Regt euch ab! Plädoyer für eine neue Debattenkultur

Ob Bundeshymne, Binnen-I oder Gaza- und Ukraine-Konflikt: Debatten erreichen heute schnell ein menschenverachtendes Niveau – vor allem im Internet. Neue Kommunikationskanäle erfordern auch neue Umgangsformen.

Von Anna-Maria Wallner und Ulrike Weiser

Man kommt kaum an ihnen vorbei, an den Debatten der vergangenen Wochen, die besonders aufgeregt geführt wurden. Vor allem, aber nicht nur im Internet lösen immer öfter Themen, und immer öfter Gender- oder Auslandsthemen eine Welle der Empörung aus. Beispiele gefällig? So gut wie jede Asylwerber-Debatte, der Ukraine/Russland-Konflikt, die Diskussion um die Bundeshymne, ausgelöst durch Volkspopmusiker Andreas Gabalier. Die Binnen-I-Debatte. Der „Nie wieder Judenhass“-Titel der „Bild“-Zeitung, der massenhaft antisemitische Postings zur Folge hatte. Einer der traurigen Höhepunkte innerhalb der ohnehin schon so komplexen Debatte war eine spätnächtliche TV-Diskussion zum Israel/Gaza-Konflikt. ORF-Moderatorin Lisa Gadenstätter sah sich nach dem (nicht sehr geordneten) Livegespräch, bei dem UETD-Chef Abdurrahman Karayazili das Studio verlassen hatte, mit Morddrohungen konfrontiert.

Es sind aber nicht nur die sogenannten „Hassposter“ im Internet, die auffallen. Auch in Leserbriefen oder Kolumnen – wie der von „Krone“-Postler Michael Jeannée – häufen sich verbale Entgleisungen. Vielleicht wirkt das Genre der TV-Diskussion auch deshalb auf viele so blutleer, weil sie häufig sehr viel konsensueller ablaufen als Diskussionen im Internet. Wer sich gegenübersitzt, wird eben nicht so schnell ausfällig.

Immer schon hatte neben den Gelehrten auch „das Volk“ eine Meinung, der Unterschied ist nur: Heute hat dank der Demokratisierung des Internets wirklich jeder ein Ausdrucksmittel zur Hand. Sogar der Unwissendste kann sich zu jedem beliebigen Thema äußern. Das darf er natürlich, es gibt auch nichts gegen gewitzte und sogar beleidigende Schmähungen einzuwenden. Problematisch wird es, wenn sich in Diskussionen ein menschenverachtender, rassistischer Ton einschleicht – und das tut er im Netz so schnell, weil die emotionale Anteilnahme schwerer fällt. Ich kann mein Gegenüber anbrüllen und beleidigen und bin nicht mit seiner Reaktion konfrontiert. Neue Kommunikationskanäle fordern daher auch neue Umgangsformen für Debatten. Sozusagen eine moderne Ars Discutandi, die so aussehen könnte:

Kritik muss sein – aber mit (selbst)kritischem Blick auf das Niveau.
Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist ein unverzichtbares Menschenrecht. Niemand will das heuer 225 Jahre alte Recht, das erstmals in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in Frankreich erwähnt wurde, abschaffen. Die Diskussion, die Kritik und auch die Polemik sind wichtig. Was viele vor dem Enter-Taste-Drücken vergessen: Auch die Meinungsfreiheit hat ihre Grenzen, etwa, wenn die persönliche Ehre durch Beleidigung oder Verleumdung verletzt wird. Meinung sagen ja, niveaulos stänkern nein.

Wer diskutiert, sollte besser wissen, wovon er spricht.
Die Devise sollte lauten: Erst denken, dann sprechen – oder einen Tweet absetzen. Gerade, wer sich persönlich von einem Thema betroffen fühlt, denkt rasch, er sei automatisch allwissend und im Recht. So beginnen aber auch viele Rechtsstreitigkeiten und die können so oder so ausgehen.

Es gelten die Regeln der Logik und die Macht der Fakten.
Dieser Punkt ergibt sich aus dem vorigen. In einer echten Debatte ist eine Meinung nur etwas wert, wenn man sie einigermaßen logisch begründen und mit Fakten untermauern kann. Wer nur emotionale Ressentiments à la „Das mag ich einfach nicht“ zu bieten hat, ist eigentlich kein Dialogpartner, denn er ist gar nicht an einer Debatte interessiert. Interessant sind solche Behauptungen nur dann, wenn sie am Ende eines Argumente-Austauschs stehen. Denn wer als Erster „das ist nun einmal so“ sagt, hat offiziell verloren.

Die oberste Tugend ist Toleranz – Humor schadet aber auch nicht.
Schon Aristoteles wusste: „Toleranz ist die letzte Tugend einer untergehenden Gesellschaft.“ Und auch wenn man darüber diskutieren kann, was der Philosoph damit eigentlich gemeint hat (und zwar eher das Gegenteil), lässt sich dieser Spruch doch auf moderne Debatten anwenden. Dass andere Dinge anders machen und bewerten als man selbst, ist eine wichtige Erkenntnis und sollte nicht automatisch den Blutdruck erhöhen. Und wenn die kruden Thesen der anderen einen doch so empören, hilft es immer, die Situation mit Humor zu sehen. Auch sich selbst und das Gegenüber nicht so wichtig nehmen, kann die Wut und Aggression aus der Debatte nehmen.

Der digitale Imperativ: Poste nichts, was du deinem Gegenüber nicht auch ins Gesicht sagen würdest.
„Virtuelle Ethik ist die imaginierte Präsenz des anderen“, sagt die deutsche Philosophin Ariadne von Schirach (siehe rechts). „Sie ist die Grundlage für Respekt und Sachlichkeit trotz Anonymität und fehlender persönlicher Haftbarkeit.“ Anders formuliert: Sagen Sie nichts, was Sie in einer Wohnzimmerrunde nicht auch sagen würden.

Morddrohungen und Gewaltaufrufe haben in einer Debatte nichts verloren.
Aufrufe zu Gewalt gegen andere oder sogar zur Tötung sind eine Angelegenheit des Strafrechts. Punkt.

Debatten brauchen einen Rahmen.
Die gute Nachricht lautet: In Krisenzeiten erlebt die Philosophie ein Comeback. In Wiener Wohnzimmern und Berliner Cafés trifft man sich seit geraumer Zeit wieder, um zu diskutieren – und zwar so „richtig“. Das erfordert allerdings Rahmenbedingungen: Zeit, Vorbereitung, einen Moderator. Diese altmodischen Zutaten würden auch die Onlinedebatte in Form bringen. Denn wer Diskussion nicht nur anreißen, sondern zu Ende führen will, muss sich auch anstrengen. Für Internetplattformen – auch die von Medien wie der „Presse“ – bedeutet das, dass sie sich um Moderation kümmern müssten. Und für die Teilnehmer, dass sie den Online-Austausch ernst nehmen. Sonst werden sie nicht ernst genommen.

Vier Experten fordern ein Umdenken in der Debattenkultur: 

1) Philosophin Charlotte Werndl

„Kritikfähigkeit ist wichtig“

„Die Frage oder das Problem muss wieder im Vordergrund stehen, nicht ideologische Faktoren oder das Recht-haben-Wollen. Nehmen wir die Debatte, ob kleine Kinder durch Kinderbetreuung positiv oder negativ beeinflusst werden. Hier sollte nicht auf Basis von gewissen Ideologien argumentiert werden, sondern man sollte sich fragen: Was zeigen empirische Untersuchungen? Welche Evidenzen gibt es? Ein weiterer wichtiger Faktor ist Kritikfähigkeit. In der Wissenschaft ist es normal, kritisiert zu werden, außerhalb oft nicht. Im Netz können Diskussionsregeln helfen, dass Debatten zivilisiert und fair bleiben.“ Eine gute Debatte zeichnet sich dadurch aus, dass man von ihr etwas lernt.

Die gebürtige Salzburgerin hatte zuletzt eine Professur in Oxford inne und kehrt im September an die Uni Salzburg zurück. 

2) Philosophin Ariadne von Schirach

„Am Ende sitzt ein verletzlicher anderer“

„Das Internet erschwert die emotionale Anteilnahme. Wenn ich maile, kommentiere oder chatte, nehme ich keine direkte körperliche Reaktion des Gegenübers wahr. Der Philosoph Emmanuel Levinas schreibt über das Antlitz des anderen als Anrufung. Der Blick eines Menschen hat eine ethische Wucht. Doch diese Anwesenheit des anderen, seine emotionalen Reaktionen wie Freude oder Scham oder Schmerz, sind im Netz nicht erfahrbar.

Eine mögliche Lösung? Sich trotz Geschwindigkeit, Anonymität und Verfügbarkeit der Kommunikation wieder klarzumachen, dass am anderen Ende ein verletzlicher anderer sitzt. Virtuelle Ethik ist die imaginierte Präsenz des anderen.“

Schirach (*1978) ist eine deutsche Philosophin, Cousine von Strafverteidiger Ferdinand von Schirach. Zuletzt erschien: „Du sollst nicht funktionieren“ 

3) Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen

„Den Menschen nicht verdammen“

„Das Grundproblem ist: Die technisch-mediale Evolution und der aktuelle Stand der Herzensbildung passen nicht zusammen; wir sind wie Pubertierende, die auf der Weltbühne des Internets einfach alles Mögliche ausprobieren – und fröhlich über die Stränge schlagen. Nötig ist ein besseres Gespür für die Nuance, Proportionalität und Verhältnismäßigkeit: Ja, wir sollen und müssen uns streiten, hart in der Sache, aber weniger unerbittlich im Ton. Ja, es braucht die scharfe Attacke und die investigative Recherche, aber die kindlich-naive Suche nach dem Heiligen sollte ein Ende haben. Das erste Gebot einer anderen Debattenkultur lautet: Den Fehler kritisieren, aber nicht den Menschen verdammen.“

Pörksen (*1969), ist Medienprofessor in Tübingen. Im September erscheint „Kommunikation als Lebenskunst“.

4) „The European“-Chefredakteur Alexander Görlach

„Eine gute Debatte kreist immer um Ideen“

„Eine gute Debatte kreist immer um Ideen, nie um Menschen. Menschen müssen dafür frei von den Zwängen sein, in denen sie sonst stecken: Parlamentarier debattieren am besten außerhalb des Parlaments. Eine Gesellschaft braucht Räume, in denen Menschen ungeschützt, abseits von Rollen, die sie im Berufsalltag spielen, miteinander diskutieren können“, sagt Alexander Görlach, der Chefredakteur des Debatenmagazins „The European“. „ Empörung ist häufig gespielte Entrüstung. Wer wirklich etwas bewegen will, der vergeudet keine Zeit mit Empörung, die in nichts mündet. Empörung ist kein Selbstzweck. Wenn sie echt ist, dann sucht sie sich ein Ziel.“

Görlach (*1976) leitet das deutsche Online-Debatten-magazin „The European“, das hie und da auch gedruckt erscheint.

(„Die Presse am Sonntag“, Print-Ausgabe, 24.08.2014)