Einzelkinder: Geboren für Reihe eins

Erich Kästner und Jean Paul Sartre, Robert Musil und Elfriede Jelinek – viele berühmte Schriftsteller, Astronauten und Journalisten sind Einzelkinder. Sie erzählen uns von ihren guten und schlechten Erfahrungen.

16.02.2013 | 18:22 |  von Anna-Maria Wallner (Die Presse)

Einzelkinder sind nicht mehr oder weniger berühmt als Geschwisterkinder. Wer das behauptet, ist so ernst zu nehmen wie einer, der mit Marilyn Monroe, Marlene Dietrich und Madonna zu beweisen versucht, dass nur blonde Frauen Karriere im Showbiz machen. So wie auch braunhaarige Schauspielerinnen und schwarzhaarige Sängerinnen Erfolg haben, so werden auch Zweitgeborene oder Nesthäkchen berühmte Autoren, Regisseure oder Wissenschaftler. Trotzdem fallen Einzelkinder gerade in der Literatur häufig auf – zumindest dann, wenn sie wie Elfriede Jelinek darüber schreiben.
Eine kleine Umfrage unter Feuilletonkollegen ergab, welches das berühmteste Einzelkind unter den berühmten Einzelkindern ist: Jean-Paul Sartre. Der Existenzialist galt sein Leben lang als „typisches Einzelkind“. In seiner 1964 erschienenen autobiografischen Schrift „Les Mots“ („Wörter“) erinnert er sich an seine Kindheit: „Es genügt, dass ich eine Tür aufmache, um selbst das Gefühl zu haben, ich vollzöge eine Erscheinung.“ Doch Sartre ist nicht nur Einzelkind, er ist vaterlos und wächst mit seiner Mutter Anne-Marie bei deren Vater Charles, also seinem Opa, auf. Ein promovierter Deutschlehrer, den seine eigenen Kinder langweilten, der aber den Enkel abgöttisch liebt. Abgeschottet von der Außenwelt erlebt Sartre seine Kindheit als permanente Berufung zum Wunderkind. 

Die dominante Mutter. Eine Kindheit allein mit der Mutter oder zumindest stark geprägt durch die Mutter erlebten auffallend viele spätere berühmte Schriftsteller: Die österreichische Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek etwa litt sehr unter der strengen Hand ihrer Mutter, die sie zur Hochbegabung drillte, was Jelinek in ihrem Roman „Die Klavierspielerin“ verarbeitete. Die deutsche Frauenrechtlerin Alice Schwarzer wuchs als Einzelkind bei den Großeltern auf, ihre junge Mutter war für sie eher wie eine Schwester – doch für Schwarzer war, wie in ihrer 2011 erschienenen Autobiografie „Lebenslauf“ zu lesen ist, das Dasein als Solokind überhaupt kein Problem.
Einzelkind war auch Erich Kästner. Und Robert Musil, den das nicht hinderte, in seinem „Mann ohne Eigenschaften“ eine erotische Geschwisterliebe zwischen Ulrich und Agathe zu beschreiben. Auch der vorletzte Literaturnobelpreisträger, der Lyriker Tomas Tranströmer, ist Einzelkind, was die Theorie unterstreicht, dass Kinder ohne Geschwister häufig in schreibenden oder wissenschaftlichen Berufen landen, weil sie sich allein beschäftigen müssen und früh eine Vorliebe für Lesen und Schreiben entwickeln.

Von Elvis bis Heike Makatsch. Natürlich finden sich auch außerhalb der Literatur berühmte Solokinder: Staatsmänner wie Alexander der Große, Franklin D. Roosevelt, Jimmy Carter, Wissenschaftler wie der österreichische Physiker Erwin Schrödinger, Stars wie Elvis Presley. Die Schauspielerin Heike Makatsch schrieb in einem Essay für das Magazin „Neon“: „Alles, was ich während meines Heranwachsens getan habe, geschah unter genauer Observation meiner Eltern. Meinen Exklusivstatus hätte ich gerne für einen unprätentiösen Platz in einem größeren Familienverbund aufgegeben.“ Eine andere öffentliche Person, die Chefin der Bayreuther Festspiele Katharina Wagner, wiederum hat ihre Kindheit offenbar genossen: „Ich wurde als Kind ganz normal behandelt, war aber als Einzelkind viel unter Erwachsenen, das fand ich nicht befremdlich. Eher fand ich es eigenartig, unter Kindern zu sein.“

Einzelkinder im Weltall. Eine wirklich amüsante Häufung von Einzelkindern gab es in den 1960er-Jahren in der Nasa. Gleich alle drei Besatzungsmitglieder der Apollo 8 waren Solokinder, was die „New York Times“ 1968 zu folgender Überschrift veranlasste: „Each Astronaut is an Only Child.“ Und tatsächlich waren 21 von 23 Apollo-Astronauten Einzelkinder. William Anders, eines der Apollo-8-Mitglieder, sagte damals: „Ich glaube, ich wäre nicht da, wo ich heute stehe, wenn ich kein Einzelkind wäre.“ Die „New York Times“ resümierte damals: Einzelkinder wollen besonders hoch hinaus – und die meisten von ihnen würden das auch schaffen.

Geschwisterhass. Übrigens auch Geschwisterkinder lassen uns an ihren Erfahrungen mit ihren Brüdern und Schwestern teilhaben. Wie „Die Zeit“ 2011 erinnerte, beschrieb Regisseur Ingmar Bergman, zweites von drei Kindern, die Geburt seiner jüngeren Schwester so: „Eine fette, missgestaltete Person spielt plötzlich die Hauptrolle. Ich werde aus dem Bette meiner Mutter vertrieben, mein Vater strahlt angesichts des brüllenden Bündels“.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 17.02.2013)

Phänomedial: Warum wir jetzt bloggen!

phaenomedialdritterversuchEigentlich sind wir viel zu spät. Die Zeit der Blogs ist vorbei, behaupten deutsche Medienexperten. Aber vielleicht reizt uns gerade das.

Eigentlich sind wir viel zu spät. Die Zeit der Blogs ist vorbei. Das behaupten zumindest einige deutsche Medienexperten und Medien, die ein solches Krisengerede gerne aufnehmen und weitertragen. Aber vielleicht reizt uns gerade das: Wir fangen an, wenn alle anderen schon wieder aufhören. Wir legen los, wenn allen anderen der Atem ausgegangen ist.

Wer wir sind? Heide Rampetzreiter, Maciej Palucki und Anna-Maria Wallner. Drei Redakteure von „Die Presse“ und DiePresse.com, die Online wie auch Print für die Bereiche Medien und Kultur verantwortlich sind. Die den größten Teil des Tages vor ihren Bildschirmen sitzen und dort Webmedien und soziale Netzwerke beobachten, den Datenstrom filtern, der via Nachrichtenagenturen und Onlinemedien hereinkommt. Wenn unsere Augen danach  nicht völlig müde vom Bildschirmstarren sind, geht es zu Hause weiter: Livediskussionen und Filme schauen, nebenbei twittern, die neuesten Spielfilme oder Dokumentationen auf Presse-DVDs sichten, Blogs und Bücher lesen oder die neuesten Folgen der aktuellen Lieblings-Serie (am besten im Original) konsumieren.

Wenn im hektischen Alltag noch Zeit bleibt, wollen wir in Zukunft hier unsere Beobachtungen aus dem Mediendschungel aufschreiben. Kleine Notizen aus der Branche, Kritiken über neue Printprodukte, Blogs, Sachbücher oder TV-Sendungen, Phänomene aus der Medienbranche.

Die Debatte über die Blogs in der Krise, die Anfang des Jahres von dem deutschen Journalisten und Autor Eric Kubitz ins Rollen gebracht worden war, war dann übrigens ebenso schnell wieder zu Ende wie sie begonnen hatte. Natürlich gab es einige empörte Blogger, die wortreich dagegen protestierten, das Blogwesen sei in der Krise, weil Google weniger oft auf Blogs verweise und Twitter oder Google+ viele User animieren würden, direkt Informationen und Kommentare zu verbreiten. Was wir aus der Netz-Debatte gelernt haben? Solche selbstreferenziellen Diskussionen gehören in einem nicht gerade uneitlen Gewerbe dazu. Seit dem ersten großen Blog-Hype 2003 sind viele digitale Chronisten mit ihren Plattformen eingegangen, viele neue dazugekommen, aber vor allem: die meisten noch immer putzmunter und lebendig. Nicht selten werden berühmte Journalisten wie Theodor Herzl (wie von „ZiB“-Anchor Armin Wolf in der gleichnamigen Vorlesung im Frühjahr 2012 erwähnt) oder Karl Kraus als Paradebeispiele für unabhängige, unkonventionelle Schreiber herangezogen, die, würden sie heute leben, vermutlich Blogger wären.

Lange Rede, kurzer Sinn: „Blog is Pop“, wie Blogger Thomas Gigold von Medienrauschen zur Blogdebatte im Jänner meinte. Wir haben was zu sagen und deswegen legen wir jetzt los.

Liebeskomödie: Burn-out? Haben jetzt alle!

Rezension. René Freund erzählt in „Liebe unter Fischen“ von einem erschöpften Dichter, der auf einer Berghütte allzu leicht wieder zu Lebens-, Liebes- und Schreibfreude findet.

Das Herz rast, und keiner weiß warum. Die Ärztin empfiehlt dem sensiblen Dichter drei Dinge: Psychotherapie, Meditation – und Ruhe. „Gehen Sie in die Stille. In eine Berghütte zum Beispiel“. Selten kam ein Burn-out-Syndrom so beiläufig und fast schon empörend harmlos daher wie in dem neuen Roman des Österreichers René Freund. 

Seine Hauptfigur, der Dichter Fred Firneis, steckt in einer Schaffenskrise. Er bunkert sich in seiner Berliner Wohnung ein, in der Spüle wachsen Pilze, im Wohnzimmer stapeln sich Pizzakartons, deren Inhalt er wahlweise mit Jack Daniels, Smirnoff oder Bordeaux hinunterspült. Es lebe das Burn-out-Klischee! Doch René Freund hält sich nicht lange mit Depression und Verzweiflung auf. Er lässt seinen Dichter kollabieren, und weil die Ärztin ihm ohnehin Stille rät und seine Verlegerin Susanne – oh Zufall! – eine kleine Hütte in den österreichischen Bergen geerbt hat, folgt er dem Rat. Die schwer verschuldete Verlegerin träumt derweil schon vom Nachschub in Versmaßen, der sich wie der letzte Lyrikband wieder 150.000-mal verkaufen lässt.

Des Dichters Burn-out wird später nur mehr an einer Stelle erwähnt (auf den Klappentext hat es der Begriff als werbewirksames Reizwort natürlich dennoch geschafft.) Dann nämlich, als der gar nicht mehr so erschöpfte Dichter dem Förster August erklärt, warum es ihn in die Berge verschlagen hat: „Ich hatte ein Burn-out.“ „Ein was?“ „Burn-out. Ausgebrannt.“ „Ach so, das“, sagt August. „Haben jetzt alle“, erwidert der Dichter. Damit ist alles gesagt.

Putzfimmel in der Berghütte

An einer wirklich schweren Erschöpfungsdepression kann der Dichter Fred gar nicht gelitten haben, so schnell wie der in der Bergluft wieder zu Kräften kommt. Zuerst überkommt ihn in der verstaubten Hütte seiner Verlegerin ein unerklärlicher Putzfimmel, der nicht nur das alte Holzhaus, sondern auch seine Seele im Nu wieder zum Glänzen bringt. Von Speck, Bauernbrot und den „Elbtaler Gewürzkräutern“, die er mit August raucht, erquickt, beginnt er seiner Verlegerin Briefe zu schreiben. Sein Handy hat er nämlich längst im nahen Elbsee versenkt.

Auf Glattauers Spuren

Der zweite Hinweis auf dem Klappentext, auf Daniel Glattauers E-Mail-Liebesroman „Gut gegen Nordwind“, verrät, was sich der Verlag von diesem Buch wünscht: einen ähnlichen Erfolg. Zufall oder nicht, dass Autor René Freund darin die Verlagswelt aufs Korn nimmt. Um ihren Dichter wieder zum Schreiben zu bewegen, nimmt die Verlegerin Susanne alles in Kauf.

In dem Bergidyll taucht plötzlich die geheimnisvolle Mara auf. Mit seltsamem Akzent (slowakisch?) und Doppel-s-Fehler stellt sie sich als „Gewäzzerwizzenschaftlerin“ vor, die das Fortpflanzungsverhalten der Elbsee-Fische Phoxinus phoxinus erforscht. Da wird über das Sexleben dieser Elbtaler Minipiranhas philosophiert – und schwupp, ist die Kreativität des Dichters zurück.

„Liebe unter Fischen“, das verrät der kurz angerissene Plot, ist eine simpel gestrickte, aber liebenswürdige Liebeskomödie. Dazu kommen ein Hauch sanfte Gegenwartskritik (die Smartphones, die mit ihren Menschen durch die Straßen laufen!), etwas Landlustidealisierung und eine Handvoll angedeuteter Identitätskrisen. Statt E-Mails werden hier altmodisch Briefe geschrieben, was nur deshalb nicht romantisch ist, weil sie an die Verlegerin, nicht die Herzensdamen adressiert sind. Aber erraten: Die Liebe setzt sich am Ende auch ohne elektronische Herzschmerzkorrespondenz durch. Der Titel im Frühjahrsprogramm wohl auch.

Neu erschienen

René Freund

„Liebe unter Fischen“, Deuticke, 206 Seiten, 18,40 Euro

 („Die Presse am Sonntag“, Print-Ausgabe, 10.02.2013)

Renaissance des Teilens: Nutzen als neues Besitzen

Das durch Wirtschaftskrise und Digitaltechnologien wieder populäre Sharing von Waren hat nichts mit der christlichen Tugend des Teilens zu tun. Es ist bloß die bequeme Alternative zum Privateigentum.

Von Anna-Maria Wallner und Köksal Baltaci

Es ist eine der ersten Tugenden, die Kindern im Kindergartenalter beigebracht wird: das Teilen. Wer ein guter Mensch ist, teilt seine Jause, die Schokotorte zum Geburtstag und die Lego-Sammlung mit Geschwistern oder Freunden. Sagen der Papa und die Kindergartentante. Doch Kinder wollen nicht immer gut sein, es braucht daher viel Überzeugungsarbeit und Geduld, bis das Hergeben selbstverständlich wird.

Doch aus Kindern werden irgendwann Erwachsene und das Teilen, auf Englisch „Sharing“ genannt, macht für viele von ihnen plötzlich richtig Sinn oder sogar Spaß. Allerdings: Mit der christlichen Tugend des Teilens ohne Gegenleistung, die Kindern gern mit der Legende vom heiligen Martin, der seinen Mantel mit dem Bettler teilt, beigebracht wird, hat das nicht mehr viel zu tun. Aus dem Grundsatz „Ich teile etwas mit dir“ wird „Wir teilen uns etwas, was uns nicht gehört.“ Es geht nicht mehr um das brüderliche Teilen, sondern um den gemeinschaftlichen Konsum einer Sache.

Schuld an der neuen Lust am Teilen sind vielleicht die Fahrräder. Vor gut zehn Jahren waren sie plötzlich in fast allen Großstädten zu finden: mehr oder weniger klapprige Zweiräder, die man gegen eine geringe Gebühr für kurze Strecken ausborgen konnte. Dann kamen die Autos dazu – und nun wird geteilt, was geht: die eigene Herberge (via Couchsurfing), das Büro (Co-Working-Spaces), die Musik (Streaming-Dienste wie Spotify) oder das selbst gekochte Essen (Guerilla Bakery, Private Dining). Freilich (fast) immer gegen Bezahlung. (So fließt etwa beim Couchsurfing kein Geld zwischen Gastgeber und Gast, dennoch entsteht ein Vertragsverhältnis, das auf gegenseitigem Vertrauen beruht.) Das „Time Magazine“ bezeichnet die sogenannte „Collaborative Consumption“ als eine von zehn Ideen, die die Welt verändern werden – als effektive Maßnahme, um Ressourcen und Umwelt zu schonen.

Rentrepreneur statt Entrepreneur

Wie so oft sind es die Amerikaner, die dem Rest der Welt bei der „Sharing Economy“ um eine Nasenlänge voraus sind. Viele Teil-Modelle haben ihren Ursprung in den USA. So bietet etwa das in San Francisco angesiedelte Unternehmen Airbnb auf seiner Webseite Privatunterkünfte zum Mieten und Vermieten an. Unternehmen wie Zipcar haben sogar im mehr als auto-freundlichen Staat Amerika die Liebe zum Carsharing entflammt.

Begeistert von der beginnenden „New Economy of Reuse“ stürzte sich der Autor Rob Baedeker 2011 in einen Selbstversuch. In einem Essay im Magazin „Newsweek“ schilderte der selbsternannte „Rentrepreneur“ sein Experiment: Er vermietete seinen Wohnwagen um 45 US-Dollar die Nacht, seine Gitarre um 25 Dollar für ein halbes Monat und sogar seine Hündin Clementine um drei Dollar pro Stunde. In zwei Wochen erwirtschaftete er auf diese Weise 654 Dollar. Was zeigt, worum es bei der „Collaborative Consumption“ vor allem geht: ums Geldverdienen.

Das wird gern übersehen, wenn es um die Ursprünge der jüngeren Kultur des „Re-using“ geht. Manche Experten glauben, dass die 2011 entstandene Occupy-Bewegung in den Vereinigten Staaten dem Teilen zur neuen Blüte verhalf. Eine Gruppe von Kapitalismus- und Establishment-kritischen Menschen knüpfe hier an die Ideen von Kommunarden und Hippies der späten Sechzigerjahre an.

Tatsächlich ist die Idee der gemeinschaftlichen Nutzung einer Sache alles andere als neu. Wohngemeinschaften, Bibliotheken, Mehrwegflaschen, landwirtschaftliche Genossenschaften – alle diese Modelle beruhen auf der Vorstellung, Ressourcen gemeinsam zu nutzen, um Kosten zu sparen und die Umwelt zu schützen. Eine breite Kultur von „Nutzen statt Besitzen“ (Motto der Ökologiebewegung in den 1970er-Jahren) wurde aber durch die Umständlichkeit des Leihens und Tauschens erschwert. Deshalb setzten sich lange Zeit nur solche Modelle durch, die an örtlich fixe Einrichtungen gebunden waren: Videotheken, Skiverleih und Waschsalons. Durch das Internet und soziale Netzwerke als Vermittlungsinstanz sowie die Smartphones, die unsere Mobilität erhöhen, haben sich die Rahmenbedingungen nun vereinfacht. 
Benutzen statt Besitzen. Dabei hat die heutige Idee des gemeinsamen Nutzens einer Sache nicht mehr viel mit den Modellen der Ökologiebewegung oder des Marxismus (alle besitzen etwas zu gleichen Teilen) zu tun. Vielmehr bilden die Sharing-Plattformen ein neues Geschäftsmodell, das genauso nach den Regeln des Kapitalismus funktioniert. Der Unterschied: Der Kunde zahlt nicht mehr für das Besitzen einer Sache, sondern für das Benützen. Bei Musik, Filmen oder E-Books bekommt der Kunde nicht einmal mehr das Nutzungsrecht an einer physischen Sache, sondern nur das Zugriffsrecht auf eine Zahlenkombination. Für den Philosophen Konrad Paul Liessmann ist es amüsant, „dass diese neuen Modelle des entwickelten Kapitalismus ideologisch betrachtet aus dem Arsenal der Kapitalismuskritik stammen“. Das heißt, einstige marxistische oder sozialistische Denkmodelle wurden vom Kapitalismus übernommen und für eine kommerzielle Nutzung adaptiert.

Nicht nur erfindungsreiche Start-up-Unternehmen, die sinnvolle bis skurrile Ideen für den gestressten Großstädter erdenken, verhelfen den Sharing-Modellen zu so viel Erfolg. Auch die Wirtschaftskrise und die zunehmende Mobiliät der Menschen tragen dazu bei. Was nützt mir ein Auto in der einen Stadt, wenn ich die Hälfte des Jahres in einer anderen lebe? Wozu soll ich eine Plattensammlung im Wohnzimmer anlegen, wenn ich meine Musik vor allem unterwegs, auf Reisen oder auf dem Laufband im Fitnesscenter hören will?

Daher warnt Konrad Paul Liessmann davor, Menschen, die Gegenstände lieber nutzen und nicht besitzen wollen, automatisch als „bessere Menschen“ zu bezeichnen.

Verwöhnt und gelangweilt. Was die teilwilligen Großstädter eher sind: verwöhnt. Die Generation der Zwanzig- bis Vierzigjährigen ist in materiellem Überfluss aufgewachsen. An Spielzeug, tollen Urlauben und Sportgeräten hat es nie gefehlt. Statussymbole ihrer Elterngeneration – der teure Mercedes S-Klasse, die edle Platten- oder Whiskeysammlung – sind nicht mehr erstrebenswert, weil die ohnehin immer greifbar waren. „Statussymbole verschieben sich auch aufgrund beschleunigter Zyklen der digitalen Gesellschaft“, sagt Zukunftsforscher Andreas Reiter. „Junge Leute wollen zwar das neueste iPhone, aber kein Auto besitzen. Auch, weil sie wissen, dass ein Auto im Durchschnitt nur eine halbe Stunde am Tag genutzt wird.“

Der Konsum wird also nicht verweigert, er verändert sich nur. Bekannte Spielarten des Kapitalismus sind langweilig, neue Nutzungsformen versprechen Abwechslung und Spaß. Der neue Status ist der Zugang, nicht das Eigentum.

Ein weiteres Motiv für die Freude am Teilen: Die Generation der Digital Natives kennt das Teilen aus dem Internet. Wer YouTube-Videos und die Fotos vom letzten Urlaub mit anderen teilt, der teilt klarerweise auch Platten und Filme oder sein eigenes Sofa. 1000 Likes auf Facebook sind da plötzlich erstrebenswerter als das Moped, mit dem man vor der Schule vorfährt.

Besser mehr als wenig

„Wenn ich Urlaub in London mache, kann ich wie ein gewöhnlicher Tourist in ein Hotel einchecken, oder ich übernachte bei einem Einheimischen, der mir lokale Informationen zugänglich und mich sozusagen zum Insider macht“, sagt Andreas Reiter. Eine Motivation, die elitär und egalitär zugleich sei: elitär, weil der Zugang ein gewisses Wissen voraussetzt. Egalitär, weil durch die moderne Technologie Transparenz garantiert werden. Im besten Fall führt die Reise zu einem Erlebnis, das man wieder mit den Freunden auf Facebook teilen kann. Die Qualität von Waren oder Leistung – sei es der Klang der Musik, die Sauberkeit des Sofas beim Citytrip in Helsinki – tritt dabei in den Hintergrund. Besser billiger reisen, aber mit Erfahrungen, die mir keiner wegnimmt. Besser das neueste Modell des Snowboards fahren als das eigene, das schon bald wieder veraltet ist. Müsste man ein Mantra der Generation Sharing formulieren, es könnte lauten: Lieber mehr als wenig und am besten sofort!

Sorglos nutzen

Wer in Wohlstand aufwächst, wird auch bequem. Das wissen die Erfinder von Sharing-Plattformen. Der vielleicht wichtigste Vorteil einer Sache, die ich nur nutze, nicht besitze: Ich muss mich nicht darum kümmern. Reifen wechseln, Vignette kaufen, Versicherung zahlen, Garage mieten, Garten gießen oder Platten abstauben – all das macht jemand anders. Die Carsharing-Plattform Car2go belohnt ihre Kunden sogar, wenn sie bereit sind, ein bisschen etwas von ihrer Bequemlichkeit abzugeben: Wer das ausgeborgte Auto wieder volltankt, bekommt 15 Fahrminuten geschenkt. Noch ein Vorteil: Was ich nicht besitze, kann mir keiner wegnehmen.

Philosophen haben bestimmt eine Freude mit dieser neuen Spielart des Konsums. Fragen nach dem Haben und dem Sein waren immer schon große Themen der Philosophie. Arthur Schopenhauer etwa schrieb in seinen „Aphorismen zur Lebensweisheit“, dass unser Lebensglück nur durch das entsteht, was wir sind, nicht durch das, was wir haben. Jüngst erschienen einige Bücher zum Thema: „Wir sind, was wir haben“ (Annette Schäfer, DVA), „Über das Haben“ (Harald Weinreich, C.H. Beck).

Noch kein Massenphänomen

Ein Wertewandel hat zwar im Kleinen begonnen, doch noch ist klar: Österreich hat in der Ökonomie des Teilens noch großen Aufholbedarf gegenüber Städten wie Berlin und London. Vor allem beim Crowdsourcing und Crowdfunding, meint Zukunftsforscher Andreas Reiter. Beim Crowdsourcing wird die Intelligenz der Masse genutzt. Große Firmen gründen Innovationsplattformen, auf denen die Bevölkerung (gegen Prämien) Ideen einbringen kann. Beim Crowdfunding können Projekte oder Start-ups Sponsoren suchen.

Freilich werden selbst in Berlin und London all diese Dienste derzeit nicht von der Masse, sondern von einer kleinen, gut gebildeten Konsumelite in Anspruch genommen. Und auch in Österreich nutzen erst 45.000 Menschen Car-sharing. „Von einer allgemeinen Entwicklung können wir nicht sprechen“, sagt Philosoph Liessmann. „Noch nicht“, meint Forscher Reiter. Er ist sich sicher, dass die Freunde des Teilens rasch immer mehr werden.

(„Die Presse am Sonntag“, Print-Ausgabe, Ressort Leben, 10.02.2013)