlagerfreund Michael und spielte unsere Musik. Ich war während der Sendung viel mutiger als danach, als mir bewusst wurde, wie viel Stumpfsinn ich in der Aufregung geplappert hatte.
Diese Woche hat das „Jugendzimmer“ Sendeplatz (Dienstag, 21 Uhr) und Name („FM4 auf Laut“) gewechselt. Die Sendung höre ich schon lange nicht mehr, aber durch sie bin ich zur Radiohörerin geworden. 

Regt euch ab! Plädoyer für eine neue Debattenkultur

Ob Bundeshymne, Binnen-I oder Gaza- und Ukraine-Konflikt: Debatten erreichen heute schnell ein menschenverachtendes Niveau – vor allem im Internet. Neue Kommunikationskanäle erfordern auch neue Umgangsformen.

Von Anna-Maria Wallner und Ulrike Weiser

Man kommt kaum an ihnen vorbei, an den Debatten der vergangenen Wochen, die besonders aufgeregt geführt wurden. Vor allem, aber nicht nur im Internet lösen immer öfter Themen, und immer öfter Gender- oder Auslandsthemen eine Welle der Empörung aus. Beispiele gefällig? So gut wie jede Asylwerber-Debatte, der Ukraine/Russland-Konflikt, die Diskussion um die Bundeshymne, ausgelöst durch Volkspopmusiker Andreas Gabalier. Die Binnen-I-Debatte. Der „Nie wieder Judenhass“-Titel der „Bild“-Zeitung, der massenhaft antisemitische Postings zur Folge hatte. Einer der traurigen Höhepunkte innerhalb der ohnehin schon so komplexen Debatte war eine spätnächtliche TV-Diskussion zum Israel/Gaza-Konflikt. ORF-Moderatorin Lisa Gadenstätter sah sich nach dem (nicht sehr geordneten) Livegespräch, bei dem UETD-Chef Abdurrahman Karayazili das Studio verlassen hatte, mit Morddrohungen konfrontiert.

Es sind aber nicht nur die sogenannten „Hassposter“ im Internet, die auffallen. Auch in Leserbriefen oder Kolumnen – wie der von „Krone“-Postler Michael Jeannée – häufen sich verbale Entgleisungen. Vielleicht wirkt das Genre der TV-Diskussion auch deshalb auf viele so blutleer, weil sie häufig sehr viel konsensueller ablaufen als Diskussionen im Internet. Wer sich gegenübersitzt, wird eben nicht so schnell ausfällig.

Immer schon hatte neben den Gelehrten auch „das Volk“ eine Meinung, der Unterschied ist nur: Heute hat dank der Demokratisierung des Internets wirklich jeder ein Ausdrucksmittel zur Hand. Sogar der Unwissendste kann sich zu jedem beliebigen Thema äußern. Das darf er natürlich, es gibt auch nichts gegen gewitzte und sogar beleidigende Schmähungen einzuwenden. Problematisch wird es, wenn sich in Diskussionen ein menschenverachtender, rassistischer Ton einschleicht – und das tut er im Netz so schnell, weil die emotionale Anteilnahme schwerer fällt. Ich kann mein Gegenüber anbrüllen und beleidigen und bin nicht mit seiner Reaktion konfrontiert. Neue Kommunikationskanäle fordern daher auch neue Umgangsformen für Debatten. Sozusagen eine moderne Ars Discutandi, die so aussehen könnte:

Kritik muss sein – aber mit (selbst)kritischem Blick auf das Niveau.
Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist ein unverzichtbares Menschenrecht. Niemand will das heuer 225 Jahre alte Recht, das erstmals in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in Frankreich erwähnt wurde, abschaffen. Die Diskussion, die Kritik und auch die Polemik sind wichtig. Was viele vor dem Enter-Taste-Drücken vergessen: Auch die Meinungsfreiheit hat ihre Grenzen, etwa, wenn die persönliche Ehre durch Beleidigung oder Verleumdung verletzt wird. Meinung sagen ja, niveaulos stänkern nein.

Wer diskutiert, sollte besser wissen, wovon er spricht.
Die Devise sollte lauten: Erst denken, dann sprechen – oder einen Tweet absetzen. Gerade, wer sich persönlich von einem Thema betroffen fühlt, denkt rasch, er sei automatisch allwissend und im Recht. So beginnen aber auch viele Rechtsstreitigkeiten und die können so oder so ausgehen.

Es gelten die Regeln der Logik und die Macht der Fakten.
Dieser Punkt ergibt sich aus dem vorigen. In einer echten Debatte ist eine Meinung nur etwas wert, wenn man sie einigermaßen logisch begründen und mit Fakten untermauern kann. Wer nur emotionale Ressentiments à la „Das mag ich einfach nicht“ zu bieten hat, ist eigentlich kein Dialogpartner, denn er ist gar nicht an einer Debatte interessiert. Interessant sind solche Behauptungen nur dann, wenn sie am Ende eines Argumente-Austauschs stehen. Denn wer als Erster „das ist nun einmal so“ sagt, hat offiziell verloren.

Die oberste Tugend ist Toleranz – Humor schadet aber auch nicht.
Schon Aristoteles wusste: „Toleranz ist die letzte Tugend einer untergehenden Gesellschaft.“ Und auch wenn man darüber diskutieren kann, was der Philosoph damit eigentlich gemeint hat (und zwar eher das Gegenteil), lässt sich dieser Spruch doch auf moderne Debatten anwenden. Dass andere Dinge anders machen und bewerten als man selbst, ist eine wichtige Erkenntnis und sollte nicht automatisch den Blutdruck erhöhen. Und wenn die kruden Thesen der anderen einen doch so empören, hilft es immer, die Situation mit Humor zu sehen. Auch sich selbst und das Gegenüber nicht so wichtig nehmen, kann die Wut und Aggression aus der Debatte nehmen.

Der digitale Imperativ: Poste nichts, was du deinem Gegenüber nicht auch ins Gesicht sagen würdest.
„Virtuelle Ethik ist die imaginierte Präsenz des anderen“, sagt die deutsche Philosophin Ariadne von Schirach (siehe rechts). „Sie ist die Grundlage für Respekt und Sachlichkeit trotz Anonymität und fehlender persönlicher Haftbarkeit.“ Anders formuliert: Sagen Sie nichts, was Sie in einer Wohnzimmerrunde nicht auch sagen würden.

Morddrohungen und Gewaltaufrufe haben in einer Debatte nichts verloren.
Aufrufe zu Gewalt gegen andere oder sogar zur Tötung sind eine Angelegenheit des Strafrechts. Punkt.

Debatten brauchen einen Rahmen.
Die gute Nachricht lautet: In Krisenzeiten erlebt die Philosophie ein Comeback. In Wiener Wohnzimmern und Berliner Cafés trifft man sich seit geraumer Zeit wieder, um zu diskutieren – und zwar so „richtig“. Das erfordert allerdings Rahmenbedingungen: Zeit, Vorbereitung, einen Moderator. Diese altmodischen Zutaten würden auch die Onlinedebatte in Form bringen. Denn wer Diskussion nicht nur anreißen, sondern zu Ende führen will, muss sich auch anstrengen. Für Internetplattformen – auch die von Medien wie der „Presse“ – bedeutet das, dass sie sich um Moderation kümmern müssten. Und für die Teilnehmer, dass sie den Online-Austausch ernst nehmen. Sonst werden sie nicht ernst genommen.

Vier Experten fordern ein Umdenken in der Debattenkultur: 

1) Philosophin Charlotte Werndl

„Kritikfähigkeit ist wichtig“

„Die Frage oder das Problem muss wieder im Vordergrund stehen, nicht ideologische Faktoren oder das Recht-haben-Wollen. Nehmen wir die Debatte, ob kleine Kinder durch Kinderbetreuung positiv oder negativ beeinflusst werden. Hier sollte nicht auf Basis von gewissen Ideologien argumentiert werden, sondern man sollte sich fragen: Was zeigen empirische Untersuchungen? Welche Evidenzen gibt es? Ein weiterer wichtiger Faktor ist Kritikfähigkeit. In der Wissenschaft ist es normal, kritisiert zu werden, außerhalb oft nicht. Im Netz können Diskussionsregeln helfen, dass Debatten zivilisiert und fair bleiben.“ Eine gute Debatte zeichnet sich dadurch aus, dass man von ihr etwas lernt.

Die gebürtige Salzburgerin hatte zuletzt eine Professur in Oxford inne und kehrt im September an die Uni Salzburg zurück. 

2) Philosophin Ariadne von Schirach

„Am Ende sitzt ein verletzlicher anderer“

„Das Internet erschwert die emotionale Anteilnahme. Wenn ich maile, kommentiere oder chatte, nehme ich keine direkte körperliche Reaktion des Gegenübers wahr. Der Philosoph Emmanuel Levinas schreibt über das Antlitz des anderen als Anrufung. Der Blick eines Menschen hat eine ethische Wucht. Doch diese Anwesenheit des anderen, seine emotionalen Reaktionen wie Freude oder Scham oder Schmerz, sind im Netz nicht erfahrbar.

Eine mögliche Lösung? Sich trotz Geschwindigkeit, Anonymität und Verfügbarkeit der Kommunikation wieder klarzumachen, dass am anderen Ende ein verletzlicher anderer sitzt. Virtuelle Ethik ist die imaginierte Präsenz des anderen.“

Schirach (*1978) ist eine deutsche Philosophin, Cousine von Strafverteidiger Ferdinand von Schirach. Zuletzt erschien: „Du sollst nicht funktionieren“ 

3) Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen

„Den Menschen nicht verdammen“

„Das Grundproblem ist: Die technisch-mediale Evolution und der aktuelle Stand der Herzensbildung passen nicht zusammen; wir sind wie Pubertierende, die auf der Weltbühne des Internets einfach alles Mögliche ausprobieren – und fröhlich über die Stränge schlagen. Nötig ist ein besseres Gespür für die Nuance, Proportionalität und Verhältnismäßigkeit: Ja, wir sollen und müssen uns streiten, hart in der Sache, aber weniger unerbittlich im Ton. Ja, es braucht die scharfe Attacke und die investigative Recherche, aber die kindlich-naive Suche nach dem Heiligen sollte ein Ende haben. Das erste Gebot einer anderen Debattenkultur lautet: Den Fehler kritisieren, aber nicht den Menschen verdammen.“

Pörksen (*1969), ist Medienprofessor in Tübingen. Im September erscheint „Kommunikation als Lebenskunst“.

4) „The European“-Chefredakteur Alexander Görlach

„Eine gute Debatte kreist immer um Ideen“

„Eine gute Debatte kreist immer um Ideen, nie um Menschen. Menschen müssen dafür frei von den Zwängen sein, in denen sie sonst stecken: Parlamentarier debattieren am besten außerhalb des Parlaments. Eine Gesellschaft braucht Räume, in denen Menschen ungeschützt, abseits von Rollen, die sie im Berufsalltag spielen, miteinander diskutieren können“, sagt Alexander Görlach, der Chefredakteur des Debatenmagazins „The European“. „ Empörung ist häufig gespielte Entrüstung. Wer wirklich etwas bewegen will, der vergeudet keine Zeit mit Empörung, die in nichts mündet. Empörung ist kein Selbstzweck. Wenn sie echt ist, dann sucht sie sich ein Ziel.“

Görlach (*1976) leitet das deutsche Online-Debatten-magazin „The European“, das hie und da auch gedruckt erscheint.

(„Die Presse am Sonntag“, Print-Ausgabe, 24.08.2014)