Die Ururgroßväter von Meredith Grey

Spitalserie. Steven Soderberghs Serie „The Knick“ spielt in der gleichnamigen New Yorker Klinik im Jahr 1900. Da spritzen Ärzte zu Techno-Sound Kokain und öffnen mutig die Bauchdecken. So blutig und düster war kaum eine Arztserie davor.

Der Auftakt sitzt, und zwar gleich doppelt. Nur langsam wacht der Arzt Dr. John Thackery in einem Opiumsalon aus seinem Medikamentenrausch auf, sanft geweckt von den zierlichen Animierdamen. Unfrisiert, mit verrutschter Krawatte und Sonnenbrille raunt er dem Kutscher vor dem Bordell zu: „The Knick“, dort wolle er hin, und zwar über den längeren Weg durch Manhattan. Denn in der Kutsche hat er noch etwas zu erledigen, wie jeden Morgen muss er sich Kokain zwischen die Zehen spritzen. Nur so übersteht er den Arbeitstag im New Yorker Krankenhaus „The Knickerbocker“.

Dort erwartet man ihn schon im OP. In den Saal mit aufsteigenden Hörsaalreihen wird eine Schwangere geschoben, die die Herren in Weiß wimmernd bittet, ihr Kind zu retten. In 100 Sekunden und mit einem Schnitt wollen Thackery und seine Kollegen das Baby aus dem Bauch der Mutter geholt haben. Flasche um Flasche füllt sich mit Blut, das Kabel der Absaugpumpe verheddert sich, die Bauchdecke wölbt sich wie Wellblech – am Ende sind Kind und Mutter, man hat es kommen sehen, tot. Die Szene spielt im Jahr 1900, ein Kaiserschnitt war damals noch ein gefährlicher Eingriff. Und der Oberarzt sagt resigniert: „It seems we are still lacking.“ Oh ja, es fehlt – an Routine, Wissen und vielem mehr.

Skalpell auf gespannter Bauchdecke

Regisseur Steven Soderbergh weiß, was er seinen Zusehern da zumutet: „Wenn du die ersten sieben Minuten aushältst“, sagte er unlängst der „Süddeutschen Zeitung“, „dann hast du es geschafft. Wenn du damit ein Problem hast, dann solltest du besser nicht weitermachen.“ Zur Übersetzung für Serien kenner: Verglichen mit „The Knick“ waren „Emergency Room“ oder „Grey’s Anatomy“ lustige Ausflüge in den geschönten Krankenhausalltag. Hier sind die Ururgroßväter von Meredith Grey und Doug Ross an der Arbeit, und Soderbergh hat den Weichzeichner weggelassen. Die Serie spielt zu einer Zeit, in der die Medizin noch mehr Feld für Experimente war und OPs nach einem Eingriff an eine Schlachtbank erinnerten. Selbst abgebrühte Zuseher werden hier reflexartig die Hände vor das Gesicht halten müssen. Soderberghs Kameraführung ist erbarmungslos: Wenn das Skalpell die Bauchdecke durchschneidet, bleibt er drauf und drauf und drauf.

Untermalt wird die Szenerie im staubig-düsteren, vom Fortschritt vernebelten Manhattan mit rasant-kühler Elektromusik. Ein genialer Kniff. Das ist perfekte Serienkunst im Jahr 2014 – zu perfekt allerdings. Schnell hat man die Muster und Rollen dieser Geschichte durchschaut: Der Einzelgänger Dr. Thackery (mieselsüchtig gespielt von Clive Owen) ist nicht nur schwer kokainsüchtig, sondern auch übellaunig, cholerisch und rassistisch. Es gefällt ihm gar nicht, dass ihm der schwarze Arzt Algernon Edwards (vornehm: Andre Holland) zur Seite gestellt wird. Cornelia Robertson, die moderne und liberale Spitalchefin und Tochter des philanthropischen Krankenhaus-Stifters hält viel von Edwards, er ist der Sohn von der Köchin und dem Chauffeur ihrer Familie.

So geht es abseits der Blutgelage im Operationssaal um das Leben in der damaligen 3,5-Millionen-Metropole New York, die zu einem Drittel von europäischen Migranten bevölkert wurde. Diese armen New Yorker Neuankömmlinge werden im „Knick“ behandelt, wo die Ärzte eben auch mit neuen Therapie- und Operationsmethoden experimentieren. So bedienen sich manche Szenen in düsteren Armen-Wohnungen etwas billiger (und vorhersehbarer) Klischees. Wir haben verstanden: Frauen (hier vorzugsweise Krankenschwestern) und Schwarze haben nichts zu melden, alle Iren sind derb, und die Ärzte sind unantastbare Götter in Weiß.

Stoff für Montagmorgen im Büro

„The Knick“ ist ein weiteres reines TV-Projekt von Soderbergh. Vor zwei Jahren kündigte der Regisseur von Filmen wie „Erin Brokovich“ und „Sex, Lügen und Videos“ seinen Abschied aus dem Kinofilmsegment an. Nach dem TV-Biopic „Behind the Candelabra“ mit Michael Douglas und Matt Damon in den Hauptrollen und „The Knick“ arbeitet er schon an zwei weitere Serien („Red Oaks“, „The Girlfriend Experience“). Das Genre reizt ihn derzeit auch deswegen, weil sich das Fernsehen jenen Platz in der kulturellen Landschaft gesichert habe, der früher dem Film gehörte. „Niemand spricht mehr Montagmorgen über Filme in der Art wie derzeit über Fernsehen gesprochen wird.“ Gut möglich, dass jene, die am Montag über „The Knick“ sprechen, dabei angewidert das Gesicht verziehen.

„The Knick“. Läuft in den USA seit Freitag bei Cinemax und ist in Österreich ab heute, 9. 8. auf Sky Go abrufbar.

Blut und Eingeweide. Dr. Thackery (Clive Owen, dritter von links) führt das Regiment im OP-Saal. [ Credit: Home Office Box, Inc ]