Früh verschwägert, spät verliebt

Sie sind nicht verheiratet und tragen doch den gleichen Namen. Zita und Markus Moser sind auf Umwegen zusammen gekommen. Dies ist die Geschichte ihrer zweiten Liebe. 

Zita und Marku Moser in ihrem Wohnzimmer.

Herr und Frau Moser sind ein Paar. Sie heißen gleich, ob wohl sie nicht miteinander verheiratet sind – und sie sind dennoch seit Jahrzehnten verwandt miteinander. Die Erklärung für diese ungewöhnliche Beziehungskonstellation ist einfach: Zita war 24 Jahre mit Markus‘ jüngerem Bruder verheiratet und hatte zwei Kinder mit ihm. Markus war 51 Jahre mit Herta verheiratet, mit der er auch eine Tochter hatte. Vor sechs Jahren ist seine Frau an Brustkrebs gestorben. Schwager und Schwägerin rückten in der Folge näher, so wie man das in der Familie eben tut. Man hilft einander, ohne Hintergedanken.

Heute leben Zita, 65, und Markus, 77, fast durchgehend zusammen in einem großzügigen Haus in der Nähe von Wiener Neustadt, das Markus, der über 40 Jahre Postangestellter war, mit seiner Frau vor über 20 Jahren gebaut und bezogen hat. Gegenüber beim Nachbarn stehen zwei in die Jahre gekommene Pferde auf einer Koppel. Das Zentrum des Hauses ist der helle, freundliche Wintergarten mit vielen Pflanzen. Im Sommer spendet vor den großen Fenstern ein wuchtiger Marillenbaum Schatten. „In guten Jahren trägt der Baum 300 Kilogramm“, sagt Markus mit demütigem Stolz.

Zita hat ihre eigene Wohnung in der Steiermark behalten. 24 Jahre lang lebte sie mit ihrer Schwiegermutter unter einem Dach. („Das war keine einfache Zeit.“) Der Mutter ihres Ex-Mannes und ihres heutigen Partners. Zita kennt also auch die engste Familie von Markus. Und das hat, glaubt man dem Paar, mehr Vor- als Nachteile. Markus muss Zita seine Verwandten nicht mehr vorstellen oder erklären, die Eigenheiten seiner mittlerweile verstorbenen Mutter kennt Zita selbst zu gut. Umgekehrt ist Markus Zitas Lebensweg vertraut, er weiß, was sie wann beruflich gemacht hat, kennt ihre erwachsenen Kinder. Begegnet man einander erst im Alter, hat man als Paar blinde Flecken vom Leben des anderen. Die haben Markus und Zita nicht.

Es ist schön, wie offen und unverkrampft das alte Paar über ihre noch frische Beziehung plaudert. Ihre Gesichter und den vollen Namen wollen sie dennoch lieber nicht in der Zeitung lesen. Darum nennen wir sie in dieser Geschichte Moser.

Zuerst war da Trauer

Die erste Zeit nach dem Tod seiner Frau war nicht einfach, erzählt Markus während er am Kopf des großen Esstisches im Wintergarten Platz genommen hat. Seinen Hausarzt hat er damals gebeten, dass er ihm Tabletten verschreibt, die es ihm ein bisschen leichter machen würden. „Aber der hat gesagt, dann wird es später nur umso schwerer, wenn Sie mit den Tabletten aufhören wollen.“ Also hat Markus nichts genommen. Hat sich stattdessen nach einem halben Jahr gezwungen, wieder mehr nach draußen zu gehen. Freunde getroffen, Bekannte zum Schnapsbrennen eingeladen, Seniorenfahrten gemacht. Auch gekocht und das Haus geputzt hatte er in dieser Zeit selber. Das macht er heute noch, wenn Zita nicht da ist. In dieser Hinsicht sei er immer schon ein moderner Mann gewesen, sagt Zita zufrieden.

Und dann kam eines Tages Zita aus der Steiermark zu Besuch. Die Schwägerin packte an, wo es notwendig war, half ihrem Schwager bei Hausarbeiten, die man eben doch nicht alleine schaffen kann. „Die ersten zwei Jahre habe ich, wenn ich auf Besuch war, im Gästezimmer geschlafen, wenn ich da war“, erzählt sie. „Und irgendwann hat’s Klick gemacht.“ Sie lacht laut und sieht dabei sehr glücklich aus. „Schon vor 30 Jahren haben wir gemeinsam Wein gelesen bei strömendem Regen“, sagt Markus. Da greifst immer nach oben und dir rinnt das Wasser bei den Ärmeln herein. Meine Bruder war nie da. Der hat nie bei der Arbeit geholfen.“ Aber an Zita war Markus nie interessiert. „Ich wäre nie scharf gewesen auf meine Schwägerin. Das war die Frau von meinem Bruder“, sagt er. Außerdem hatten er und seine Frau geglaubt, Zita führe eine zufriedene Ehe mit seinem Bruder. „Sie haben nichts gewusst von meiner Misere. Ich hatte nur zwei Freundinnen, bei denen ich mir mein Herz ausgeschüttet habe“, sagt sie. In Wahrheit sei ihre Ehe schon nach den ersten drei Jahren zu Ende gewesen, ihr Mann wenig zu Hause gewesen und habe seine Zeit mehr in seinem Geschäft und im Wirtshaus verbracht. „Aber ich habe immer gesagt, ich gehe erst dann, wenn meine Kinder auf eigenen Füßen stehen.“

Neues Leben mit 43

Genau so hat sie es dann 1996 getan. Hat mit 43 Jahren allein eine eigene Wohnung in einem anderen Ort bezogen und noch einmal von vorn Leben begonnen. Einige Jahre hatte sie einen jüngeren Partner. Auch bei ihrem 50. Geburtstag, den sie groß im Kreis von Freunden und Familie gefeiert hat, war der dabei. Sie zeigt das bunte Fotoalbum, das ihre Tochter ihr danach mit den Schnappschüssen von den Gästen und den Glückwunschkarten zusammengestellt hat. Und plötzlich taucht da ein Foto auf, das Zita und Markus längst vergessen hatten: Er und sie, der Schwager und die Schwägerin, Arm in Arm bei Zitas Fünfziger. Das Bild gleich links daneben zeigt die Jubilarin mit ihrer Schwägerin, der Frau von Max. Man sieht, wie nah man sich in der Familie war. 15 Jahre ist das bald her. Markus und Zita haben damals beide nicht in ihren kühnsten Träumen gedacht, später einmal miteinander das Leben zu teilen.

Die Kinder haben sich gefreut

Seit gut drei Jahren sind sie jetzt ein Paar. Zita wohnt die meiste Zeit bei Markus in der 1500-Einwohner-Gemeinde. Ihre Wohnung in der Steiermark hat sie ebenso behalten wie den kleinen Fischteich mit einer Holzhütte. Auch weil ihre Kinder und ihre Mutter dort wohnen und sie die immer wieder besucht. So verbringen sie ihre Zeit mal in seinem Haus, dann in ihrer Wohnung, dazwischen auch mal ein paar Tage getrennt, aber meist gemeinsam.

Ihr engstes Umfeld haben sie damals in Etappen informiert. Zuerst die engsten Freunde. Dann Zitas Kinder. Ihre Tochter, heute 45, und ihr Sohn, 41, haben sich besonders gefreut. Denn Markus ist nicht nur der Taufpate der beiden, sondern immer schon ihr Lieblingsonkel gewesen. Ihr Vater hatte sich in jungen Jahren wenig für seine Kinder und ein intaktes Familienleben interessiert. So kam es zu der paradoxen Situation, dass der Vater bei der Taufe seiner Kinder nicht dabei war, Markus als Taufpate aber schon.

Als Letzter erfuhr es der Ex und Bruder. „Die Verwandten haben schon gewusst von uns, aber er noch nicht.“ Beim Begräbnis einer gemeinsamen Cousine saß Markus in der Kirche neben ihm. „Und die anderen haben hinter unserem Rücken geredet: ,Schau, wia’s sitzen, die Brüder.‘ Beim Totenmahl ist ein Bekannter zu mir gekommen und hat gefragt, ob sich bei mir schon etwas tut mit einer neuen Partnerin. Und ich hab vor meinem Bruder noch gesagt: ,Na, es tut sich nichts.'“ Max lacht. Schließlich haben ihn die Kinder über die neue Beziehung ihrer Mutter informiert. „Da war er momentan schon geschockt“, sagt Markus. „Aber dann hat er gesagt: ,Meinen Segen habt’s und ihr passt’s eh besser zusammen als wir damals.'“ Heute hören sie sich regelmäßig und richten sich Grüße aus. Die Brüder verstehen sich, obwohl sie sich weder charakterlich noch äußerlich ähnlich waren.

Zita und Markus genießen ihr Leben, das spürt man. Und sie mögen das Leben mit dem anderen. Verstanden haben sie sich ja immer gut. Und dann erkannt, dass sie ein ähnliches Bedürfnis nach Gesellschaft und Aktivität haben. Gerade ist eine von Markus Urenkerl auf Besuch bei ihnen und wird liebevoll betreut. Zita hat das letzte Jahrzehnt ihres Berufslebens als Aktivbetreuerin in verschiedenen Seniorenheimen gearbeitet. Weshalb sie heute noch regelmäßig Walken und in ein Fitnessstudio geht. Markus brennt dann in der Zwischenzeit Schnaps im Keller, den er dann verschenkt oder verkauft, vor allem bei einem Markt jedes Jahr vor Weihnachten. Zita hilft ihm dabei, den Stand zu dekorieren und macht eifrig Fotos. Sie wandern und reisen gern, heuer geht es noch nach Südtirol und und auf eine Hütte ohne Strom in die Ramsau. Im Vorjahr hat Markus Zita auf eine einwöchige Fastenkur in die Steiermark begleitet, bei der er tapfer das karge Suppen- und Saft-Menü und das sanfte Sportprogramm absolvierte. Es überrascht nicht, dass sie die Leiterin der Fastengruppe längst besucht haben. Wenn man bei den Mosers zu Gast ist, klingelt ständig das Handy, einmal ihres, einmal seines. Der Nachbar von nebenan ist gerade Vater geworden und lädt die beiden spontan zur Taufe seines Neugeborenen ein. Zwei Tage kommt ein junges Paar, auf deren Hochzeit sie kürzlich eingeladen waren. Der Bräutigam wünscht sich Linsen mit Speck und Knödel und die bekommt er bei den Mosers.

Heiraten müssen wir nicht

Dass das mit ihnen so gut funktioniert, sei „wirklich ein Glück“, sagt Zita. „Wir gehen beide aufeinander ein.“ Wenn es doch eine Meinungsverschiedenheit gibt, wird die ausgeredet. So hat es Markus auch mit seiner ersten Frau gehalten. 51 Jahre waren die beiden verheiratet und haben unvorstellbar harte Zeiten überstanden. Vor 23 Jahren starb ihre Tochter mit nur 29 Jahren an plötzlichem Lungenversagen und hinterließ ihren Mann und zwei Töchter. „Das war nicht leicht“, sagt Markus. Auch das hat Zita mitbekommen, Markus muss seine Trauer nicht erklären.

Ganz ausschließen können sie es nicht, aber ans Heiraten denken Markus und Zita derzeit nicht. Sie heißen ohnehin gleich. Und die Vermögensdinge haben sie, aufgeräumt wie die beiden sind, bereits geregelt, auch ohne Trauschein. [*]

Späte Liebe: Die Zahl jener Menschen, die mit 60 Jahren oder später heiraten, hat sich in den vergangenen Jahren in Österreich mehr als verdoppelt. Gab es im Jahr 2000 noch 260 Frauen, die sich mit 60+ trauten, waren es 2014 schon 690. Bei Männern stieg die Zahl von 615 auf 1705. 2014 gab es einen Mann, der mit 95 (oder älter) heiratete. Für eine glückliche neue Beziehung ist es offenbar nie zu spät. 

Zita und Markus Moser in seinem Esszimmer. Ihre Wohnung in der Steiermark hat Zita behalten, doch sie verbringt viel Zeit bei Markus. Fotografieren lassen wollten sie sich lieber nur von hinten. [*] Clemens Fabry

Foto: Clemens Fabry
Zita und Markus Moser in seinem Esszimmer. Ihre Wohnung in der Steiermark hat Zita behalten, doch sie verbringt viel Zeit bei Markus. Fotografieren lassen wollten sie sich lieber nur von hinten.

Die neuen Zeiten im ORF sind blauer und gröber

Der ORF-Umbau der Bundesregierung ist beinah fertig. Den Stiftungsrat führt jetzt ein FPÖ-Mann, der verbal manchmal so ausreitet wie ein Mini-Trump.

Der ORF hat erstmals einen blauen Aufsichtsratschef – oder wie es manche zwar formal inkorrekt, aber treffend formulieren: „Die FPÖ übernimmt die ORF-Chefetage.“ Am Donnerstag wurde mit Norbert Steger der ehemalige FPÖ-Parteichef und Vizekanzler zum Vorsitzenden des Stiftungsrats bestellt. Das ist wichtig, weil das 35-köpfige Gremium das mächtigste Aufsichtsorgan des ORF ist, das alle fünf Jahre den Generaldirektor bestellt und ihn jederzeit absetzen kann. Und es ist paradox, weil nun eben jene Partei die oberste ORF-Aufsicht hat, die den öffentlich-rechtlichen Rundfunk nach Aussagen ihres Parteichefs verkleinern und ihm den Geldhahn zudrehen will. Wetten, dass die neue blaue Stärke im ORF nun ganz neue, liebevolle Gefühle für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in den FPÖ-Reihen entfachen wird?

Schluss mit der Liebe, zurück zur Sitzung im ORF-Zentrum am Donnerstag. Dort wurde der seit der Nationalratswahl dauernde Umbau des Stiftungsrats abgeschlossen. Die türkis-blaue Bundesregierung hat nun mit 23 von 35 Stimmen eine satte absolute Mehrheit. Bemerkenswert, dass Steger dennoch das schlechteste Ergebnis aller Stiftungsratsvorsitzenden (seit 2001) einfuhr: 25 Ja-, neun Gegenstimmen und eine Enthaltung.

Fast fertig ist auch der Umbau der TV-Information: Generaldirektor Alexander Wrabetz wird bald bekannt geben, wer die neuen Channelmanager und Chefredakteure von ORF eins und 2 werden. Doch die Redakteure wünschen sich zum Teil ganz andere Namen als die Regierung. Der bisherige Chefredakteur, Fritz Dittlbacher, erhielt in der Redakteursversammlung am gestrigen Mittwoch 48 von 108 abgegebenen Stimmen der Mitarbeiter, der Favorit der Regierung, Matthias Schrom, nur neun. An das Votum der TV-Mitarbeiter muss sich Wrabetz nicht halten. Die Bestellung eines Chefredakteurs ist eben auch keine Wahl zum Klassensprecher, die immer der beliebteste Mitschüler gewinnt. Aber selbstredend, dass die Wünsche aus der Politik auch keinen Einfluss darauf haben sollten.

Doch der erwartbaren Aufregung über den ersten blauen Oberaufseher in der Geschichte des ORF und von der Politik favorisierte ORF-Manager sei entgegengehalten: Umfärbungen wie diese sind nicht neu. Auch Fritz Dittlbacher war 2010 der Wunschkandidat der damaligen Kanzlerpartei, der SPÖ. Wer was im ORF wird, war immer schon Ergebnis von Absprachen zwischen Ballhausplatz und Küniglberg. Wer das jetzt beklagt, sollte das zumindest auch im Rückspiegel tun. Eher neu ist nur, dass die FPÖ jetzt mehr mitmischen kann als bisher. Oder: dass ihr Regierungspartner ÖVP sie lässt.

Richtig putzig ist hingegen, wenn Politik, Stiftungsrat und ORF-Führung bei neuen Postenbesetzungen immer noch so tun, als ginge es nur um fachliche Qualifikation und die Frage, das beste Fernsehen zu machen. Wer soll das noch glauben? Alles vorher Geschilderte beweist: Das Gegenteil ist der Fall. Dabei hat der ORF sehr wohl auch gute Mitarbeiter und Führungskräfte, die ausgezeichnetes Fernsehen machen wollen. Das Problem ist nur – der misstrauische GIS-Zahler und Politik-Beobachter glaubt es auch ihnen immer weniger.

Und die neue Regierung, die für Anfang Juni alle Spieler großzügig zu einer „Medienenquete“ ins Wiener Museumsquartier einlädt, hat sich ebenso fürs Erste die Chance genommen, eine echte Reform im ORF zu starten. Macht stattdessen genauso wie weiter bisher. 

Noch ein paar Worte zu Steger: Es wäre ja fast sympathisch, dass sich dieser Mann verbal eher nicht zurückhält. Würde er dabei nicht wie ein Mini-Trump erscheinen, wenn er ORF-Journalisten mit Entlassung droht oder mit Sagern wie „linker Endkampf“ irritiert. Immerhin wirkt er dabei nicht automatisch als verlängerter Arm der FPÖ. Im Gegenteil, die Partei wird sich noch wundern, wie wenig Steger nach ihrer Pfeife tanzt. Fakt ist aber auch: Der Mann ist 74 Jahre alt und wurde zum Oberaufseher des öffentlich-rechtlichen Rundfunks bestellt. Für einen Sender, der in den nächsten Jahren vor allem bei Programm und Technik vieles neu denken muss, um zu überleben, ist das wahrlich kein Zeichen für Erneuerung. Aber die Regierung wird schon wissen, warum sie ihn für dieses Amt ausgewählt hat.

Leitartikel, Die Presse, 18. Mai 2018

Trump spaltet die Sitcom-Familie

Mit der zehnten Staffel landet „Roseanne“ in der Gegenwart und verhandelt subtil aktuell Themen. Eine gelungen Fernsehrückkehr nach 21 Jahren Pause.

Adam Rose/AP
Nach 21 Jahren wieder auf der Couch: Roseanne (Roseanne Barr) und Dan (John Goodman).

Einige Klassiker der TV-Unterhaltung sind in jüngster Zeit wiedergekom men, von „Full House“ und „Gilmore Girls“ bis zu

„Dallas“. Aber bei keiner dieser Serien, nicht einmal bei David Lynchs „Twin Peaks“, ist die Rückkehr so geglückt wie bei der Sitcom „Roseanne“. Dem Team um die heute 65-jährige Schauspielerin Roseanne Barr ist es gelungen, Farbe und Charakter der Serie zu bewahren und diese dennoch gekonnt ins heutige Amerika zu setzen.

Gleich geblieben ist zum Beispiel das legendäre Intro mit der jazzigen Saxofon-Melodie und Roseannes dreckigem Lacher am Schluss. Küche, Wohnzimmer und Garage der Conners sehen beinahe unverändert aus. Auf dem schmalen Fensterbrett über der Abwasch steht ein kleiner Plastik-Troll mit hellblauen, zu Berge stehenden Haaren. Ein Relikt aus den Neunziger Jahren, als diese seltsamen Figuren Einzug in die Kinderzimmer sehr junger Teenager hielten, eine Erinnerung auch an die Zeit, in der die Serie zu Ende ging. In neun Staffeln, von 1988 bis 1997, wurde der Alltag der Unterschichtfamilie Conner aus Lanford, Illinois erzählt. Der Ton zwischen Roseanne, ihrem Mann Dan (John Goodmann) und den vier Kindern Becky, Darlene, DJ und Jerry war zwar geprägt von einer neuen Rauheit im Unterhaltungsfernsehen, doch insgesamt waren die Conners noch liebevoller und damit glaubwürdiger als die Bundys aus der anderen, der „schrecklichen netten“ Sitcom-Familie.

Am Dienstagabend kehrten die Conners nach 21 Jahren Pause ins US-Fernsehen zurück – und Dan lebt wieder. Wir erinnern uns: Er war in der letzten Folge 1997 gestorben. Die ersten beiden neuen Folgen bescherten dem Sender ABC (in Europa gibt es bisher noch keinen Verleiher) 18,2 Millionen Zuseher. Darunter war auch der US-Präsident Donald Trump, der Roseanne Barr, so berichtet die „New York Times“, tags darauf persönlich zum gelungen Neustart gratuliert haben soll. Kein Wunder, dass ihm die Serie gefällt, er kommt darin vor, als Spalter der Familie. Roseanne hat Trump gewählt (in der Serie und im realen Leben) und beendet das Tischgebet mit den Worten: „Lord, thank you for making America great again“. Ihre Schwester Jackie (gespielt von Laurie Metcalf) hingegen verdreht bei solchen Gebeten die Augen. Sie geht als glühende Feministin mit rosa Strickmütze und „Nasty Woman“-Shirt auf die Straße, um gegen Trump zu demonstrieren. Seit der US-Wahl haben die Schwestern wegen ihrer politischen Differenzen kein Wort gesprochen, doch Tochter Darlene, die, arbeitslos und zweifache Mutter, wieder bei den Eltern eingezogen ist, bringt die Streit-Schwestern zurück an den gemeinsamen Küchentisch.

Fake News, Syrien, Leihmutterschaft 

In den Familiengesprächen, oder eher: Streitereien klingt viel Aktuelles an: Roseanne und Dan, Mitte 60, deutlich schlanker, aber nicht besonders fit, teilen sich aus Geldmangel ihre Medikamente. Sie haben Trump gewählt, weil er mehr Arbeitsplätze versprach. Als Jackie ihre Schwester fragt, ob sie die Nachrichten verfolge, „heute geht es uns noch schlechter“, antwortet Roseanne: „Aber nicht in den echten Nachrichten“, ein Hinweis auf Fake News und Trump-freundliche Medien wie Breitbart.

Sohn DJ ist Soldat, gerade aus Syrien zurückkehrt und kümmert sich um seine Tochter Mary, während seine Frau noch immer im Kriegseinsatz ist. Tochter Becky, die Erstgeborene der Conners, ist mittlerweile 43, hat keine Beziehung, aber Schulden und arbeitet als Kellnerin. Deshalb will sie ein Baby für eine Frau namens Andrea austragen, was deswegen lustig ist, weil diese Andrea von Sarah Chalke dargestellt wird, und die spielte in den Staffeln 6, 7 und 9 abwechselnd mit Alicia Goranson die Becky. Nestheckchen Jerry, den wir fast vergessen hatten, ist auf See und hat schon lange keinen Kontakt zur Familie. Besonders besorgt sind Oma und Opa Conner über den neunjährigen Enkel Mark, der gern Mädchenkleider trägt und sich schminkt. Roseanne begleitet ihn deswegen an seinem ersten Schultag in die neue Klasse und erzählte seinen Klassenkameraden, sie sei eine „weiße Hexe“.

Abseits von aktuellen Politik- und Zeitgeist-Bezügen wird, wie in den frühen Folgen, das (Macht-)Verhältnis zwischen Eltern, Kindern und jetzt auch Enkeln analysiert. Was immer noch lustig sein kann. Wenn etwa Harris, Darlenes Teenager-Tochter, ihrer Oma und ihrer Mutter in der Küche ein dramatisches „Ihr ruiniert mein Leben!“ entgegen schleudert, lacht Großvater Dan am Küchentisch und sagt: „Diesen Film habe ich seit 20 Jahren nicht gesehen. Die Klassiker bleiben uns erhalten.“

 Die Presse, 30.3. 2018

„Und so bleibt Euer Toni der Größte“

Der Boulevard, vor allem die „Krone“, schießt scharf gegen die Medien, die den Akt Toni Sailer aufrollen.


Eine Lanze will der Schriftsteller und Polen-Kenner Martin Pollack für den 2009 verstorbenen Toni Sailer nicht brechen. Doch an dem von „Standard“, Dossier und Ö1 veröffentlichten Akt zum Vergewaltigungsskandal im polnischen Zakopane 1974 mache ihn etwas „stutzig“, schreibt er. Dass sich die aufwendig recherchierte Geschichte „vor allem auf polnische Unterlagen aus jener Zeit beruft“, rieche für ihn „verdächtig nach dem polnischen Geheimdienst“, der dem Skistar vielleicht eine Falle gelegt hat. Bemerkenswert ist, wo Pollack das schreibt, schreiben kann: auf der Gastkommentarseite des „Standard“. So geht man mit fundierter Kritik und Zweifeln an einer lang zurückliegenden Sache um, bei der die meisten Beteiligten tot sind.

Wie man nicht damit umgeht, zeigt die „Kronen Zeitung“. Seit Tagen reiten Redakteure des Blattes zur Verteidigung des Volkshelden aus. Ein Verhalten, das man vom Medienpartner des Österreichischen Skiverbands (ÖSV) gewohnt ist. Sobald Kritik, ob berechtigt oder nicht, an Vertretern des mächtigen Verbandes geübt wird, schießt die „Krone“ scharf. Auch diesmal: Es sei eine „riesige Sauerei, Toni Sailer anzupatzen“, schrieb Online-Sportchef Max Mahdalik mit Furor, noch dazu „zufällig genau vor den Kitzbühel-Rennen“, als ob der Hahnenkamm-Zirkus durch den Akt Sailer getrübt werden könnte. In der Sonntag-„Krone“ folgte eine nicht gerade meinungspluralistische Kolumnentrias zum Thema. Zuerst rügte Chefredakteur Klaus Herrmann die „Qualitätsmedien“ und „publizistischen Aufdecker“, dass sie „das Andenken an den Jahrhundertsportler besudeln“. Kolumnist Heinz Sichrovsky wagte, etwas weniger verbissen, ein Gedankenexperiment: Wenn sich die [*]MeToo-Bewegung nun „in Ermangelung weiterer lebender Delinquenten auf die Toten“ verlege, wäre schon bei der Schöpfungsgeschichte zu beginnen. Zum Beispiel bei Gott, der den Menschen „in einen tiefen Schlaf fallen ließ und einer seiner Rippen nahm“. Sichrovsky dazu: „Wer hinter diesen abseitigen Praktiken nicht Organhandel unter Einsatz von K.-o.-Tropfen vermutet, ist naiv.“

Vier Seiten weiter schrieb Michael Jeannée seinen dritten Brief zum Thema in vier Tagen, diesmal an die „liebe Familie Sailer“. Darin teilt er gegen seinen Lieblingsfeind „Kurier“ aus. Er sei in den Siebzigern „noch ein österreichisches Journal gewesen, das mit der ,Krone‘ auf journalistischer Augenhöhe um die Vorherrschaft auf dem Zeitungsmarkt kämpfte“. Zu diesem Lob veranlasste ihn der derzeit viel geteilte und viel kritisierte „Kurier“-Kommentar aus 1975 („Nun soll endlich Gras wachsen über Zakopane“), in dem ein damaliger Sportredakteur Sailer verteidigte: Der Vorfall sei „eine saudumme Männerg’schicht'“ gewesen, „mit einem unguten professionellen Weibsstück und einem Niagarafall von Alkohol“. Dem schließt sich  Jeannée im Jahr 2018 an: „Das war’s. Nicht mehr und nicht weniger. Und so bleibt Euer Toni der Größte.“ Alles andere sei eine „widerliche, weil durch nichts gerechtfertigte Demontage des dreifachen Olympiasiegers“.

Auch das Konkurrenzblatt „Österreich“ kann seine Haltung zum Thema nicht verbergen. Toni Sailers Bruder kam im Interview mit Wolfgang Fellner den Suggestivfragen kaum aus: „Da wurden dubiose Akten über deinen Bruder ausgegra ben [. . .] Wie reagiert man da?“

Subtext, Die Presse, 23.1. 2018

Die klein-kleinen Debatten über den ORF sollten ein Ende haben

Die Schweizer werden am Sonntag gegen das Aus der Rundfunkgebühren stimmen. Bei uns wird die Debatte weitergehen. Hoffentlich nicht so wie bisher.

Die Stimmung in Europas nationalen Rundfunkhäusern ist angespannt. Am kommenden Sonntag sind die Schweizer aufgerufen, für oder gegen die Abschaffung der Rundfunkgebühr zu stimmen. Die sogenannte No-Billag-Initiative (Billag ist die Schweizer GIS) hat in vielen EU-Ländern eine neue Debatte über Sinn und Unsinn der öffentlich-rechtlichen Sender ausgelöst. Wesentlich dazu beigetragen hat auch die FPÖ mit ihren wiederkehrenden Angriffen auf den ORF. Am Donnerstag haben zwei Dutzend prominente deutsche Fernsehmoderatoren einen offenen Brief an Bundeskanzler Sebastian Kurz geschrieben, in dem sie fordern, er möge den Attacken der FPÖ gegen den ORF Einhalt gebieten. Ein erwartbarer Aufschrei der deutschen Kollegen, aber ein wichtiger.

Kurz gesagt: Derzeit reden wieder alle über das Fernsehen, viele schimpfen, manche sind richtig wütend. Wobei das nicht immer mit dem Programm zu tun hat, aber fast immer mit der Tatsache, dass es etwas kostet. Umfragen in der Schweiz haben gezeigt, dass nur 14 Prozent der befragten Bevölkerung mit dem Programm unzufrieden, dafür mehr als ein Drittel gegen die Gebühren sind. Die Abstimmung in der Schweiz wird am Sonntag trotzdem aller Voraussicht nach mit einem Nein zur Gebührenabschaffung ausgehen. Die Debatte über Ausrichtung und Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Senders wird weitergehen.

Und sie ist längst fällig. Nur wird sie immer wieder und aktuell in Österreich falsch geführt. Den ORF abschaffen, wie manche im Furor das fordern, will niemand – also hören wir doch auf, darüber zu reden! Diskutieren wir lieber, ob man manche seiner Sender ausgliedern oder privatisieren kann. Welches Programm er im 21. Jahrhundert bieten muss (um zu überleben) und wie viel Mitspracherecht die Gebührenzahler dabei bekommen sollen. Was muss der Bildungsauftrag sein, der abseits jeden Quotendrucks ausgeführt wird? Gehört die Formel 1 ins Vollprogramm des ORF? Oder die Opernpremiere? Die teure Freitagabendtanzshow? Die aus Amerika zugekauften Filme und Serien?

Es gibt noch immer Menschen, die diese Programme sehen wollen, auch die trashig anmutenden „Vorstadtweiber“, die es sogar ins Angebot von Netflix geschafft haben. Aber es gibt auch welche, die bei so etwas den Fernseher abdrehen. Ein Dilemma, das man rasch lösen sollte. Warum nicht ein paar Kniffe von Netflix oder Sky abschauen und ein neues Abo-System entwickeln. Den Zusehern beispielsweise ein schlankes Basispaket für Information und daneben spezielle Zusatz-Abos für Sport, Kultur, Unterhaltung anbieten?

Etwas Bemerkenswertes passierte dann diese Woche, als die türkis-blaue Regierung ihre neuen Vertreter im ORF-Aufsichtsgremium bekannt gab: Einige der neuen Stiftungsräte waren offenbar sogar in den eigenen Reihen so wenig bekannt, dass zuerst nicht einmal der Mediensprecher der FPÖ wusste, was sie für ihr Amt qualifiziert. Der langjährige FPÖ-Stiftungsrat Norbert Steger gab trocken zu: „Ich musste selbst googeln.“

Gerd Bacher, ORF-Chef in den 70er-, 80er- und frühen 90er-Jahren, hat die Vertreter von Stiftungs- und Publikumsrat einmal „eine Laienbruderschaft“ genannt und damit eines der größten Probleme des ORF benannt: die mangelnde fachliche Qualifikation in den Aufsichtsgremien. Die innovativen Vorschläge für die Zukunft des ORF müssen natürlich aus dem Haus und der Geschäftsführung kommen, aber ein Aufsichtsgremium ist dazu da, die richtigen Fragen und Weichen zu stellen.

Geredet wird aber lieber darüber, welche Berichte der ORF macht und welche nicht, welche Politiker darin zu Wort kommen und welche nicht. Das lähmt vor allem auch den ORF selber. Außerhalb gibt es die einen, die das immer noch interessiert, die jede neue Entwicklung in dem aktuellen Streit zwischen FPÖ und ORF verfolgen. Aber es gibt auch die anderen: die Netflix-Schauer und die YouTube-Surfer, denen der ORF zu selten ein spannendes Programm bietet und die sich deshalb auch nicht für diese klein-kleinen Debatten begeistern können. Dabei brauchen der ORF und jeder öffentlich-rechtliche Sender in Europa vor allem eines: Menschen, die sich für sein Programm interessieren. Zuseher, die gern für das zahlen, was sie täglich sehen und hören. Nur um sie sollte es gehen.

Leitartikel, Die Presse, 2.3.2018

 

Das Dilemma des Frauenvolksbegehrens 2.0

Nie war die Zeit für eine Neuauflage des Frauenvolksbegehrens reifer als jetzt, aber bisher kam kein Schwung hinein. Unterstützen sollte man es dennoch.

Seit Montag wird gesammelt. Bis 13. März kann an jedem Gemeinde- und Bezirksamt des Landes, unabhängig vom Hauptwohnsitz, und elektronisch per Handy-Signatur eine Unterstützungserklärung für das neue Frauenvolksbegehren abgegeben werden. (Ab Donnerstag dann auch für das Rauchverbot.) Wenn ein Promille der österreichischen Bevölkerung unterzeichnet – zurzeit sind das 8401 Menschen –, kann die Einleitung des Volksbegehrens beantragt werden; danach setzt der Innenminister einen Eintragungszeitraum fest. Kommen dann 100.000 Unterschriften zusammen, muss das Thema im Parlament behandelt werden. So viel zu den spröden bürokratischen Einzelheiten.

Nur, bringt das alles etwas? Fest steht jetzt schon: Die erste Unterschriftenhürde werden die engagierten Initiatorinnen mit ziemlicher Sicherheit nehmen. Trotz der technischen Hürden, die es am ersten Unterzeichnungstag in vielen Gemeindeämtern gab. Somit wird es wohl spätestens Anfang Mai zum zweiten Mal in der Geschichte der Republik nach 1997 ein Frauenvolksbegehren geben.

Grund zum Jubeln ist das allein noch nicht. Denn irgendwie kam die Neuauflage des Frauenvolksbegehrens nie so richtig in die Gänge. Und das, obwohl der Startschuss der Kampagne vor einem Jahr beinah hellseherisch gut gewählt war. Wenige Wochen nachdem in den USA mit Donald Trump ein Präsident angelobt wurde, der damit prahlte, dass er Frauen, wenn sie ihm gefallen, auch „by the pussy“ berühre – weshalb weltweit Millionen Frauen aus Protest auf die Straße gingen. Und nur wenige Wochen bevor durch die globale #MeToo-Bewegung der Umgang von Männern und Frauen im Arbeitsleben, ausgehend von den sexuellen Übergriffen des Filmproduzenten Harvey Weinstein, zum Thema wurde und bis heute ist.

Soll heißen: Es gab vermutlich noch nie einen besseren Zeitpunkt als den jetzigen für ein weiteres Frauenvolksbegehren. Es ist längst Zeit, so lautet auch der Slogan der Initiatorinnen, Zeit für mehr Lohngerechtigkeit zwischen Männern und Frauen, Zeit für bessere, ganztägige Kinderbetreuung und mehr Frauen in Führungs- und Machtpositionen. Das ist unbestritten. Doch der Forderungskatalog des neuen Volksbegehrens schießt über ein für die Masse vertretbares Ziel hinaus. So weit, dass nicht nur die Bundesregierung, von der inhaltlich zuständigen Frauenministerin, Juliane Bogner-Strauß (ÖVP), abwärts, ihre Unterstützung verweigerte. Sondern auch viele junge, liberale Frauen, was vor allem Vertreterinnen aus dem Umfeld der Neos formulierten. Übrigens eine Parallele zum ersten Frauenvolksbegehren 1997, das zwar von der Ex-SPÖ-Frauenministerin Johanna Dohnal unterstützt wurde, nicht aber von der rot-schwarzen Bundesregierung unter Bundeskanzler Viktor Klima. Wäre doch schön gewesen, wir wären 20 Jahre später weiter.

Aber mit diesem Forderungskatalog war das fast unmöglich. Die Kritik betrifft viele Punkte im Manifest des Volksbegehrens. Den einen geht die Forderung nach einer Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden pro Woche zu weit, anderen die verpflichtende Einführung einer 50-Prozent-Frauenquote in privaten Unternehmen. Sehr vielen missfällt das Anliegen von Gratis-Verhütungsmitteln und Abtreibung auf Krankenschein, manchen schon das Verbot der Verbreitung von Geschlechter-Stereotypen in Werbung und Schulbüchern.

Erste Bedenken an den teilweise extremen Forderungen wurden schon im Juni formuliert, als genug Geld für die Kampagne gesammelt worden war. Die Initiatorinnen hätten seither Zeit genug gehabt, Bedenken auszuräumen und eine breite Bewegung loszutreten, in der über das Für und Wider der einzelnen Forderungen diskutiert wird. Das ist nur leider nicht oder zu wenig passiert.

Dabei ist die Botschaft, die vermittelt werden muss, so einfach: Es gibt keine Alternative zur Grundforderung dieses Volksbegehrens, der Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Das bedeutet gleiche Chancen für alle. Gleiches Recht auf Mitsprache und Sichtbarkeit von Frauen und Männern. Gleiches Recht auf ein selbstbestimmtes Leben. Das erreichen wir nur, wenn wir den Weg dorthin breit diskutieren und dafür dieses Volksbegehren unterstützen. Genau dazu ist ein Volksbegehren da. Oder?

Leitartikel, Die Presse, Print-Ausgabe 13. Februar 2018

Turning Wonky Economic Graphs into Chamber Music

Composers took income-inequality data as inspiration; performance Saturday at Tenri Cultural Institute.

Wall Street Journal, 18th of October 2015

When Julie Harting’s chamber composition “Too Much at the Top” is performed Saturday at the Tenri Cultural Institute in the West Village, listeners will hear instruments locked in simmering, yet stirring conflict. Throughout the piece, the flute and violin soar to higher notes and grow ever louder, while the cello lingers persistently in the lower ranges.

The contrast isn’t just about musical gymnastics. While written for the performers on a musical chart, the composition was inspired by an economic fever chart, one contrasting the growth of household incomes in the U.S.

The work, which has its premiere Saturday, is part of the fourth in a series of “Anti-Capitalist Concerts” founded by Ms. Harting and fellow composer Elizabeth Adams in 2013 as a reaction to the then-fading Occupy Wall Street movement.

The idea for the event, Ms. Harting said, came from graphs she found on the Internet, drawn from income-inequality data from economists like Emmanuel Saez and Thomas Piketty. The latter’s 2014 best-seller “Capital in the Twenty-First Century” has spurred debate on the topic.

Four of the six works being performed, which sport titles such as “Ruin is Formal” and “Order from Chaos,” took an economic chart, in part, as their starting point. All will be played by the Cadillac Moon Ensemble, a chamber quartet for flute, violin, vibraphone and cello.

While the featured composers say their works aren’t meant as literal interpretations of the macroeconomic graphs, each translates the data differently in their music.

Jeff Nichols, who teaches composition and music theory at Queens College and the City University of New York’s Graduate Center, said he chose a graph showing the extremity of income inequality both at the onset of the Great Depression and today, with an intervening period of relatively even wealth distribution.

He said he believes a well-balanced piece of music should have most of its notes in the middle, just as a well-balanced society should have most of its people in the middle class.

“My piece has a kind of crisis when all the notes are too high or too low to sing—and that crisis is resolved when most of the notes get back to the middle,” Mr. Nichols said.

Another composer, Madrid-born Inés Thiebaut, said she looked to French philosopher Jean-Jacques Rousseau and his work “The Social Contract,” a manifesto for the creation of just political communities.

Her piece, titled “Oh Rousseau, Where Art Thou,” starts with an angry discourse, articulated by the vibraphone, that slowly creeps into the rest of the instrumentation. It is a melodic expression, she said, of the wish that “the people can make their voices heard.”

While society can’t resolve its political and economic difficulties through music, said co-organizer Ms. Adams, part of the idea of the concert is to incite debate. To that end, the evening will include a discussion led by Chad Kautzer, a professor at the University of Colorado, Denver, who often speaks on topics of social and economic justice.

And even if their music can’t change economic realities, the composers say, its power to provoke emotions and personal associations might influence listeners’ hearts and minds.

Perhaps the most data-driven work on the program is Ms. Harting’s, drawn from a graph created by the Economic Policy Institute, using data generated by Messrs. Pinketty and Saez.

The data, which come from the period 1979 to 2007, show income growth for the bottom 90% staying relatively stagnant, sometimes even dropping into negative territory, before hitting 5% in the final year. The line representing the top 1% of households, meanwhile, ends up 224%.

In interpreting those numbers, Ms. Harting said, her work begins with “slow-moving musical textures rubbing against each other, suggesting the tension of class antagonisms.” As the flute and violin climb upward, the vibraphone sounds an “aggressive, alarming” note. And that less-than-active cello? It symbolizes the bottom 90%, she said: “The cello is the worker.”

In the spirit of equal access, admission to the concert is a suggested donation: “half your hourly wage” or “what you think is fair,” according to organizers.

American Times: Sechs Wochen in „Greater New York“

Episode 1. Wie der Times Square zu seinem Namen und ich zum Wall Street Journal kam und weshalb ich Rupert Murdoch für ein Mittagessen danken muss.

Seit fast drei Wochen bin ich nun in New York stationiert und darf den Newsroom des „Wall Street Journal“ meinen temporären Arbeitsplatz nennen. Well, der Newsroom ist dort mehr als ein „Room“. Er erstreckt sich nämlich über vier Stockwerke. In den Floors 4 bis 7 des ziemlich schmucklosen Wolkenkratzers auf Nummer 1211 Avenue of the Americans (oder einfacher: der 6th Avenue), in dem die News Corporation ihren Sitz hat, ist die Redaktion der 1889 gegründeten Zeitung untergebracht, die Stockwerke sind über Stiegenaufgänge miteinander verbunden. Hier sitzt der Großteil der insgesamt 1700 Journalisten, die für das „Journal“ (gesprochen: „dschörnal“) arbeiten, wie es die New Yorker salopp nennen.

Meinen sechswöchigen Arbeitsaufenthalt verbringe ich zur Hälfte in der sogenannten „Arena Section“, der täglichen Beilage, die Themen rund um Gesundheit, Wissenschaft und Kultur abdeckt. Den zweiten Teil werde ich im Ressort „Greater New York“ arbeiten. Das ist eines der jüngsten Ressorts des Blattes, gegründet 2010, um das Journal noch stärker vom Special-Interest-Blatt für Wirtschaft und Finanzen zu einer klassischen Tageszeitung zu machen, die eben – wie die größte Konkurrenz, die „New York Times“ –  auch das Stadtleben in New York abdeckt. Apropos, zwei Dinge zum Namen der Zeitung noch: Ganz korrekt schreibt man das „Wall Street Journal“ mit einem Punkt am Ende des Namens, der gehört nämlich zur Marke dazu. Fällt niemandem auf, so wird es aber auf jeder Titelseite und auch in der Onlineversion immer geschrieben. Und wer sich wundert, dass das Journal nicht, wie der Name sagt, an der Wall Street residiert, dem sei gesagt: Bis vor wenigen Jahren war das Blatt tatsächlich dort beheimatet.

It’s on Rupert, darling! 

Seit der australische Medienmogul Rupert Murdoch und seine News Corp 2007 die Mehrheitsanteile am Journal und dem Mutterkonzern Dow Jones um fünf Milliarden Dollar übernommen haben, hat sich das Blatt stark verändert. Allerdings anders, als Kritiker und Mitarbeiter erwartet oder gefürchtet hatten. Die auflagenstärkste Zeitung der USA (rund zwei Millionen Stück täglich) ist mittlerweile vor allem für New Yorker zu einer wichtigen Stadtzeitung, für manche Erst- oder Zweitlesequelle geworden. Es ist schwer begfreibar, dass in ein und demselben Konzern, die boulvardeske, teils hetzerische Zeitung „New York Post“ und ein konservatives Qualitätsblatt wie das Journal erscheinen können. (Andererseits bei Springer geht das mit „Bild“ und „Welt“ ja auch.) Als nun Papst Franziskus zu Besuch in New York war, widmete die Post diesem Ereignis nicht nur sehr viele Seiten mit sehr viel gschmackigen Reportagen, sondern benannte sich auch gleich in „New York Pope“ um. Im Redaktionsalltag des Journal spielen Murdoch und seine Skandale aus der Vergangenheit (2011 wurde die britische „News of the World“ nach einem Abhörskandal eingestellt) kaum eine Rolle. Sagen die Kollegen zumindest. Geredet wird jedenfalls nicht darüber. Nur als mich eine Kollegin aus dem Greater New York-Ressort an meinem ersten Tag auf ein Mittagessen im nahen Theater District einlud und ich mich vielleicht etwas zu überschwänglich bedankt habe, erwiderte sie trocken: „No worries, it’s on Rupert, darling.“

Ich bin nicht zum ersten Mal in der Stadt. Ein Familienbesuch hat mich schon als Fünfjährige an der Hand meiner Eltern hierher geführt, wobei meine Erinnerungen daran sehr blass sind. Zum ersten Mal länger hier war ich im Rahmen eines Austauschprogramms mit einer Schulklasse der Abraham Lincoln High School in Brooklyn. Meine prägendste Erinnerung daran ist der bullige Klassenkollege in stilechten Baggypants, der meinte, einer seiner Cousins sei RZA (oder war es GZA?) vom WU-Tang Clan. Ich hab das freilich nie geprüft, aber als glühende Rap-Anhängerin hat mich das damals sehr beeindruckt. Erstaunlicherweise kam ich trotzdem erst 13 Jahre später wieder und staunte, wie sehr sich die Stadt verändert hat. Und selbst in den vergangenen vier Jahren seit meinem letzten Besuch hat sich wieder viel bewegt. Es gibt jetzt Citybikes! In New York! Das U-Bahn-Fahren hat sich verbessert, sieht man von den schweißtreibenden Sauna-Temperaturen in manchen U-Bahn-Stationen ab. Es gibt weniger Wartezeiten, kostenloses W-Lan in vielen Stationen (zumindest in Manhattan) und selten unerträglich überfüllte Züge – nur eiswürfelkalt, das sind sie wirklich immer. Und ja, ein außergewöhnlich guter Tag in New York beginnt immer noch mit einem Sitzplatz in der U-Bahn oder zumindest mit einem Platz an einer Haltestange.

Zum Reisen gehört für mich vor allem eines: Magazine und Zeitungen kaufen – mit sehr guten, rudimentären, aber auch mit gar keinen Sprachkenntnissen. Seit der Digitalisierung der Medien und weltweit abrufbarer Abos auf Tablets und Smartphones hat das zwar ein bisschen seinen Reiz verloren. Den „New Yorker“ oder das „New York Magazine“ lese ich aber noch immer lieber auf Papier. Umso mehr fällt mir auf, wie sehr die Zeitungen aus dem Stadtbild verschwunden sind. Gratisblätter spielen in New York faktisch keine Rolle mehr, zumindest sieht man sie nicht. Und die „Newsstands“, also die Zeitungskiose, sehen irgendwie anders aus. Sie sind nicht nur viel weniger geworden, auch die Ware, die ihnen den Namen gab, macht meist nur mehr einen sehr kleinen Teil ihres Sortiments aus. Der Newsstand ist nicht mehr dazu da, Zeitungen und Magazine zu verkaufen, sondern Getränke, Snacks und Lottoscheine. Der moderne Newsstand, das sind die sozialen Netzwerke und Newsletter, in denen Medien ihre neuesten Geschichten anpreisen.

Wie der Times Square zu seinem Namen kam

New York, das ist längst so viel mehr als Central Park, Rockefeller Center und Empire State Buildung. Es soll Besucher geben, die die klassischen touristischen Attraktionen völlig auslassen und sich stattdessen nur in den Boutiquen und Cafés der gentrifizierten Stadtteile Manhattans, wie dem Meatpacking District oder Brooklyns, wie Williamsburg und Greenpoint aufhalten. Gegen diese blitzblank herausgeputzten Gässchen mit ihren Hochglanzvitrinen und ihren Filter-Kaffee-Tempeln wirkt ein Besuch am Times Square wie eine Zeitreise in die bodenständigen 90iger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Flagshipsstores, Restaurants (etwa der Bubba-Gump-Shrimp-Laden, richtig, der aus „Forrest Gump“) und Theater haben sich kaum verändert, nur die verkehrsberuhigten Fußgängerzonen und die schon erwähnten Citybike-Stationen zeigen, dass sich doch ein bisschen etwas getan hat. Trotzdem ist der Times Square laut diverser schlauer Statistiken immer noch die meist besuchte globale Touristenattraktion. An zweiter Stelle kommt angeblich der Central Park.

Erst dieser Tage wurde mir also bewusst: Die größte Touristenattraktion der Welt ist nach einer Zeitung benannt. Den Platz gab es freilich lange davor, aber als Verleger Adolph S. Ochs das Hauptquartier seiner „New York Times“ 1904 hier ansiedelte, erhielt der Ort, der damals unaussprechlich „Longacre Square“ hieß, seinen heutigen Namen. Die Übersiedelung hatte übrigens einen einfachen Grund: Ochs sah Manhattans erste U-Bahn als Chance, die Times erhielt sogar ihre eigene U-Bahn-Station, um die Zeitungen frisch gedruckt in der Stadt zu verteilen und so schneller als die Konkurrenz an die Leser zu bringen. Auch die bis heute gültige Tradition, den Jahreswechsel an diesem Platz zu feiern, geht auf die „Times“ zurück: Um die Übersiedlung zu feiern, schmiss die Zeitung eine Silvesterparty auf dem Dach ihres Büros und 200.000 Menschen kamen, um auf der Straße das große Feuerwerk zu bestaunen. Der glitzernde Zeitball, der jedes Jahr den genauen Jahreswechsel anzeigt, kam dann 1908 zum ersten Mal zum Einsatz.

Die Newsstands der Stadt mögen weniger werden, aber der wichtigste Platz in dieser Metropole heißt noch immer nach einer Zeitung. Schön irgendwie.

Lesetipps:

>> New York: Wer mal etwas anderes als immer nur Lonely Planet oder den DuMont Kunstreiseführer lesen will, dem sei beim nächsten NY-Besuch dieses schlaue Büchlein ans Herz gelegt: „I Never Knew That About New York“ von Christopher Winn (2013). Nachteil: es geht nur um Manhatten, Brooklyn, Bronx und Staten Island werden nicht erwähnt.

>> „The Heirs“ von Gabriel Sherman, New York Magazine, 23. August 2015: Sehr ausführliche Analyse, welcher Erbe aus den Familien Ochs und Sulzberger neuer Herausgeber der „New York Times“ werden könnte?

>> TV-Tipp für alle Medien-Interessierten: „Page One“, die filmische Innenansicht in die krisengebeutelte „New York Times“ im Jahr 2011.

 

Compliance-Hinweis: Meinen Aufenthalt in den USA ermöglicht das US-Austrian Journalism Exchange Fellowship 2015. Organisiert und finanziert wird das seit bald zehn Jahren vom Kuratorium für Journalismus in Österreich und dem International Center for Journalists in Washington, D.C. Das Stipendium erlaubt mir und drei Kollegen, nach einer einwöchigen Orientierungswoche in Washington und New York, sechs Wochen bei einem US-amerikanischen oder österreichischen Medium zu arbeiten. Während ich im „Wall Street Journal“ staune und lerne, werkt Thomas Trescher vom Monatsmagazin „Datum“ bei der Wochenzeitung „Austin Chronicle“ und Nina Hochrainer von FM4 beim Radiosender KUT, beide in Austin, Texas. Unser amerikanisches Gegenüber, die Journalistin Nikki Raz ist in der Zwischenzeit bei der NZZ.at in Wien.

Die Flüchtlinge und wir: Die neue Art der Hilfsbereitschaft

Wohnung bereitstellen, Deutsch beibringen, Kleidung sammeln. Die Flüchtlingskrise animiert viele Privatpersonen, sehr konkret Hilfe zu leisen. Das zeigt, wie sehr sich Freiwilligenarbeit verändert. Auch dank sozialer Netzwerke und wegen der Politik-Trägheit.

Eine deutsche Journalistin er zählt auf Facebook von ei ner ungewöhnlichen Taxi fahrt: Bepackt mit Säcken voller Windeln und Babysachen war sie auf dem Weg zu einem Berliner Flüchtlingsheim. Als sie beim Aussteigen zahlen wollte, fragte der Taxifahrer: „Sind das alles Spenden?“ Nachdem sie bejahte, erwiderte er: „Dann bezahlen Sie nichts.“ Anekdoten wie diese fallen noch immer auf, weil sie noch immer nicht selbstverständlich sind. Dennoch sind sie auch Zeichen für die zunehmende Welle der Solidarität mit den tausenden in Österreich, Deutschland und Ungarn gestrandeten Menschen aus Kriegsgebieten wie Syrien.

So kennt nun beinah jeder jemanden, der in der aktuellen Flüchtlings krise nicht mehr zusehen oder ein bisschen Geld spenden, sondern selbst aktiv werden will. Viele Privatpersonen sind in den vergangenen Wochen regelmäßig mit Kleidung, Toiletteartikeln oder Obst in das bis vor wenigen Tagen völlig überfüllte, unterversorgte Erstaufnahmezentrum in Traiskirchen gefahren. Zuvor hatten sie in ihrem Freundeskreis nach Sachspenden gefragt oder darum gebeten, auf eigene Kosten Deutschunterlagen auszudrucken. Manche stellen leer stehende Wohnungen für Flüchtlingsfamilien bereit oder verbringen Zeit mit einer Familie, andere veranstalten regelmäßig ein Begegnungs-Picknick im Prater, wieder andere organisieren einen Nachmittag für jugendliche Flüchtlinge in Wien. Unternehmen rufen zu Sammelaktio
nen auf. Nicht wenige Helfer tun dies auch öffentlich kund, das soziale Medium Facebook ist beliebte und geeignete Plattform dafür. Dort kann man nicht nur auf die Eigeninitiative aufmerksam machen und die eigene Hilfsgeschichte mit Bildern inszenieren (Motto: „Mein Flüchtling und ich“), sondern auch andere zur Mithilfe, zum Spenden animieren.

Die Hilfsbereitschaft wird so sichtbar – und sie verändert sich. Sie ist viel individueller und unmittelbarer geworden. Während man bei den Balkankriegen vor 20 Jahren vorwiegend mittels Geldspenden bei „Nachbar in Not“ half, wird heute mit ganz konkreten Dingen geholfen und direkt Kontakt mit Betroffenen gesucht. Die aktuelle Krise hat auch eine schöne Seite: sie zeigt eine wachsende Zivilgesellschaft, die sich engagieren will.

Einerseits hat das Versagen der Politik – vor allem in Traiskirchen – viele Menschen wütend gemacht und zum Handeln animiert. „Man traut dem Staat die konkrete Hilfe gar nicht mehr zu“, sagt Michael Walk, der Organisator der Wiener Freiwilligenmesse, die demnächst zum vierten Mal stattfindet. Zudem ist das Leid durch neue Medien viel unmittelbarer sichtbar als früher. Die bereits erwähnten sozialen Netzwerke sind nicht nur Mittel, um leichter miteinander in Kontakt zu treten, Hilfe zu organisieren oder sich in täglichen Dosen zu empören, sondern dort wird auch ein Klein-Wettbewerb im Helfen geführt. Offizielle Institutionen haben sich bisher mit groß angelegten Aktionen deutlich zurückgehalten. Das mag an den Sommerferien oder an der bevorstehenden Wien-Wahl gelegen sein, die die Parteien lähmt.

Erst jetzt laufen langsam größere Aktionen an. „Helfen. Wie wir.“, die Hilfsplattform des ORF soll im September starten. Morgen, Montag findet in der Wiener Innenstadt eine Groß-Demo unter dem Motto „Mensch sein in Österreich“ statt, am 3. Oktober lädt die Plattform für eine menschliche Asylpolitik zu einer ebensolchen.

Manchmal nur gut gemeint statt gut.

Michael Walk beobachtet die aktuelle Flüchtlingshilfe als Kenner der Freiwilligen-Szene sehr genau. Die Hilfsbereitschaft freut ihn, aber er hat auch einige Beobachtungen gemacht. In Österreich spielt Freiwilligenarbeit eine große Rolle. Vier Millionen Menschen helfen anderen unentgeltlich, ungefähr zur Hälfte innerhalb der Familie oder Nachbarschaft (informelle Freiwilligenarbeit), zur Hälfte in Vereinen und Institutionen (formelle Freiwilligenarbeit) – von der Freiwilligen Feuerwehr bis zur Altenpflege.

Aber Walk sieht massive Herausforderungen auf den Sektor zukommen: „Freiwilligenarbeit muss man sich leisten können“, sagt er. Bei steigender Arbeitslosigkeit und sinkendem Lohnniveau wird die Gruppe derer, die sich unentgeltliches Engagement leisten kann und will, immer kleiner. Auch sei es heute schwerer, Studenten für freiwillige Auslandseinsätze, etwa organisiert vom Österreichischen Bauorden, zu gewinnen, weil diese im Studium keine Zeit verlieren wollen.

Zudem würden die Helfer immer älter, weil es immer mehr aktive Senioren gibt. „Langfristig kann das aber ins Negative umschlagen, weil Vereine überaltern.“ In der aktuellen Flüchtlingskrise sieht er die vielen privaten Initiativen zwar positiv, manche Aktionen seien aber eher „gut gemeint als gut“. Er wünscht sich daher eine „stärkere Koordinierung der vielen individuellen Hilfsaktionen“. Er kenne viele „Projekte, die sich um Flüchtlinge kümmern, die gerade vor Helfern untergehen – aber dann gibt es andere, die dringend Helfer benötigen würden.“

Freiwillige werden mehr. Auch Petra Mühlberger von der Caritas beobachtet schon seit Längerem, dass das freiwillige Engagement im Land zunimmt. So waren etwa im Jahr 2014 insgesamt 300 Freiwillige im Asylbereich im Einsatz, 2015 sind es schon 500. (Zum Vergleich: Insgesamt 2200 Menschen helfen freiwillig in Caritas-Einrichtungen). Seit mehr als acht Wochen steht zudem der Omni.Bus vor dem Erstaufnahmezentrum Traiskirchen. „Gemeinsam mit knapp 1000 freiwilligen Helfern, die geschlichtet und sortiert haben, konnten wir seit Anfang Juli bei 40 Spendenausgaben an je 300 Menschen insgesamt rund 12.000 Spendenpakete verteilen“, sagt Martin Gantner, Pressesprecher der Caritas. Aber auch die Caritas bittet Helfer angesichts der Spendenmasse sich genau zu erkundigen, was konkret gebraucht wird. Sachspenden etwa können derzeit gar nicht mehr angenommen werden, weil das Spendenlager übergeht.

An konkreter Hilfe – egal, ob Zeit, Wohnraum oder Sprachkurse – wird es hingegen noch länger mangeln.

 

 

Zusammen hilft man besser als allein

Elf Wienerinnen bieten Hanaa, Abd und Zain Hamid aus Syrien ein neues Zuhause in Wien.

Vor ein paar Tagen ist er kollabiert. Plötzlich war Abd Hamid in seiner neuen Wiener Bleibe zusammengesackt. Seine Magenschmerzen waren zu stark geworden – er hatte sie bei seinen Gastgebern lange nicht erwähnt, weil er keine Umstände machen wollte. Aber Ehefrau Hanaa wusste, was zu tun war: Sie rief ihre Helferinnen an. Die hatten nach einer kurzen Beratung in ihrer WhatsApp-Gruppe und einigen Telefonaten erstaunlich rasch einen Arzt aufgetrieben, der den unversicherten Abd unentgeltlich behandelte. Am selben Tag kehrte er wieder nach Hause zurück und erholt sich seither langsam.

Elf Wienerinnen sind es insgesamt, die sich seit Kurzem gemeinsam um die Hamids kümmern (siehe großes Bild). Die elf sind Freundinnen seit den Kindergartentagen ihrer mittlerweile halbwüchsigen Kinder. Darunter etwa die Volksschullehrerin Doris Kucera, die Gastronomin Barbara Stöckl (nicht die Moderatorin), die Verlegerin Sibylle Hamtil, die Freizeitpädagogin Larissa Mayer und Sabine Klein, Sprecherin einer NGO. Immer wieder tauschten sie sich über die Entwicklungen in der aktuellen Flüchtlingskrise aus. „Am letzten Schultag standen wir zusammen und haben uns gedacht, dass man irgendwie helfen sollte“, erzählt Doris Kucera. Weil eine der Frauen eine kleine, freie Wohnung in der Gegend besitzt, entstand die Idee, dort eine Familie unterzubringen. Sie meldeten sich also Anfang August bei der Diakonie und noch am gleichen Tag lernten sie die Hamids kennen.

Freundschaft entsteht. Für Hanaa und Abd Hamid, beide 26, und ihren kleinen Sohn Zain ist es mehr als ein sicheres, sauberes Zuhause. Zwischen ihnen und den Helferinnen gab es sofort eine Verbindung. Hanaa ist eine schlanke, junge Frau mit hellen Strähnen im dunklen, langen Haar, wachen, funkelnden Augen und einem gewinnenden Lächeln. Sie spricht inzwischen so gut Englisch, dass man sich mit ihr unterhalten kann, und kann schon einige Worte auf Deutsch sagen.

Hanaa kommt aus der syrischen Küstenstadt Latakia, ihr Mann aus Aleppo. Sie war in ihrer Heimat als Buchhalterin tätig, er arbeitete nach dem Militärdienst als Verkäufer. Weil sie weder mit Assads Regime noch mit den Machthabern des Islamischen Staates (IS) kooperieren wollten, beschlossen sie zu fliehen. Ehemann Abd ging voraus in die Türkei, Hanaa kam kurz darauf nach. Da war ihr Sohn Zain nur wenige Tage alt. Heute geht der 17 Monate alte Bub mit den gelockten Haaren schon allein, wenn auch manchmal noch recht wackelig, und spricht erste Worte. Mehr als 50 Tage war die Familie zu Fuß von Griechenland nach Österreich unterwegs. „Die Schlepper sagten uns nicht, wo wir landen werden, ob Deutschland oder Schweden“, sagt Hanaa. Anfang Juli erreichten sie schließlich Österreich und das Auffanglager in Traiskirchen. Dort schliefen sie zunächst alle im Freien, ehe Hanaa und Zain mit 30 anderen in einem Raum schlafen konnten. Weil alle drei und vor allem der kleine Zain so krank waren, konnten sie das Lager verlassen und trafen schließlich auf die elf Helferinnen. „Ich bin so froh, dass ich diese großzügigen Frauen getroffen habe“, sagt Hanaa und lächelt.

Nach dem Einzug der Hamids übernahm jede der Freundinnen etwas anderes. Die einen kauften Möbel, die anderen halfen beim Aufbauen, andere begleiten die Familie bei Arztbesuchen oder zeigen ihr die neue Gegend und sprechen Deutsch mit ihr. Der Asylantrag läuft für die drei. Ihr oberstes Ziel ist: so schnell wie möglich Deutsch lernen.

Die Helferinnen erzählen, dass es von Vorteil ist, eine so große Gruppe zu sein: „Zusammen können wir das packen. Da traut man sich mehr zu. Allein ist das fast nicht vorstellbar,“ sagt Doris Kucera. Natürlich seien auch Kommunikationsmittel wie WhatsApp von Vorteil. „Manches geht dann ein bisschen schneller“, erzählt Sabine Klein. Auch im Bekannten- und Freundeskreis holen sie sich Hilfe. Die Reaktionen in ihrem Umfeld seien ganz verschieden. Von der unaufgeforderten 500-Euro-Spende im Kuvert bis zu blöden Sprüchen über „Machen wir jetzt auf Gutmensch“ sei alles darunter. Derzeit suchen sie für eine andere junge Syrerin und deren dreijähriges Kind, die Hanaa aus Traiskirchen kennt, eine kleine Wohnung innerhalb des Gürtels.

 

Die Presse am Sonntag, 29. August 2015