Phänomedial: Der E-Mail-Voyeurismus der Miranda July

Warum Miranda July E-Mails verschickt und was wir aus dieser Kunstinstallation im Posteingang lernen können.

Montag für Montag war sie in meinem Posteingang: eine E-Mail von Miranda July. Die herrlich verrückte US-amerikanische Autorin und Filmemacherin („Future“) hat 20 Wochen lang eine Mail an all jene verschickt, die auf der Webseite „We think alone“ darum baten. Was daran so speziell sein soll? Die E-Mails standen Woche für Woche unter einem anderen Motto und waren eine Sammlung elektronischer Briefe von mehr oder weniger bekannten Menschen, die nie dazu bestimmt waren, von irgendwem anderen gelesen zu werden als dem Empfänger. Das ist wie eine Kunstinstallation im Posteingang. Die Erfinderin und Hauptfigur von „Girls“, Lena Dunham, entschuldigte sich da etwa in Woche 18, die unter dem Motto stand „An email thats an apology“, bei einer Person, sie bei einer Party ignoriert zu haben. Wir wissen nicht, ob das ein mühsamer Fan, ein alter Schulfreund oder die Lektorin eines Verlages war und bei welcher Party sich Lena Dunham offenbar so daneben benommen hat. Der Leser bekommt nur einen kleinen Ausschnitt in eine moderne Briefkultur und darf sich dabei fühlen als würde er durch das Schlüsselloch ins Leben eines anderen Menschen blicken.

Miranda July kontert mit ihrem Digital-Projekt, das sie für das Stockholmer Museum Magasin 3 entwickelt hat, der „Ich gebe alles von mir preis“-Mentalität in sozialen Netzwerken: Ihre E-Mail-Schreiber offenbaren mit ihren digitalen Nachrichten, bei denen meist der Empfänger unkenntlich gemacht wurde, vermeintlich alles – und gleichzeitig nichts. Denn was hat der Leser davon, wenn er weiß, dass Schauspielerin Kirsten Dunst irgendetwas nicht fertig stellen konnte, weil sie ein Wochenende in New York und Atlanta verbrachte oder der israelische Autor Etgar Keret seine Lesetour canceln muss, weil er nicht aus Israel ausreisen kann? Vielleicht das tröstliche Gefühl, dass auch Drehbuchautorinnen, Hollywood-Stars und Basketball-Spieler wie Kareem Abdul-Jabbar Fehler machen, fluchen, einsam sind, hin und wieder Angst und jedenfalls immer wieder auch Computerprobleme haben. Miranda July sagt zwar, ihr E-Mail-Projekt erlaubte ihr endlich zu tun, was sie immer schon wollte: die E-Mails ihrer Freunde zu lesen und so ihren Voyeurismus zu befriedigen. Doch für den Social-Media-verwöhnten Leser sind diese Korrespondenzen beinahe langweilig: keine Fotos, keine Namen, keine Skandale (wobei, einen kleinen Skandal gab es doch, weil Lena Dunham in ihrem Mail über Geld preisgab, 24.000 Dollar für ein Sofa auszugeben). Es sind nur kleine, sehr gewöhnliche Notizen aus einem Leben, das zufälligerweise von einem bekannten Menschen gelebt wird.

Natürlich kann man Miranda Julys Newsletter auch als neue Form des Blogs interpretieren: eine Dosis fremdes Leben pro Woche, nicht so schillernd wie auf Facebook, nicht so altklug wie auf Twitter, ohne Pinterest-Bilder und Instagram-Filter -stattdessen ein paar schnell geschriebene Zeilen, mal ungeduldig, mal sehnsüchtig-sentimental, dann wieder distanziert oder sehr vertraut, meistens informell, nicht selten mit Rechtschreibfehlern und ohne Punktation. Vielleicht ist Miranda Julys Digital-Projekt eine simple Huldigung auf die ursprünglichste Kommunikationsform im Netz: die E-Mail. Oder als nicht besonders hintergründiger Protest gegen den US-Geheimdienst NSA, nach dem Motto: Lest doch unsere Mails, nichts darin ist wirklich von Bedeutung.

Eine kleine Randnotiz zum Schluss: Manche Dinge erfährt man einfach zu spät und kann sie daher auch nur spät mit anderen teilen. Ich selbst habe von Miranda Julys E-Mail-Newsletter erst vor einigen Wochen gehört und wollte mir zuerst ein Bild von der Sache machen, bevor ich darüber berichte. Ein anderer Blog ist dieser Tag online gegangen, der zumindest eine Zeit lang beobachtet gehört: Auf der Webseite der FAZ schreiben zwölf Autorinnen abwechselnd unter dem Titel „Ich. Heute. 10 vor 8“ über ihren Alltag. Darunter sind Autorinnen wie Annika Reich, Nora Bossong oder Elisabeth Ruge.

Kennen Sie noch andere Digital-Projekte wie Miranda Julys „We think alone“ oder lesenswerte, neue Blogs? Ich freu mich über Hinweise.