(Sehn-)Sucht nach Ordnung: Die Liste ist überall

Sie war eigentlich nie weg, gerade erlebt sie aber eine kleine Renaissance im Netz: die Liste. Onlineportale wie Buzzfeed generieren mit ihr besonders viele Klicks und auch gedruckt ist sie immer noch begehrt. Es scheint, der Mensch sehnt sich in unübersichtlichen Zeiten noch mehr nach der Ordnung durch Reihung.

Diese Geschichte beginnt mit einem kleinen Test: Welche Assoziationen haben Sie zum Stichwort „Liste“? Eine nicht repräsentative Blitzumfrage in der „Presse“-Redaktion ergab erstaunlich viele Übereinstimmungen und ein paar Dinge, die wirklich jedem einfielen. Die häufigsten Nennungen in fünf Punkten, somit die Liste der Liste:

  1. Die Mutter aller Listen, das sind die Zehn Gebote.
  2. Die musikalische, das ist der Roman „High Fidelity“ von Nick Hornby.
  3. Die unterschätzte, die Einkaufsliste.
  4. Die feuilletonistische, das ist der Kanon der Literatur.
  5. Die ordentlichen, das sind ganz viele, nämlich Rankings, Hitparaden, Bestsellerlisten…

Kurz gesagt: Die Liste begegnet uns überall. Warum der Mensch immerzu nach Ordnung durch Reihung strebt, ist an sich schnell erklärt: „Es ist der alte Traum von der Übersichtlichkeit des Lebens, der in einer unübersichtlichen Zeit noch größer wird, aber unerfüllbar bleibt“, sagt der deutsche Philosoph Wilhelm Schmid. Eine Spur existenzialistischer sieht das sein italienischer Kollege Autor Umberto Eco. In seiner 2009 erschienenen subjektiven Kulturgeschichte der Liste und des Katalogs schreibt er: „Wir mögen Listen, weil wir nicht gern sterben wollen.“ Und für den Zeichner und Autor Tex Rubinowitz sind Listen gar „Seufzer des Glücks“.

Doch zu allererst wollen wir: Ordnung in das Chaos bringen. Kein Wunder, dass die Liste da, wo es besonders unübersichtlich ist, gerade eine kleine Renaissance erlebt: im Internet. Auf Onlineportalen wie Buzzfeed, Huffington Post, The Upworthiest oder Thought Catalog taucht sie in einer neuen Spielart auf. Als nicht immer ernst gemeinter Lebensratgeber oder Erklärjournalismus in Häppchen, oft garniert mit lustigen Fotos. „Buzzfeedsplaining“ nennt man scherzhaft das, was diese Portale tun, nämlich die Welt auf ihre Art, meinungsgetrieben und meist ohne Faktenprüfung, zu erklären.

Bloß nicht kompakt

Egal ob „24 Simple Tricks to Reduce Your Anxiety“ oder „19 Things You Should Thank Your Dad For“ – die Buzzfeed-Mitarbeiter und -Kolumnisten lassen kaum einen Lebensbereich aus; jedes noch so unlösbare Problem (zu dick, zu dünn, zu introvertiert, zu einsam, zu gestresst), jede Lebenssituation (Single, verheiratet, frisch geschieden, arbeitslos und immer wieder: Katzenbesitzer) wird gelistet.

Dabei achten die Listenersteller darauf, dass es niemals kompakte fünf, zehn oder zwanzig Lösungswege für ein Problem gibt, sondern eben 19, 24 oder gar 41. Diese Ungenauigkeit sei die Spezialität ihrer Reihungen, wie der britische Buzzfeed-Chef Luke Lewis dieser Tage am Queen’s College in Oxford erklärte. Und ihr simples Rezept dahinter hat schon bei Horoskopen funktioniert: Je länger die Liste, desto höher die Chance, dass sich ein Leser darin wiedererkennt, das Gelesene freudig auf Facebook oder Twitter teilt und dazu postet: „Nummer drei – das bin so ich!“

Bis zu 130 Millionen Menschen pro Monat lesen, liken und lieben Buzzfeed mittlerweile. Ein Trend, der Medienexperten die Stirn runzeln lässt. Weil Google und andere Suchmaschinen Listentexte mit ihren Suchalgorithmen bevorzugen und der Erfolg von Huffington Post und Co. neidisch macht, wird nun überall gelistet, online ebenso wie in Printmedien. Längst hat das Listenbasteln im Netz einen eigenen Namen, nämlich „Listicles“. Ihren Aufstieg im Netz hat die Liste nicht zuletzt Kurznachrichtendiensten wie Twitter zu verdanken, weil sich dort Geschichten mit einprägsamen und schrägen Titeln wie „The 22 Awful Stages of Going to a Conference“ rasch verbreiten. Seit einiger Zeit spiegelt sich der virtuelle Erfolg der Liste in der analogen Welt wider, nämlich ausgerechnet da, wo sie schon fast für tot, weil inflationär, bieder und langweilig erklärt wurde: im Buchhandel.

Neue Welle der Listomanie

Listenbücher sind das Running Sushi der Verlagsbranche: schnell gefertigt, in Massen verkauft und leicht verdaulich. Mit telefonbuchdicken Werken wie „1000 Places to see before you die“ fing diese Listomanie vor zehn Jahren an, oder eigentlich muss es heißen: erlebte ihr x-tes Revival. Eines der bekanntesten seiner Art ist das „Book of List“ der Geschwister David Wallechinsky und Amy Wallace aus dem Jahr 1974. Und die eingangs erwähnten Zehn Gebote erinnern uns daran, dass schon die Bibel zur Ordnung als Stilmittel griff. Auch mit dem Literaturkanon versuchte man ab dem 17. Jahrhundert, die nach der Einführung des Buchdrucks immer größer werdende Menge an literarischen Werken einzuordnen und zu bewerten. Was ist gut? Was ist schlecht? Was soll in den Kanon, in die Liste, was nicht? Auch die Bewertung, die Erhabenheit über andere sind essentielle Funktionen von Listen.

Das gilt auch für Musik. Mit dem Aufkommen des Pop Ende der 1950er, Anfang der 1960er-Jahre und der Aufweichung klassischer Musikstile war die In-and-out-Liste geboren. Plötzlich gab es nicht mehr nur eine Musikrichtung, die richtig und gut war, einen Kleidungsstil, eine Frisur. Erlaubt war, was gefiel. Und was heute gut oder schick war, konnte morgen bereits „out“ sein. Künstler wie Andy Warhol erstellten völlig subjektive Listen, etwa von Lieblingsorten, die nicht Ordnung, sondern Kunst schaffen wollten. 
Klammer für die Popkultur. Von der Popkultur ließ sich auch Thomas Weber, der Herausgeber des Kultur- und Szenemagazins „The Gap“, bei seinen „Gastcharts“ inspirieren. Seit 2001 lädt er in jeder Ausgabe Vertreter aus der heimischen Musik- und Medienwelt ein, Dinge, Menschen oder Beobachtungen zu reihen. Daraus entstehen dann die „Top 5“ der skurrilsten Spam-Betreffs oder die „Top 10“ der abgedroschensten Wien-Klischees. „Das ist formal eine spannende Klammer, um Popkultur in Form zu bringen“, so Weber. Also wieder: Klammer, Ordnung, Übersicht als Primärfunktion der Liste, in diesem Fall kommt aber auch der Spaß, die Ironie als Unterhaltungselement dazu.

Wo die Ordnung aufhört und das Kunststück beginnt, wird die Liste für Tex Rubinowitz (siehe Interview) erst interessant. In seinen Büchern stellt er willkürlich Dinge zusammen, auch Fiktives, seine Listen sind mehr Gedicht oder Spielerei als schnöde Aufzählung, wie schon die Titel verraten: „Die 6 drängendsten Fragen eines Sitzenden“, „9 Erfindungen, die es nicht leicht haben auf dem Patentamt“ oder „Die 4 Schwestern der Fliege in der Suppe“.

Mit Kultur haben die aktuellen Frühjahrsvorschauen mancher Verlage kaum mehr etwas zu tun. Sie erinnern eher an Junkfood, sie sind gewissermaßen Fast-Read-Produkte. Der deutsche Großverlag Schwarzkopf & Schwarzkopf hat für sich die Zahl 111 entdeckt. Dutzende dieser Bücher mit Titeln wie „111 Gründe, Katzen zu lieben“ hat er bereits im Programm, nun kommen zehn weitere dazu.

Inflationäres Sammelsurium

Dabei begann die letzte Welle der Listenhypes in Buchform noch recht charmant. Der Brite Ben Schott listete 2005 in seinem „Sammelsurium“ kuriose, aber wahre Dinge auf, etwa „Elf Nahrungsmittel mit wenig Kalorien“ oder „Zehn Worte, die Shakespeare am häufigsten benutzte“. Das gefiel vor allem den ordnungsliebenden Deutschen so gut, dass sich der Journalist in seinem jüngsten Buch „Schottenfreude“ deutschen Begriffen widmet, die auch im Englischen benutzt werden. Der Listen ist er langsam überdrüssig. Kein Wunder, jedes Jahr kommt ein neues „Sammelsurium“ heraus, daneben eigene Ausgaben über Essen und Trinken, Sport und Spiel. Die „Sammelsurium“-Bände sind wie die Notizbücher von Moleskine: ein Nice-to-have, das zu Hause meist nur ungenutzt herumliegt. Etwas humoristischer und anekdotischer legte Schotts österreichischer Kollege Christian Ankowitsch sein (ebenfalls 2005 erschienenes) „Kleines Universalhandbuch“ und die Nachfolgebände an, die ebenso erfolgreich waren wie Schotts Bücher. Seine Ratschläge (etwa für die korrekte Tischordnung) haben rückblickend betrachtet Ähnlichkeit mit den Buzzfeed’schen Lebenstipps.

Umberto Eco hat also recht, wenn er sagt: Die Liste ist und bleibt ein Dauerbrenner. Wie wichtig sie heute ist, hat am Spätabend des vorigen Jahrhunderts die BBC vorausgesehen: Die „Listomanie“ erklärte sie schon 1999 zur „Sucht des neuen Jahrtausends“.

(„Die Presse am Sonntag“, Print-Ausgabe, 16.02.2014)

 

Summary in English

In this collection of articles from the “Presse’s” newspaper Sunday edition „Presse am Sonntag“, the focus is on the return of the humble list in all its variations.

From novels like Nick Hornby’s „High Fidelity“ and Ben Schott’s „Miscellany“ as well as rankings from every walk of life to music charts and even the Ten Commandments – lists are everywhere.
Anna-Maria Wallner’s feature “Desire for order: the ubiquitous list” analyzes the current rise in lists on websites like “Buzzfeed”, “The Upworthiest” and “Thought Catalog” and presents a brief summary of the list’s cultural history, quoting philosophers and authors like “The Name of the Rose” creator Umberto Eco as well as British Buzzfeed-CEO Luke Lewis.
In an increasingly complex world, today’s yearning for lists signifies a desire for clarity and a semblance of control, as described by German philosopher Wilhelm Schmid. Additionally, it is a comforting way to simplify life around us. Buzzfeed’s concept are odd-numbered lists like „19 Things You Should Thank Your Dad For“, trying to feature elements that immediately attract as broad a readership as possible.

Also featured in the text selection is an interview by Anna-Maria Wallner with the Austrian comedian, author, caricaturist and list-aficionado Tex Rubinowitz and journalist Isabella Wallnöfer’s portrait of Buzzfeed founder Jonah Peretti.

Ein Ring, zwei Monatsgehälter

Rezension. Um jene Werberin, die 1947 den Slogan »A diamond is forever« erfand, dreht sich J. Courtney Sullivans neuer Roman. Eine Geschichte der Verlobung, etwas zu langatmig erzählt.

Endlich steht Frances Gerety auf einer großen Bühne und darf sagen, was sie sich denkt. Die Werbeagentur Ayer, für die sie mehr als 30 Jahre gearbeitet hat, und der Diamantenproduzent De Beers feiern ein halbes Jahrhundert Zusammenarbeit – und weil Frances maßgeblich für den Erfolg dieser Geschäftsbeziehung verantwortlich war, erhält sie eine späte Anerkennung.

Diese Frances Gerety gab es wirklich. Sie war eine der wenigen Frauen, die sich früh in der männlich dominierten Welt der Werbung behauptete, und wäre das nicht in Philadelphia gewesen, man könnte von der Welt der „mad men“ in New York sprechen. Der berühmte Slogan „A diamond is forever“ stammt von ihr und fiel ihr 1947 in der Nachkriegszeit ein, in der die Nachfrage für Diamantringe verschwindend gering war. Junge Frauen wollten lieber eine Waschmaschine statt einen teuren Klunker am Finger. Auch dank Frances Geretys Werbesujets wurde der Diamantring innerhalb einer Generation zum Verlobungsmuss. Und es etablierte sich die ungeschriebene, in manchen Kreisen bis heute geltende Regel, dass ein Mann mindestens zwei seiner Monatsgehälter für den Verlobungsring ausgeben soll. Ironie des Schicksals: Frances Gerety, ein Leben lang Vermarkterin diamantener Glücksversprechen, sollte selbst nie verlobt geschweige denn liiert sein.

Vier Ehen, vier Ringe

Und doch bot das Leben dieser Frau offenbar zu wenig Stoff für ein Buch. Ihre Geschichte bildet nur das Gerüst in J. Courtney Sullivans neuem Roman „Die Verlobungen“. Daneben erzählt sie viel weitläufiger und leider streckenweise auch viel langatmiger von vier Ehen bzw. Paaren zu unterschiedlichen Zeiten.

Wir begegnen Evelyn und Gerald, einem Mittelschichtspaar, das Anfang der 1970er mit ihrem Sohn, der sie mehrmals enttäuscht hat, hadert. Im Jahr 1987 lebt James, der seine Familie als Krankenwagenfahrer kaum erhalten kann und fürchtet, seine Frau, Sheila, aufgewachsen in besseren Kreisen, könnte ihn eines Tages verlassen. 25Jahre später spielt die Geschichte der Singles Delphine und Henri, die beide um die Übernahme eines kleinen Musikgeschäfts in Paris kämpfen und es von den Erben des Besitzers schließlich gemeinsam zugesprochen bekommen. Aus den Geschäftspartnern werden rasch Eheleute, deren eintöniges Leben eines Tages abrupt durch den Besuch eines jungen Violinisten aufgewirbelt wird. In der Gegenwart treffen wir auf Kate und Dan, die trotz ihrer Tochter Ava nicht heiraten wollen. Ausgerechnet die emanzipierte Kate, die die Ehe beinah für so etwas wie Folter hält, muss bei der Hochzeit ihres schwulen Cousins die Ringe bewachen.

All dies kommt dankenswerterweise ohne zuckersüße Kitschglasur aus, soll es doch eher daran erinnern, dass nicht auf jede rührende Ringübergabe eine erfüllte und problemfreie Ehe folgt. Der Verlobungsring spielt stets nur eine Randrolle. Einmal ist er vier Karat groß, einmal verschwindend klein, einmal gehütetes Erbstück, er wird mehrmals gestohlen, einmal verloren, einmal als Kette um den Hals getragen.

Trotzdem bleiben in der Fülle an Charakteren und Jahrzehnten die Figuren seltsam schablonenhaft. Richtig ärgerlich ist aber, dass der Roman trotz seiner Länge (580 Seiten) und neben den bis ins kleinste Detail beschriebenen Paarungen, die wirklich interessanten Dinge auslässt: Als etwa Frances Gerety bei der Firmenehrung auf die Bühne tritt und ihre Dankesrede hält, erfahren wir nicht, was sie den „mad men“ ihrer Zeit zu sagen hat. Dabei hätten wir das so gern gehört. 

Neu erschienen

J. Courtney Sullivan
„Die Verlobungen“, übersetzt von Henriette Heise,
Zsolnay Verlag
590 Seiten
22,60 Euro

(„Die Presse am Sonntag“, Print-Ausgabe, 09.02.2014)