Die Elternzeit als Einstiegsdroge für den Mann

Die Väterbeteiligung liegt in Deutschland bei 30, in Island bei unglaublichen 96 Prozent.

Die Elternzeit sei eine „geniale Erfindung“, schrieb Journalist Jakob Schrenk vergangenes Wochenende in der „Süddeutschen Zeitung“. „Sie dient als Einstiegsdroge. Männer fremdeln nicht mehr mit ihren Babys, wie das in den Jahrhunderten zuvor der Fall war.“ Jakob Schrenk hatte genug von dem ewigen Jammern über den modernen Mann, darum wollte er zur Abwechslung einmal die Männer loben.

Die Frauen wären immer noch so streng mit den Männern, dabei würden seine Freunde und Kollegen sicher nicht von einer Existenz als Alleinverdiener und wandelnder Kreditkarte träumen. „Stattdessen tragen sie die Babykotzeflecken auf dem Hemd so selbstverständlich wie eine Krawatte […] und brechen nachmittags um halb fünf Richtung Kindergarten auf.“ Man kann Schrenks Schilderungen als verklärte Sicht eines Kreativberuflers auf den Alltag in bundesdeutschen Großstädten abtun, oder aber man sieht anerkennend, dass die jüngste Neuregelung der Elternzeit in Deutschland etwas bewegt hat. Immerhin 30 Prozent aller Väter nehmen heute Elternzeit. Noch bis zum Jahr 2006 blieb laut Schrenk so gut wie kein Vater nach der Geburt seines Kindes zu Hause. Viel sei passiert seit dem Jahr 1985 und dem Kinofilm „Drei Männer und ein Baby“ – als es noch exotisch-absurd war, wenn Männer auf ihre Kinder aufpassten. In der Komödie „Mrs. Doubfire“ musste sich Familienvater Robin Williams nach der Scheidung sogar noch Frauenkleider anziehen, um mehr Zeit mit seinen Kindern zu verbringen.

Deutschland ist Österreich also eine Spur voraus, dabei sind die Kinderbetreuungsmodelle sehr ähnlich. Hierzulande gehen erst rund 17 Prozent aller Väter in Elternzeit (siehe oben). Als Musterschüler in Sachen Gleichberechtigung gelten nach wie vor die nordeuropäischen Länder. Ein besonders gutes Babybetreuungsmodell existiert in Island. Es folgt der Drei-plus-drei-plus-drei-Logik. Zuerst geht die Mutter drei Monate, dann der Vater, danach wieder die Mutter in Elternzeit. Die Väterbeteiligung liegt dort bei unfassbaren 96,3 Prozent (2009). Für Sonja Blum vom Institut für Familienforschung zeigt das: „Väter nehmen immer in Anspruch, was für sie exklusiv reserviert ist.“ Zudem wird die Karenz in Island gut bezahlt, der Einkommensersatz beträgt 80Prozent des Durchschnittseinkommens vor der Geburt (Obergrenze: 2180Euro/Monat). Derzeit wird in Island die Ausweitung des Models auf fünf plus fünf plus zwei (also zwölf Monate) bis 2016 diskutiert. Damit würden Frauen zwar insgesamt nur einen Monat länger zu Hause sein, der Mann aber zwei Monate mehr. Österreichs Familienpolitik kann sich bei Island noch einiges abschauen.

Fakten

In Island liegt die Väterbeteiligung innerhalb des ersten Lebensjahres des Kindes bei 96 Prozent.

In Deutschland gehen 30 Prozent aller Väter in Elternzeit. 

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 03.08.2014)

Vaterschaft – die Rolle meines Lebens

Christian Goriupp, Foto: Clemens Fabry

Väter in (langer) Elternzeit sind immer noch in der Minderheit. Doch langsam bewegt sich etwas bei der Väterkarenz: 17 Prozent von Österreichs Vätern beziehen derzeit Kinderbetreuungsgeld.

Christian Goriupp, Foto: Clemens Fabry
Christian Goriupp, Foto: Clemens Fabry

Leben und Tod lagen bei Christian Goriupp nah beieinander. Ein Jahr, nachdem seine Tochter Anna zur Welt kam, starb sein Vater, was seine Einstellung zur Vaterschaft entscheidend veränderte. 

Das Verhältnis zu seinem alten Herren, erzählt er, sei zwar gut gewesen, „zu gut vielleicht sogar“, dennoch fehlte ihm etwas. „Ich hatte dieses Bild von einem alten Cowboy im Kopf, der dem jungen Cowboy etwas weitergibt. Aber mein Vater hat mir nichts Greifbares mitgegeben“, erzählt er. In Karenz gehen und auf seine Tochter aufpassen, das wollte Goriupp schon vor ihrer Geburt, doch erst durch den Tod des eigenen Vaters begann sich der heute 35-Jährige intensiver mit seiner eigenen Rolle als Vater auseinanderzusetzen.

Weil sein Arbeitgeber, ein Versicherungskonzern, seinen Wunsch, vier Monate in Karenz zu gehen, nicht akzeptierte, verlor Goriupp seinen Job. Seine Tochter Anna betreute er dann weit über die gesetzliche Kinderbetreuungszeit hinaus, insgesamt eineinhalb Jahre. Bis heute sei er für seine Tochter Anna eine gleichwertige Bezugsperson wie seine Frau. „Ich hatte immer gleich viel Zeit für sie wie meine Frau.“ Erst bei den Freunden seiner Tochter habe er gemerkt, dass die Betreuungszeit in vielen Familien immer noch 80 zu 20 zwischen Mutter und Vater aufgeteilt ist. Und Goriupp erinnert sich noch, dass er damals in der Grazer Vorstadt als Vater in langer Karenz eine Rarität war. Ob beim Zwergerltreff oder im Babyschwimmen – er war so gut wie immer der einzige Mann.

Use-or-lose. Ganz allein wäre Goriupp am Spielplatz heute nicht mehr. Seit 2010 bewegt sich etwas bei der Babybetreuung von Vätern. Die Zahlen aus dem Februar 2014 besagen, dass zuletzt 17 Prozent aller Väter Kinderbetreuungsgeld bezogen haben. Die Einführung des einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeldes 2010 bringt langsam sichtbare Veränderungen. (Zur Erinnerung: Derzeit gibt es fünf Kinderbetreuungsmodelle, bei der sich die Eltern die Zeit aufteilen können: 30+6, 20+4, 15+3, 12+2 pauschal und 12+2 einkommensabhängig mit max. 2.000 Euro netto). Arbeitnehmer in Kreativberufen, etwa im Journalismus, oder im öffentlichen Dienst, gehen immer häufiger zwei Monate in Karenz. Für Sonja Blum vom Institut für Familienforschung zeigt sich: „Väter nehmen die Zeiten, die exklusiv für sie reserviert sind, stärker in Anspruch.“ Sich aber individuell eine längere Kinderbetreuungszeit zu nehmen, das würden immer noch sehr wenige. Sie plädiert wie viele Familien- und Väterexperten für die Einführung eines Use-it-or-lose-it-Modells. Wenn der Vater die für ihn gesetzlich vorgesehene Zeit nicht in Anspruch nimmt, verfällt das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld.

Auch für Christian Pecharda wäre es in seiner Position als Chef einer Abteilung im mittleren Management eher schwierig gewesen, sechs Monate oder länger in Karenz zu gehen. Dass er aber nach dem Karenzjahr seiner Frau zwei Monate auf seine Tochter Teresa aufpassen würde, stand für ihn schon früh fest. Er sei „fertig, aber glücklich“ nach den acht Wochen Karenz, postete er vergangenen Donnerstag am Ende seiner Väterzeit auf Facebook. Die Karenz hat ihn zwei Dinge gelehrt: Er habe bemerken müssen, dass es „offensichtlich noch immer nicht selbstverständlich ist, dass Väter in Karenz gehen“. In seinem privaten Umfeld kenne er nicht viele Männer, die es wie er gemacht haben. Anders sei das in seinem Arbeitsumfeld, wo vor ihm schon einige Männer zu Hause geblieben sind. In der Wiener Vorstadt war er im Sommer 2014 zwar deutlich seltener der einzige Mann unter vielen Frauen am Spielplatz als Goriupp in Graz vor vier Jahren, dennoch bekam er vereinzelt ungläubige Fragen zu hören, wie „Wie machst du das mit dem Kochen?“ oder „Du wickelst?“.

Erkenntnis zwei: Abgesehen davon, dass Pecharda die Zeit mit seiner Tochter genossen und vom vielen Nachkrabbeln zwei Kilo abgenommen hat, hat er heute noch weniger Verständnis für Väter, die behaupten, eine Karenz ginge sich finanziell oder aus Karrieregründen nicht aus. Wenn beide Seiten wollen – also Arbeitgeber und Mann – dann funktioniere das. „Dass nicht jeder sechs Monate gehen kann, ist verständlich, aber bei zwei Monaten geht es nicht um können, sondern um wollen.“

Auch für die Partnerschaft bringe die Väterkarenz Vorteile: „Es tut beiden gut, die andere Seite kennenzulernen. Mir ist aufgefallen, dass in den vergangenen zwölf Monaten die wirkliche Arbeit die Karenz war, weil sie sieben Tage die Woche rund um die Uhr dauert.“ Umgekehrt sei seiner Frau bewusst geworden, wie sehr dem arbeitenden Teil die Zeit mit dem Kind fehlt.

Blinder Fleck Vaterschaft. Für Christian Goriupp begann mit seiner Karenzzeit ein völlig neuer Lebensabschnitt. Auf der Suche nach Studien zum Thema entdeckte er, „dass die Vaterschaft immer noch ein blinder Fleck ist“. Daher begann er selbst im Grazer Kindercafé Workshops für junge Väter anzubieten. „Die zu Beginn gar nicht angenommen wurden.“ Schließlich kam ihm die Idee, einen Dokumentarfilm zu machen, der nun im Oktober in die Kinos kommt. Für „Die Rolle meines Lebens“ begleitete er einen Vater schon während der Schwangerschaft seiner Frau bis über die Geburt hinaus. In Gesprächen mit einer Hebamme, einem Sozialarbeiter, einem Tagesvater, dem Theologen Paul Zulehner, dem Grazer Landesrat Michael Schickhofer und dem Väterforscher Harald Werneck wird diese filmische Studie zur Vaterschaft abgerundet. Ganz bewusst ließ Goriupp seine eigene Geschichte nicht in den Film einfließen. Was ihm ein besonderes Anliegen ist: Unternehmen darüber aufzuklären, wie sehr sie davon profitieren, wenn Männer in Karenz gehen. „Es hat sich noch nicht weit verbreitet, dass danach frischere Männer mit neuen Eindrücken zurückkehren.“

Papamonat wäre wichtig. Was rund um die Väterkarenz-Frage auch gern vergessen wird, ist die Zeit direkt nach der Geburt. Goriupp und Pecharda plädieren beide für die Einführung des Papamonats. Im öffentlichen Dienst wurde der zwar 2011 eingeführt (bis Ende 2013 haben ihn 13 Prozent aller Väter in Anspruch genommen), doch auf eine flächendeckende Einführung auch in der Privatwirtschaft konnte sich die Bundesregierung bisher noch nicht einigen. „Gerade im ersten Lebensmonat ist es wichtig, dass du zu Hause bist. Allein schon zur Unterstützung der Frau, zum Einkaufen gehen und für die Behördengänge. Aber auch, um beim Kind zu sein und mitzubekommen, wie alles geht, wie das mit dem Stillen funktioniert“, sagt Pecharda. Bestärkt werden die beiden Väter durch eine aktuelle EU-weite Studie im Auftrag der EU-Kommission. Demnach gibt es in ganz Europa ein steigendes Interesse der Männer an Gleichstellung und damit auch an der Kindererziehung. Daher wird derzeit überlegt, einen sogenannten Vaterschutz – nach dem Vorbild des Mutterschutzes – einzuführen. Männern soll dabei verboten werden, direkt nach der Geburt ihres Kindes zu arbeiten. Ein Modell, das in Portugal bereits existiert: Väter müssen innerhalb des ersten Monats nach der Geburt ihres Kindes zehn Tage – und können 20 Tage – zu Hause bleiben.

Auch in Literatur und Forschung wird der Blick immer häufiger auf die Väter gelenkt. Autoren wie der Familientherapeut Jesper Juul haben das populärwissenschaftliche Feld mit Büchern wie „Mann und Vater sein“ geebnet. Ein Wiener Forscherteam analysiert zudem seit Kurzem die Vaterschaft. Psychologin Lieselotte Ahnert vom Institut für Angewandte Psychologie an der Uni Wien leitet seit 2013 mit dem neu gegründeten Central European Network on Fatherhood eine groß angelegte Studie. Die Zeit sei reif dafür, weil die modernen Väter sich in einer Aufbruchstimmung befinden würden, sagt sie. „Doch auf wissenschaftlicher Ebene wissen wir fast nichts über Möglichkeiten und Effekte dieses Aufbruchs.“ Bis Februar 2016 will man mit Hilfe von 3700 Männern mehr über die Motive und Ziele der Väter im Zusammenleben mit ihren Kindern herausfinden. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass sich bis dahin die Zahl der Vaterkarenzgeher noch mal erhöht.

Mehr zum Film: www.dierollemeineslebens.at

(„Die Presse am Sonntag“, Print-Ausgabe, 03.08.2014)

Eizellkönigin oder nicht?

Selbstversuch: Der Ferticheck ist einfach, tut nicht weh, aber eine Garantie für spätere Schwangerschaft ist er nicht.

Man soll ja nie sagen, man wisse schon alles über den eigenen Körper. Das Erste, was ich also lerne, ist, dass ich – wie jede andere Frau – seit meiner Geburt eine bestimmte Anzahl an Eizellen in mir trage. 100.000 bis 300.000 Stück. Und die werden von Monat zu Monat, von Eisprung zu Eisprung weniger. Dank des zwar nicht neuen, aber in Österreich noch eher unbekannten Fertichecks kann jede Frau abklären, wie ihr Eizellstatus aussieht. Das erinnert mich an Jess aus der Serie „New Girl“. In der Folge „Eggs“ macht sie diesen Test und nennt sich danach dank ihrer Bestwerte stolz „Eierkönigin“.

Auch ich bin in der Zielgruppe für diesen Test: Anfang 30, mit klarem Kinderwunsch, dennoch will ich mir zur Sortierung von Beruf und Privatleben noch ein paar Jahre mit der Familiengründung Zeit lassen. Der Test könnte mir sagen, ob ich diese Zeit überhaupt noch habe oder ob ich besser schon übermorgen versuchen sollte, schwanger zu werden. Freundinnen sind skeptisch: „Und was machst du, wenn nicht alles in Ordnung ist?“, fragen sie.

Darüber mache ich mir vorerst keine Gedanken. Erst als ich im Labor zur Blutabnahme sitze, wird mir mulmig. Zufall oder nicht: An diesem Morgen zähle ich 15 (sichtbar) schwangere Frauen im Wartezimmer. Zehn Tage später, Termin beim Arzt: Östrogen, Prolaktin, Testosteron – meine Hormonwerte liegen völlig in der Norm. Dennoch zeigt sich mein Alter schon, der Wert des Anti-Müller-Hormons (das Rückschluss auf die vorhandenen Eizellen gibt) liegt nur mehr bei fünf. Der Maximalwert (bis unter 30) ist sieben, eine Frau mit 40 erreicht gerade noch zwei. Der Arzt beruhigt mich, meine Werte sind für mein Alter ideal, auch der Eierstockultraschall ist in Ordnung.

Ein schneller Test und dann? Ich weiß jetzt, dass ich noch nicht im frühzeitigen Wechsel bin, mein „Eierdepot“ noch gut gefüllt ist. Doch viele andere mögliche Fehlerquellen können nicht eliminiert werden. Eine kleine Beruhigung ist der Test, auch eine Bewusstseinsbildung für das Thema Fertilität, doch er kann nie, nie, nie Garantie für eine spätere Schwangerschaft sein.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 20.07.2014)

Ein Crashtest für die Fruchtbarkeit

Ein Wiener Kinderwunschzentrum will die Öffentlichkeit auf die sinkende Fertilität von Frauen ab 40 aufmerksam machen. Mit dem „Ferticheck“ könnten Frauen schon in jungen Jahren ihre Fruchtbarkeit abklären.

Claudia Hermann und Martin Sommer sind aufgeregt, aber guter Dinge. Im Oktober werden die beiden Lehrer Eltern, der gewölbte Bauch ist auch schon unter der weiten Sommerbluse erkennbar. Vor exakt einem Jahr waren sie das erste Mal im Wiener Kinderwunschzentrum Goldenes Kreuz bei einem Infoabend. Erleichtert seien sie gewesen, erzählt Hermann, „dass es auch noch andere junge Menschen gibt, die Schwierigkeiten haben, schwanger zu werden.“ Denn Hermann ist 33 und damit für die Fortpflanzungsmedizin noch sehr jung. Trotzdem hat es aufgrund einer organischen Ursache nicht mit dem Kinderwunsch geklappt. „Auf natürlichem Weg ist bei uns eine Schwangerschaft nicht mehr möglich, also mussten wir es künstlich probieren“, erzählt Martin Sommer. Im Herbst folgte der erste Versuch einer In-vitro-Fertilisation. Ein „Riesenprozedere“, vor allem emotional rollte an: Notarielle Beglaubigung organisieren (für nicht verheiratete Paare verpflichtend), Hormone spritzen, somit Eizellen stimulieren, Ultraschall machen, Samenspende, Eizellenpunktion. „Dazwischen heißt es immer warten, aufs Ergebnis und darauf, ob der nächste Schritt überhaupt gemacht werden kann“, erinnert sich Claudia Hermann. Die nervenaufreibendste Wartezeit ist die zwischen dem Einsetzen der Eizelle und dem Anruf, ob der Körper die befruchtete Eizelle angenommen hat, das heißt, ob man schwanger ist. Bei ihnen brachte der Anruf im Herbst keine guten Nachrichten: Es hat nicht geklappt.

Sinkende Geburtenrate stoppen. So wie dem Lehrerpaar Hermann/Sommer ergeht es jährlich tausenden Paaren in Österreich. Laut Statistik Austria versuchen bis zu 30 Prozent aller Paare länger als zwölf Monate, schwanger zu werden. Dabei hat die zunehmende Infertilität nicht nur mit dem Altersanstieg der Mütter, sondern auch mit steigenden Einflüssen der veränderten Umwelt und einem ungesunden Lebensstil (Stress, Nikotin, mangelnde Bewegung) zu tun. Die Reproduktionsmediziner Andreas Obruca und Heinz Strohmer helfen in ihrem Kinderwunschzentrum Goldenes Kreuz jener wachsenden Gruppe an Menschen mit unerfülltem Kinderwunsch. Zuletzt haben sie eine enorme Altersverschiebung unter ihren Patienten bemerkt – so hat sich in zehn Jahren das Durchschnittsalter ihrer Patientinnen um zwei Jahre auf 36,5 verschoben.

Was die Reproduktionsmediziner aber besonders verblüfft, ist das fehlende Wissen in der Bevölkerung über den Zusammenhang zwischen dem Lebensalter der Frau (und zum Teil auch des Mannes) und der Möglichkeit einer Schwangerschaft. Durch Medienberichte würde immer noch der Eindruck entstehen, es sei spielend leicht, auch nach dem 40. Lebensjahr schnell schwanger zu werden. „Tatsächlich gibt es einen Abfall der Fertilität, der dramatisch mit 38 beginnt, und mit 42 flacht die Fertilitätskurve noch einmal sehr stark ab“, sagt der Obruca.

Kampagne und Ferticheck

Er und sein Kollege haben nun eine Idee, wie man der sinkenden Geburtenrate entgegenwirken könnte: Sie wollen ein Bewusstsein für die fallende Fertilität schaffen und dafür die Politik ins Boot holen. In einem Informationsbrief an die Ministerien für Gesundheit, Frauen (beide SP) und Familie (VP) haben sie ihre Ideen formuliert: Mit einer Kampagne könnte darauf aufmerksam gemacht werden, dass es nicht selbstverständlich ist, dass Frauen in jedem Alter ein Kind bekommen. Zusätzlich weisen die Ärzte auf eine einfache Untersuchung hin, mit der man den Fruchtbarkeitsstatus der Frau messen kann. „Diese Untersuchung ist nicht völlig neu“, sagt Obruca. Jeder Gynäkologe könne sie heute bereits durchführen, doch sei sie unter niedergelassenen Ärzten und in der Bevölkerung noch zu wenig bekannt.

Der sogenannte Ferticheck umfasst einerseits eine Blutuntersuchung, bei der die Hormone im Blut – darunter das Anti-Müller-Hormon und das follikelstimulierende Hormon – analysiert werden. In einem zweiten Schritt wird ein Ultraschall des Eierstocks gemacht. Die Untersuchung hilft vor allem Patientinnen, die an einem krankhaft früh einsetzenden Wechsel, dem sogenannte Premature Ovarian Failure (POF), leiden. Ein bis zwei Frauen pro 1000 sind davon betroffen. Wenn etwa eine 30-jährige Frau, die sich mit dem Kinderkriegen noch ein paar Jahre Zeit lassen will, durch diesen Ferticheck erfährt, dass die Anzahl ihrer Eizellen gemessen an ihrem Alter schon deutlich gesunken ist, kann sie sich entscheiden, das Kinderthema nicht mehr auf die lange Bank zu schieben.

Kritiker wie der Journalist Andreas Bernard (siehe Interview) wittern hier reine Geschäftemacherei eines Kinderwunschzentrums. Andreas Obruca verneint und sagt: „Im Gegenteil.“ Sein Zentrum sei nicht die richtige Anlaufstelle für den Ferticheck und hätte auch gar nicht genügend Kapazität. Zu ihnen würden zudem nur Frauen kommen, die bereits einen unerfüllten Kinderwunsch haben. Seine Idee sei lediglich, den Ferticheck bekannter zu machen, so dass ihn möglichst viele niedergelassene Ärzte anbieten können. Und der Wunsch an die Politik sei, die Untersuchung, die rund 100 Euro kostet (je 50 Euro für Hormonbestimmung und Ultraschall), finanziell zu unterstützen, damit möglichst viele Frauen diesen Test machen können. „Jeder Frau, der man die Pille verschreibt, sollte man den Ferticheck anbieten.“

Wie klingt so ein Test für eine Frau wie Claudia Hermann, bei der im Jänner der zweite IvF-Versuch endlich funktioniert hat? „Ich bin da zweigeteilt“, sagt sie. Es sei enorm wichtig, über die sinkende Fertilität aufzuklären – andererseits haben sie ihre Erfahrungen mit Zahlen geprägt: „Die Gefahr sehe ich, dass man diversen Zahlen zu viel Beachtung schenkt und eine Maschinerie von Kontrollen und Tests beginnt. Zudem geht Natürlichkeit, Vertrauen in den Körper verloren.“

Vorsorge wie beim Krebsabstrich

Andreas Obruca vergleicht den Ferticheck mit einer Vorsorgeunterschung wie dem Krebsabstrich des Gebärmutterhalses (PAP-Test). Durch diese von der Krankenkasse bezahlte Routineuntersuchung konnte die Häufigkeit von Gebärmutterhalskrebs deutlich reduziert werden. „Natürlich wird auch der Ferticheck, wenn der Befund nicht in Ordnung ist, zu einem Denkprozess führen. Das soll es ja sogar, weil ich dann noch Zeit habe, etwas zu tun.“ Wobei der Reproduktionsmediziner einräumt, dass mit dem Ferticheck auch nicht alle Fehlerquellen im Körper einer Frau gefunden werden.

Ähnlich wie Claudia Hermann spricht die zweifache Mutter Manuela offen über ihre Erfahrungen mit IvF. Sohn Yannik ist fünf und natürlich gezeugt worden, damals war seine Mutter 40. Der Wunsch nach einem zweiten Kind war groß, doch auf natürlichem Weg ging das nicht mehr. Also entschied sie sich für eine IvF-Behandlung, die schon beim ersten Mal klappte. Tochter Amelie ist heute acht Monate alt. Für Manuela ist der künstliche Eingriff ganz normal gewesen. „Ab dem Zeitpunkt, in dem ich wusste, es hat funktioniert, war es wie eine ganz normale Schwangerschaft.“ Sie habe nur noch mehr gelernt, welches Geschenk es ist, ein Kind zu bekommen. Ihr sei nicht bewusst gewesen, dass die Fertilität ab dem 40. Lebensjahr absinkt. „Sonst hätte ich vielleicht schneller versucht, ein zweites Kind zu bekommen“, sagt sie. Den Ferticheck hält sie daher für sinnvoll.

Und die Politik, wie reagiert die auf den Vorschlag? Aus den Ministerien kommen wohlwollend-zurückhaltende Antworten. Im Familienministerium heißt es zwar: „Die Kinder, die sich Familien wünschen, sollen auch geboren werden“, man verweist aber lieber auf anerkannte medizinische Methoden wie IvF. Und das Gesundheitsministerium bestätigt nur, dass Information der Bevölkerung ein wichtiges Erfordernis sei, um Menschen ein gesundes Leben zu ermöglichen. Ein freundliches Abnicken der Forderungen, mehr ist das nicht. Verständlich, wenn man bedenkt, dass die Politik in der Reproduktionsmedizin zuerst andere Hausaufgaben zu erledigen hat: Im Jänner hat der VfGH das sogenannte Lesbenverbot im Fortpflanzungsmedizingesetz, also das Verbot der künstlichen Befruchtung bei gleichgeschlechtlichen Paaren, aufgehoben. Das Gesetz wurde bisher noch nicht entsprechend geändert.

99 Ideen für Österreich: Die Idee

Andreas Obruca und Heinz Strohmer sind Ärzte am Kinderwunschzentrum Goldenes Kreuz. 

Ihr Vorschlag gegen die sinkende Geburtenrate: 1. Eine Kampagne soll die Öffentlichkeit über den Abfall der Fertilität ab dem 38. Lebensjahr informieren. 2. Es wäre wünschenswert, wenn die Politik den Ferticheck (Ermittlung des Fruchtbarkeitsstatus ) finanziell unterstützen würde.

„Presse am Sonntag“, 20. Juli 2014

Kira Stachowitsch: „Wir könnten ja unabsichtlich Teil einer ganz ganz hippen Sache sein“

Interview. Die Wiener Trendconsulterin und Herausgeberin der Mode- und Lifestylemagazine „Indie“ und „Material Girl“ warnt davor, die neue Strömung nicht mit der immer noch flammenden Nineties-Leidenschaft zu verwechseln.

Der Mass-Indie- oder Hipster-Stil wird nun von der Hardcore Normalität abgelöst, sagt eine New Yorker Trendagentur. Was halten Sie von der neuen Kategorisierung als „Normcore“?
Kira Stachowitsch: Es ist faszinierend, wie Normcore es geschafft hat, gerade überall auf und ab zitiert zu werden. Das liegt vermutlich daran, dass viele Medien darin ein für den Mainstream interessantes und nachvollziehbares Modetrendthema sehen, das mit der Idee spielt, wir alle könnten unabsichtlich Teil einer ganz, ganz hippen Sache sein. Aber da gibt es ein großes Missverständnis: Man kann es Normcore nennen, wenn Kunststudenten in Mom-Jeans, verschnittenen Logoshirts und Werbekappen herumlaufen. Weil es ein bewusstes Zitat ist und ein gewisser Witz, wenn man es so nennen will, dahintersteckt. Das macht den H&M-Durchschnittsträger aber eben – Gott sei dank – noch lange nicht zum Normcore-Anhänger.

Wie lange hält sich so eine Trend-Kategorierisierung?
Normcore funktioniert ob seiner Subtilität anders als andere subkulturell geprägten Modestile nicht als lautes und auffälliges Abgrenzungszeichen der restlichen Gesellschaft gegenüber. Insofern ist nicht anzunehmen, dass er sich in die Herzen und Schränke jener schleicht, die ihre Individualität gern durch Mode ausdrücken. Ich glaube, wir müssen uns also noch keine Sorgen darüber machen, dass die halbe Menschheit in einen Trend hineingeraten ist, von dem sie nichts wusste. Die wenigsten COS-Träger sehen aus wie Bill Gates auf Italien-Urlaub und Omas Strickjacke verwandelt einen sicher auch noch nicht in Jerry Seinfeld. Er und Bill zählen ja zu den sexy Posterboys der Normcore-Bewegung. Wenn man sich fragen muss, ob man unbewusst längst einer Trendströmung angehört, dann ist die Antwort ziemlich sicher: Nein.

Stimmt es, dass sich das „neue Normal“ bereits auf den internationalen Laufstegen zeigt? Setzen Labels wie COS schon länger auf diesen Stil?
Die Normcore-Sichtungen auf den Laufstegen würde ich eher auf die noch immer flammende Nineties-Leidenschaft in der Mode zurückführen. Viele Normcore-Keypieces stammen aus dieser glücklichen Zeit, in der Jeans und weißes T-Shirt „Casual Chic“ genannt wurden und nichts über das richtige Logo, im besten Fall CK, auf der Brust ging.

Was ist überhaupt „normal“ in der Mode?
„Normal“ meint konform. Ein Look für alle, die es bevorzugen, in der grauen Masse unterzutauchen.

Steckbrief

Kira Stachowitsch 
* 1984 Wien, Journalistin, Model, Trendconsultant und mit Clemens Steinmüller Gründerin der Magazine „Indie“ und „Material Girl“.

Ihre Garderobe umfasse Kleidungsstücke aus diversesten Dekaden und Stilen, somit könne sie „einer Kategorisierung ziemlich sicher noch von der Schippe springen“.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 27.04.2014)

08/15 ist das neue Ziel: Das Normale wird die Norm

Der Mensch ist müde vom Anderssein und will in der Masse untergehen. Normcore heißt der von einer New Yorker Agentur erfundene Trend. Statt Hornbrille und Vollbart zu tragen sind jetzt bald alle „hardcore normal“.

Das Normale hatte es zuletzt nicht unbedingt leicht. Das Andersartige, Ausgefallene, irgendwie Schräge war im Zweifel erstrebenswerter als das Naheliegende. Trendbewusste Menschen urlaubten lieber in der Sächsischen Schweiz statt an der Adria, trugen Brillen oder Ketten mit „Statement“ um zu zeigen: „Ich habe die aktuellen Fashion-Codes verstanden“ und fuhren Rad statt Auto, am besten das Gefährliche ohne Bremsen und Gangschaltung. 

Doch jetzt kehrt sich der Trend um: Das Normale wird wieder entdeckt. So prophezeit das zumindest die New Yorker Agentur K-Hole in ihrem Report „Youth Mode“. Die Menschen würden nach Jahren des Anderssein-Wollen nun das Normale und Unaufgeregte suchen. Was genau normal ist, erklären sie allerdings nicht. Das Credo laute: Besser dazugehören als sich absetzen, besser empathisch sein als abgehoben. „Normcore“ nennen die K-Holer ihre Trend-Kreation, die den „Mass-Indie“ (den Massen-Individualisten) oder Hipster ablösen soll.

Und plötzlich ist die Hardcore-Normalität in aller Munde. Von den Stilseiten der Modemagazine tönt es: Rasiert euch die Vollbärte! Räumt die Stofftaschen weg! Holt No-Name-Jeans und das No-Label-T-Shirt aus dem Schrank! Fortschrittlich sei jetzt, wer aussehe wie die Supermarktkassiererin aus Scheibbs. Prominente Paten für den Nicht-Stil waren mit Bill Gates oder Sarah Jessica Parker schnell gefunden. Dass der Microsoft-Gründer sich immer schon so uninspiriert anzog, stört die Normcore-Beschwörer nicht. Das „neue Normal“ (© „New York Magazine“) sei überall: am Laufsteg bei Karl Lagerfeld, im Fernsehen bei „Girls“. Dabei werden in der Trend-Euphorie viele Stile und Phänomene in einen Topf geworfen. Und nein, Kleider von H&M und Möbel von Ikea sind nicht automatisch „neues Normal“. Die Berliner Schriftstellerin Ulrike Sterblich stellte treffend fest: Das Wort Normcore habe sich so verselbstständigt, dass es seine Schöpfer zurückließ „wie den Zauberlehrling, der sein Geschöpf nicht mehr beherrschen kann“.

Reden wir über das Wetter

Tatsächlich fühlen sich die Prognosemeister von K-Hole missverstanden. Sie wollten in ihrem Trendreport (der als PDF unter khole.net abrufbar ist) mehr als einen neuen Modetrend ausrufen. „Normcore“ sei eine neue Lebenseinstellung, die mit Freiheit zu tun habe. Nach dem Motto: Alles was du tust und trägst ist cool (und ja, das Wort darf man neuerdings auch wieder sagen). Coolness sei dabei kein Vorrecht der Jugend mehr. Mass-Indie sei in etwa so wie über den Traum von letzter Nacht zu sprechen, bei Normcore rede man stattdessen über das Wetter. Langweilig? Nein, unverkrampft und normal.

Eigentlich hätten wir selbst darauf kommen können: Am Höhepunkt von Hipster-Hass und Vollbart-Aversion musste etwas völlig Konträres kommen. Genug Zottelbart. Genug Strickmütze. Wenn jede neue Großstadt-Bar im „shabby chic“, also betont unfertig, eingerichtet wird und schon Finanzbeamte und Mittelschullehrerinnen dicke Hornbrillen und knallbunte Sneakers tragen, ist ein individueller Trend in der Masse angekommen, und es wird Zeit für den nächsten. Die Mode folgte schon immer diesem rhythmischen Auf und Ab: Nach dem Minirock kommt der knielange, ausgestellte, nach engen Hosen weite, nach Ballerinas spitze Pumps. Aber ist dieses „neue Normal“ nun wirklich etwas, das sich in unser aller Alltag breit macht? Eine Gegenreaktion zum durch Internet und soziale Netzwerke verstärkten Individualismus-Exzess. Vermutlich nicht. „Don’t Believe the Hype“ rappten die Musiker von Public Enemy schon 1988 – und das könnte die Begleitmusik zur Normcore-Debatte werden. Kira Stachowitsch, die Herausgeberin vom österreichischen Mode- und Lifestylemagazin „Indie“, glaubt nicht, „dass die halbe Menschheit in einen Trend hineingeraten ist, von dem sie nichts wusste“ (siehe Interview).

Wahrscheinlicher ist: Das neue Zauberwort Normcore kam einfach nur zur sehr rechten Zeit und ist ein künstlich geschaffener Trend, der sich im Netz viel schneller verbreitet als die vor-vor-letzte Subkultur-Kategorisierung der Hipster (siehe Glossar). Bald schon wird man von der Tyrannei des Normalen sprechen. 
Kleine Renaissance. Wobei auffällt: Den Blick muss man gar nicht so weit und nicht in die USA richten, um eine kleine Renaissance zumindest der Auseinandersetzung mit dem Normalen zu erkennen. Das deutsche Wirtschaftsmagazin „Brandeins“ widmete dem Thema schon im Herbst – und sicher ohne Kenntnis des da gerade erst erschienenen K-Hole-Reports – eine Ausgabe. Der Berater Reinhard K. Sprenger, der zur Heftkritik geladen war, hatte das Thema angeregt. Weil ihm seltsam erschien, dass Unternehmen zwar Millionen für Innovationsprogramme ausgäben, gleichzeitig alles dafür täten, den Normalbetrieb aufrechtzuerhalten, schrieb Chefredakteurin Gabriele Fischer in ihrem Editorial.

Es lohnt sich, den Begriff Normalität näher zu betrachten. Was ist eigentlich „normal“? Normen und Standards sind einem ständigen Wandel unterlegen und fungieren wie ein Messinstrument für die Gesellschaft. Doch kaum ein Begriff ist so ambivalent: Das Normale gilt gleichermaßen als erstrebens- wie verachtenswert. Wir wollen nicht als psychisch krank oder abnormal auffallen, aber auch nicht langweilig sein und in der Masse untergehen. Wer will schon als „08/15“ oder „Otto Normalverbraucher“ bezeichnet werden? Vincent van Gogh stellte schon Ende des 19. Jahrhunderts fest, die Normalität sei „eine gepflasterte Straße, auf der man gut gehen kann – doch es wachsen keine Blumen auf ihr“.

Normalverbraucher
Unternehmen wie Menschen wollen nicht normal sein, weil sie sonst nicht unterscheidbar sind, sagt der Journalist und „Brandeins“-Mitgründer Wolf Lotter. In seinem Prolog zum Heft-Schwerpunkt erinnert er daran, dass das Normale nach dem Zweiten Weltkrieg Leitbild war: „Der Normalverbraucher war das neue Normalnull nach dem verlorenen Krieg, eine dünne Existenzlinie, an dem man seine Existenz neu ausrichten konnte.“ Heute, wo wir die alte Normalität nicht mehr wollen, aber noch keine neue gefunden haben, seien wir orientierungslos. Dabei betont Lotter im Gespräch, dass Normalität, vor allem in der Wirtschaft nichts Erstrebenswertes sei: „Die Kunst ist, den Rahmen so offen zu halten, dass potenziell keine Innovation und keine Vielfalt verhindert wird. Bürokratie schafft Konformisten. Die sind unser größtes Problem.“ Und zwar eines, das dem Jugendforscher Philipp Ikrath bekannt vorkommt. Die jüngste Shell-Jugendstudie (2010) zeigte, dass für über 80 Prozent der befragten 12- bis 25-jährigen Deutschen wichtig ist, „fleißig und ehrgeizig“ zu sein. Ikrath: „Da fragt man sich schon, wo die jugendlichen Nonkonformisten geblieben sind.“

Zudem sieht der Jugendexperte ein begriffliches Problem: „Was soll der Gradmesser sein, an dem sich ein vermeintlicher ,Normcore‘ orientiert? Hören die jetzt alle Schlager, weil sich die Platten von Helene Fischer und Andrea Berg besser verkaufen als alles andere und sie deswegen eine Norm etabliert haben? Kämpfen sie für eine Rückkehr von ,Wetten, dass…?‘“

Vielleicht sei unsere Gesellschaft, in der es keine normierten Lebensläufe oder Lebensstile mehr gibt, die Individualität selbst schon Mainstream, also normal geworden, ergo Normcore das Nicht-Normale, so Ikrath. So beißt sich die Theorie selbst in den Schwanz. „Der moderne Individualist ist im Inneren konformistisch, seine Andersartigkeit zeigt sich nur an der Oberfläche und in belanglosen Details der Lebensführung: MP3 oder Vinyl? Apple oder Android? Rihanna oder Lady Gaga? Insofern leben wir ohnedies längst in Zeiten des mentalen Normcores, der aber recht erfolgreich durch sich ständig ändernde Modephänomene retouchiert wird.“

 

Glossar der Subkulturen

Eine Auswahl verschiedener Subkultur-Labels, ohne Anspruch auf Vollständigkeit:

Bobo: Erfunden hat den Begriff „Bourgeoise Bohemien“ der „New York Times“-Kolumnist David Brooks im Jahr 2000. In seinem Buch „Bobos in Paradise“ schrieb er über die „Konservativen in Jeans“ als Menschen der Oberschicht, die beruflich erfolgreich sind und eine nonkonformistische Haltung haben. Bei ihnen würde sich das Denken der Hippies und der unternehmerische Geist der Yuppies verbinden. Bobos seien Idealisten mit Hang zu sanftem Materialismus, korrekt und kreativ.

Hipster sind die jüngeren Geschwister der Bobos. Der Begriff ist seit 2010 in aller Munde und wird meist etwas spöttisch gebraucht für Menschen, die zwar szenebewusst sind, aber den Mainstream verweigern. Typisch ist das Mischen verschiedener Stile – etwa Hardcore Punk und Emotional Hardcore (Emo). Erkennbar sind sie an: Flanellhemden, übergroßen Hornbrillen, engen Hosen, Jute- oder Stoffbeuteln und einer Strickmütze.

Yuppie steht für das englische „young urban professional“. So bezeichnete man in den 1980er- Jahren junge, karrierebewusste Erwachsene der städtischen oberen Mittelschicht. Auch der Boom der Computerbranche und später jener der New Economy der 1990er-Jahre setzte diesen Trend fort. 

Nerd: Auch dieser Begriff kommt aus dem Englischen und steht für Fachidiot, Sonderling oder Außenseiter. Ähnlich wie der Geek sind damit Menschen gemeint, die sich besonders für Computer, Technik oder Wissenschaft interessieren oder sehr intelligent sind. Während der Begriff ursprünglich negativ konnotiert war, ist er heute weit verbreitet und wird durchaus als selbstironische Eigenbezeichnung gesehen. 

Yetties sind die ungewaschenen, naturnahen Hipster. Damit gemeint sind vor allem Männer, die sich besonders naturnah geben und gern strubbeliges Haar und einen dichten Bart tragen. Hygiene ist nicht unbedingt groß angeschrieben. 
 

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 27.04.2014)

(Sehn-)Sucht nach Ordnung: Die Liste ist überall

Sie war eigentlich nie weg, gerade erlebt sie aber eine kleine Renaissance im Netz: die Liste. Onlineportale wie Buzzfeed generieren mit ihr besonders viele Klicks und auch gedruckt ist sie immer noch begehrt. Es scheint, der Mensch sehnt sich in unübersichtlichen Zeiten noch mehr nach der Ordnung durch Reihung.

Diese Geschichte beginnt mit einem kleinen Test: Welche Assoziationen haben Sie zum Stichwort „Liste“? Eine nicht repräsentative Blitzumfrage in der „Presse“-Redaktion ergab erstaunlich viele Übereinstimmungen und ein paar Dinge, die wirklich jedem einfielen. Die häufigsten Nennungen in fünf Punkten, somit die Liste der Liste:

  1. Die Mutter aller Listen, das sind die Zehn Gebote.
  2. Die musikalische, das ist der Roman „High Fidelity“ von Nick Hornby.
  3. Die unterschätzte, die Einkaufsliste.
  4. Die feuilletonistische, das ist der Kanon der Literatur.
  5. Die ordentlichen, das sind ganz viele, nämlich Rankings, Hitparaden, Bestsellerlisten…

Kurz gesagt: Die Liste begegnet uns überall. Warum der Mensch immerzu nach Ordnung durch Reihung strebt, ist an sich schnell erklärt: „Es ist der alte Traum von der Übersichtlichkeit des Lebens, der in einer unübersichtlichen Zeit noch größer wird, aber unerfüllbar bleibt“, sagt der deutsche Philosoph Wilhelm Schmid. Eine Spur existenzialistischer sieht das sein italienischer Kollege Autor Umberto Eco. In seiner 2009 erschienenen subjektiven Kulturgeschichte der Liste und des Katalogs schreibt er: „Wir mögen Listen, weil wir nicht gern sterben wollen.“ Und für den Zeichner und Autor Tex Rubinowitz sind Listen gar „Seufzer des Glücks“.

Doch zu allererst wollen wir: Ordnung in das Chaos bringen. Kein Wunder, dass die Liste da, wo es besonders unübersichtlich ist, gerade eine kleine Renaissance erlebt: im Internet. Auf Onlineportalen wie Buzzfeed, Huffington Post, The Upworthiest oder Thought Catalog taucht sie in einer neuen Spielart auf. Als nicht immer ernst gemeinter Lebensratgeber oder Erklärjournalismus in Häppchen, oft garniert mit lustigen Fotos. „Buzzfeedsplaining“ nennt man scherzhaft das, was diese Portale tun, nämlich die Welt auf ihre Art, meinungsgetrieben und meist ohne Faktenprüfung, zu erklären.

Bloß nicht kompakt

Egal ob „24 Simple Tricks to Reduce Your Anxiety“ oder „19 Things You Should Thank Your Dad For“ – die Buzzfeed-Mitarbeiter und -Kolumnisten lassen kaum einen Lebensbereich aus; jedes noch so unlösbare Problem (zu dick, zu dünn, zu introvertiert, zu einsam, zu gestresst), jede Lebenssituation (Single, verheiratet, frisch geschieden, arbeitslos und immer wieder: Katzenbesitzer) wird gelistet.

Dabei achten die Listenersteller darauf, dass es niemals kompakte fünf, zehn oder zwanzig Lösungswege für ein Problem gibt, sondern eben 19, 24 oder gar 41. Diese Ungenauigkeit sei die Spezialität ihrer Reihungen, wie der britische Buzzfeed-Chef Luke Lewis dieser Tage am Queen’s College in Oxford erklärte. Und ihr simples Rezept dahinter hat schon bei Horoskopen funktioniert: Je länger die Liste, desto höher die Chance, dass sich ein Leser darin wiedererkennt, das Gelesene freudig auf Facebook oder Twitter teilt und dazu postet: „Nummer drei – das bin so ich!“

Bis zu 130 Millionen Menschen pro Monat lesen, liken und lieben Buzzfeed mittlerweile. Ein Trend, der Medienexperten die Stirn runzeln lässt. Weil Google und andere Suchmaschinen Listentexte mit ihren Suchalgorithmen bevorzugen und der Erfolg von Huffington Post und Co. neidisch macht, wird nun überall gelistet, online ebenso wie in Printmedien. Längst hat das Listenbasteln im Netz einen eigenen Namen, nämlich „Listicles“. Ihren Aufstieg im Netz hat die Liste nicht zuletzt Kurznachrichtendiensten wie Twitter zu verdanken, weil sich dort Geschichten mit einprägsamen und schrägen Titeln wie „The 22 Awful Stages of Going to a Conference“ rasch verbreiten. Seit einiger Zeit spiegelt sich der virtuelle Erfolg der Liste in der analogen Welt wider, nämlich ausgerechnet da, wo sie schon fast für tot, weil inflationär, bieder und langweilig erklärt wurde: im Buchhandel.

Neue Welle der Listomanie

Listenbücher sind das Running Sushi der Verlagsbranche: schnell gefertigt, in Massen verkauft und leicht verdaulich. Mit telefonbuchdicken Werken wie „1000 Places to see before you die“ fing diese Listomanie vor zehn Jahren an, oder eigentlich muss es heißen: erlebte ihr x-tes Revival. Eines der bekanntesten seiner Art ist das „Book of List“ der Geschwister David Wallechinsky und Amy Wallace aus dem Jahr 1974. Und die eingangs erwähnten Zehn Gebote erinnern uns daran, dass schon die Bibel zur Ordnung als Stilmittel griff. Auch mit dem Literaturkanon versuchte man ab dem 17. Jahrhundert, die nach der Einführung des Buchdrucks immer größer werdende Menge an literarischen Werken einzuordnen und zu bewerten. Was ist gut? Was ist schlecht? Was soll in den Kanon, in die Liste, was nicht? Auch die Bewertung, die Erhabenheit über andere sind essentielle Funktionen von Listen.

Das gilt auch für Musik. Mit dem Aufkommen des Pop Ende der 1950er, Anfang der 1960er-Jahre und der Aufweichung klassischer Musikstile war die In-and-out-Liste geboren. Plötzlich gab es nicht mehr nur eine Musikrichtung, die richtig und gut war, einen Kleidungsstil, eine Frisur. Erlaubt war, was gefiel. Und was heute gut oder schick war, konnte morgen bereits „out“ sein. Künstler wie Andy Warhol erstellten völlig subjektive Listen, etwa von Lieblingsorten, die nicht Ordnung, sondern Kunst schaffen wollten. 
Klammer für die Popkultur. Von der Popkultur ließ sich auch Thomas Weber, der Herausgeber des Kultur- und Szenemagazins „The Gap“, bei seinen „Gastcharts“ inspirieren. Seit 2001 lädt er in jeder Ausgabe Vertreter aus der heimischen Musik- und Medienwelt ein, Dinge, Menschen oder Beobachtungen zu reihen. Daraus entstehen dann die „Top 5“ der skurrilsten Spam-Betreffs oder die „Top 10“ der abgedroschensten Wien-Klischees. „Das ist formal eine spannende Klammer, um Popkultur in Form zu bringen“, so Weber. Also wieder: Klammer, Ordnung, Übersicht als Primärfunktion der Liste, in diesem Fall kommt aber auch der Spaß, die Ironie als Unterhaltungselement dazu.

Wo die Ordnung aufhört und das Kunststück beginnt, wird die Liste für Tex Rubinowitz (siehe Interview) erst interessant. In seinen Büchern stellt er willkürlich Dinge zusammen, auch Fiktives, seine Listen sind mehr Gedicht oder Spielerei als schnöde Aufzählung, wie schon die Titel verraten: „Die 6 drängendsten Fragen eines Sitzenden“, „9 Erfindungen, die es nicht leicht haben auf dem Patentamt“ oder „Die 4 Schwestern der Fliege in der Suppe“.

Mit Kultur haben die aktuellen Frühjahrsvorschauen mancher Verlage kaum mehr etwas zu tun. Sie erinnern eher an Junkfood, sie sind gewissermaßen Fast-Read-Produkte. Der deutsche Großverlag Schwarzkopf & Schwarzkopf hat für sich die Zahl 111 entdeckt. Dutzende dieser Bücher mit Titeln wie „111 Gründe, Katzen zu lieben“ hat er bereits im Programm, nun kommen zehn weitere dazu.

Inflationäres Sammelsurium

Dabei begann die letzte Welle der Listenhypes in Buchform noch recht charmant. Der Brite Ben Schott listete 2005 in seinem „Sammelsurium“ kuriose, aber wahre Dinge auf, etwa „Elf Nahrungsmittel mit wenig Kalorien“ oder „Zehn Worte, die Shakespeare am häufigsten benutzte“. Das gefiel vor allem den ordnungsliebenden Deutschen so gut, dass sich der Journalist in seinem jüngsten Buch „Schottenfreude“ deutschen Begriffen widmet, die auch im Englischen benutzt werden. Der Listen ist er langsam überdrüssig. Kein Wunder, jedes Jahr kommt ein neues „Sammelsurium“ heraus, daneben eigene Ausgaben über Essen und Trinken, Sport und Spiel. Die „Sammelsurium“-Bände sind wie die Notizbücher von Moleskine: ein Nice-to-have, das zu Hause meist nur ungenutzt herumliegt. Etwas humoristischer und anekdotischer legte Schotts österreichischer Kollege Christian Ankowitsch sein (ebenfalls 2005 erschienenes) „Kleines Universalhandbuch“ und die Nachfolgebände an, die ebenso erfolgreich waren wie Schotts Bücher. Seine Ratschläge (etwa für die korrekte Tischordnung) haben rückblickend betrachtet Ähnlichkeit mit den Buzzfeed’schen Lebenstipps.

Umberto Eco hat also recht, wenn er sagt: Die Liste ist und bleibt ein Dauerbrenner. Wie wichtig sie heute ist, hat am Spätabend des vorigen Jahrhunderts die BBC vorausgesehen: Die „Listomanie“ erklärte sie schon 1999 zur „Sucht des neuen Jahrtausends“.

(„Die Presse am Sonntag“, Print-Ausgabe, 16.02.2014)

 

Summary in English

In this collection of articles from the “Presse’s” newspaper Sunday edition „Presse am Sonntag“, the focus is on the return of the humble list in all its variations.

From novels like Nick Hornby’s „High Fidelity“ and Ben Schott’s „Miscellany“ as well as rankings from every walk of life to music charts and even the Ten Commandments – lists are everywhere.
Anna-Maria Wallner’s feature “Desire for order: the ubiquitous list” analyzes the current rise in lists on websites like “Buzzfeed”, “The Upworthiest” and “Thought Catalog” and presents a brief summary of the list’s cultural history, quoting philosophers and authors like “The Name of the Rose” creator Umberto Eco as well as British Buzzfeed-CEO Luke Lewis.
In an increasingly complex world, today’s yearning for lists signifies a desire for clarity and a semblance of control, as described by German philosopher Wilhelm Schmid. Additionally, it is a comforting way to simplify life around us. Buzzfeed’s concept are odd-numbered lists like „19 Things You Should Thank Your Dad For“, trying to feature elements that immediately attract as broad a readership as possible.

Also featured in the text selection is an interview by Anna-Maria Wallner with the Austrian comedian, author, caricaturist and list-aficionado Tex Rubinowitz and journalist Isabella Wallnöfer’s portrait of Buzzfeed founder Jonah Peretti.

Einzelkinder: Geboren für Reihe eins

Erich Kästner und Jean Paul Sartre, Robert Musil und Elfriede Jelinek – viele berühmte Schriftsteller, Astronauten und Journalisten sind Einzelkinder. Sie erzählen uns von ihren guten und schlechten Erfahrungen.

16.02.2013 | 18:22 |  von Anna-Maria Wallner (Die Presse)

Einzelkinder sind nicht mehr oder weniger berühmt als Geschwisterkinder. Wer das behauptet, ist so ernst zu nehmen wie einer, der mit Marilyn Monroe, Marlene Dietrich und Madonna zu beweisen versucht, dass nur blonde Frauen Karriere im Showbiz machen. So wie auch braunhaarige Schauspielerinnen und schwarzhaarige Sängerinnen Erfolg haben, so werden auch Zweitgeborene oder Nesthäkchen berühmte Autoren, Regisseure oder Wissenschaftler. Trotzdem fallen Einzelkinder gerade in der Literatur häufig auf – zumindest dann, wenn sie wie Elfriede Jelinek darüber schreiben.
Eine kleine Umfrage unter Feuilletonkollegen ergab, welches das berühmteste Einzelkind unter den berühmten Einzelkindern ist: Jean-Paul Sartre. Der Existenzialist galt sein Leben lang als „typisches Einzelkind“. In seiner 1964 erschienenen autobiografischen Schrift „Les Mots“ („Wörter“) erinnert er sich an seine Kindheit: „Es genügt, dass ich eine Tür aufmache, um selbst das Gefühl zu haben, ich vollzöge eine Erscheinung.“ Doch Sartre ist nicht nur Einzelkind, er ist vaterlos und wächst mit seiner Mutter Anne-Marie bei deren Vater Charles, also seinem Opa, auf. Ein promovierter Deutschlehrer, den seine eigenen Kinder langweilten, der aber den Enkel abgöttisch liebt. Abgeschottet von der Außenwelt erlebt Sartre seine Kindheit als permanente Berufung zum Wunderkind. 

Die dominante Mutter. Eine Kindheit allein mit der Mutter oder zumindest stark geprägt durch die Mutter erlebten auffallend viele spätere berühmte Schriftsteller: Die österreichische Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek etwa litt sehr unter der strengen Hand ihrer Mutter, die sie zur Hochbegabung drillte, was Jelinek in ihrem Roman „Die Klavierspielerin“ verarbeitete. Die deutsche Frauenrechtlerin Alice Schwarzer wuchs als Einzelkind bei den Großeltern auf, ihre junge Mutter war für sie eher wie eine Schwester – doch für Schwarzer war, wie in ihrer 2011 erschienenen Autobiografie „Lebenslauf“ zu lesen ist, das Dasein als Solokind überhaupt kein Problem.
Einzelkind war auch Erich Kästner. Und Robert Musil, den das nicht hinderte, in seinem „Mann ohne Eigenschaften“ eine erotische Geschwisterliebe zwischen Ulrich und Agathe zu beschreiben. Auch der vorletzte Literaturnobelpreisträger, der Lyriker Tomas Tranströmer, ist Einzelkind, was die Theorie unterstreicht, dass Kinder ohne Geschwister häufig in schreibenden oder wissenschaftlichen Berufen landen, weil sie sich allein beschäftigen müssen und früh eine Vorliebe für Lesen und Schreiben entwickeln.

Von Elvis bis Heike Makatsch. Natürlich finden sich auch außerhalb der Literatur berühmte Solokinder: Staatsmänner wie Alexander der Große, Franklin D. Roosevelt, Jimmy Carter, Wissenschaftler wie der österreichische Physiker Erwin Schrödinger, Stars wie Elvis Presley. Die Schauspielerin Heike Makatsch schrieb in einem Essay für das Magazin „Neon“: „Alles, was ich während meines Heranwachsens getan habe, geschah unter genauer Observation meiner Eltern. Meinen Exklusivstatus hätte ich gerne für einen unprätentiösen Platz in einem größeren Familienverbund aufgegeben.“ Eine andere öffentliche Person, die Chefin der Bayreuther Festspiele Katharina Wagner, wiederum hat ihre Kindheit offenbar genossen: „Ich wurde als Kind ganz normal behandelt, war aber als Einzelkind viel unter Erwachsenen, das fand ich nicht befremdlich. Eher fand ich es eigenartig, unter Kindern zu sein.“

Einzelkinder im Weltall. Eine wirklich amüsante Häufung von Einzelkindern gab es in den 1960er-Jahren in der Nasa. Gleich alle drei Besatzungsmitglieder der Apollo 8 waren Solokinder, was die „New York Times“ 1968 zu folgender Überschrift veranlasste: „Each Astronaut is an Only Child.“ Und tatsächlich waren 21 von 23 Apollo-Astronauten Einzelkinder. William Anders, eines der Apollo-8-Mitglieder, sagte damals: „Ich glaube, ich wäre nicht da, wo ich heute stehe, wenn ich kein Einzelkind wäre.“ Die „New York Times“ resümierte damals: Einzelkinder wollen besonders hoch hinaus – und die meisten von ihnen würden das auch schaffen.

Geschwisterhass. Übrigens auch Geschwisterkinder lassen uns an ihren Erfahrungen mit ihren Brüdern und Schwestern teilhaben. Wie „Die Zeit“ 2011 erinnerte, beschrieb Regisseur Ingmar Bergman, zweites von drei Kindern, die Geburt seiner jüngeren Schwester so: „Eine fette, missgestaltete Person spielt plötzlich die Hauptrolle. Ich werde aus dem Bette meiner Mutter vertrieben, mein Vater strahlt angesichts des brüllenden Bündels“.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 17.02.2013)

Renaissance des Teilens: Nutzen als neues Besitzen

Das durch Wirtschaftskrise und Digitaltechnologien wieder populäre Sharing von Waren hat nichts mit der christlichen Tugend des Teilens zu tun. Es ist bloß die bequeme Alternative zum Privateigentum.

Von Anna-Maria Wallner und Köksal Baltaci

Es ist eine der ersten Tugenden, die Kindern im Kindergartenalter beigebracht wird: das Teilen. Wer ein guter Mensch ist, teilt seine Jause, die Schokotorte zum Geburtstag und die Lego-Sammlung mit Geschwistern oder Freunden. Sagen der Papa und die Kindergartentante. Doch Kinder wollen nicht immer gut sein, es braucht daher viel Überzeugungsarbeit und Geduld, bis das Hergeben selbstverständlich wird.

Doch aus Kindern werden irgendwann Erwachsene und das Teilen, auf Englisch „Sharing“ genannt, macht für viele von ihnen plötzlich richtig Sinn oder sogar Spaß. Allerdings: Mit der christlichen Tugend des Teilens ohne Gegenleistung, die Kindern gern mit der Legende vom heiligen Martin, der seinen Mantel mit dem Bettler teilt, beigebracht wird, hat das nicht mehr viel zu tun. Aus dem Grundsatz „Ich teile etwas mit dir“ wird „Wir teilen uns etwas, was uns nicht gehört.“ Es geht nicht mehr um das brüderliche Teilen, sondern um den gemeinschaftlichen Konsum einer Sache.

Schuld an der neuen Lust am Teilen sind vielleicht die Fahrräder. Vor gut zehn Jahren waren sie plötzlich in fast allen Großstädten zu finden: mehr oder weniger klapprige Zweiräder, die man gegen eine geringe Gebühr für kurze Strecken ausborgen konnte. Dann kamen die Autos dazu – und nun wird geteilt, was geht: die eigene Herberge (via Couchsurfing), das Büro (Co-Working-Spaces), die Musik (Streaming-Dienste wie Spotify) oder das selbst gekochte Essen (Guerilla Bakery, Private Dining). Freilich (fast) immer gegen Bezahlung. (So fließt etwa beim Couchsurfing kein Geld zwischen Gastgeber und Gast, dennoch entsteht ein Vertragsverhältnis, das auf gegenseitigem Vertrauen beruht.) Das „Time Magazine“ bezeichnet die sogenannte „Collaborative Consumption“ als eine von zehn Ideen, die die Welt verändern werden – als effektive Maßnahme, um Ressourcen und Umwelt zu schonen.

Rentrepreneur statt Entrepreneur

Wie so oft sind es die Amerikaner, die dem Rest der Welt bei der „Sharing Economy“ um eine Nasenlänge voraus sind. Viele Teil-Modelle haben ihren Ursprung in den USA. So bietet etwa das in San Francisco angesiedelte Unternehmen Airbnb auf seiner Webseite Privatunterkünfte zum Mieten und Vermieten an. Unternehmen wie Zipcar haben sogar im mehr als auto-freundlichen Staat Amerika die Liebe zum Carsharing entflammt.

Begeistert von der beginnenden „New Economy of Reuse“ stürzte sich der Autor Rob Baedeker 2011 in einen Selbstversuch. In einem Essay im Magazin „Newsweek“ schilderte der selbsternannte „Rentrepreneur“ sein Experiment: Er vermietete seinen Wohnwagen um 45 US-Dollar die Nacht, seine Gitarre um 25 Dollar für ein halbes Monat und sogar seine Hündin Clementine um drei Dollar pro Stunde. In zwei Wochen erwirtschaftete er auf diese Weise 654 Dollar. Was zeigt, worum es bei der „Collaborative Consumption“ vor allem geht: ums Geldverdienen.

Das wird gern übersehen, wenn es um die Ursprünge der jüngeren Kultur des „Re-using“ geht. Manche Experten glauben, dass die 2011 entstandene Occupy-Bewegung in den Vereinigten Staaten dem Teilen zur neuen Blüte verhalf. Eine Gruppe von Kapitalismus- und Establishment-kritischen Menschen knüpfe hier an die Ideen von Kommunarden und Hippies der späten Sechzigerjahre an.

Tatsächlich ist die Idee der gemeinschaftlichen Nutzung einer Sache alles andere als neu. Wohngemeinschaften, Bibliotheken, Mehrwegflaschen, landwirtschaftliche Genossenschaften – alle diese Modelle beruhen auf der Vorstellung, Ressourcen gemeinsam zu nutzen, um Kosten zu sparen und die Umwelt zu schützen. Eine breite Kultur von „Nutzen statt Besitzen“ (Motto der Ökologiebewegung in den 1970er-Jahren) wurde aber durch die Umständlichkeit des Leihens und Tauschens erschwert. Deshalb setzten sich lange Zeit nur solche Modelle durch, die an örtlich fixe Einrichtungen gebunden waren: Videotheken, Skiverleih und Waschsalons. Durch das Internet und soziale Netzwerke als Vermittlungsinstanz sowie die Smartphones, die unsere Mobilität erhöhen, haben sich die Rahmenbedingungen nun vereinfacht. 
Benutzen statt Besitzen. Dabei hat die heutige Idee des gemeinsamen Nutzens einer Sache nicht mehr viel mit den Modellen der Ökologiebewegung oder des Marxismus (alle besitzen etwas zu gleichen Teilen) zu tun. Vielmehr bilden die Sharing-Plattformen ein neues Geschäftsmodell, das genauso nach den Regeln des Kapitalismus funktioniert. Der Unterschied: Der Kunde zahlt nicht mehr für das Besitzen einer Sache, sondern für das Benützen. Bei Musik, Filmen oder E-Books bekommt der Kunde nicht einmal mehr das Nutzungsrecht an einer physischen Sache, sondern nur das Zugriffsrecht auf eine Zahlenkombination. Für den Philosophen Konrad Paul Liessmann ist es amüsant, „dass diese neuen Modelle des entwickelten Kapitalismus ideologisch betrachtet aus dem Arsenal der Kapitalismuskritik stammen“. Das heißt, einstige marxistische oder sozialistische Denkmodelle wurden vom Kapitalismus übernommen und für eine kommerzielle Nutzung adaptiert.

Nicht nur erfindungsreiche Start-up-Unternehmen, die sinnvolle bis skurrile Ideen für den gestressten Großstädter erdenken, verhelfen den Sharing-Modellen zu so viel Erfolg. Auch die Wirtschaftskrise und die zunehmende Mobiliät der Menschen tragen dazu bei. Was nützt mir ein Auto in der einen Stadt, wenn ich die Hälfte des Jahres in einer anderen lebe? Wozu soll ich eine Plattensammlung im Wohnzimmer anlegen, wenn ich meine Musik vor allem unterwegs, auf Reisen oder auf dem Laufband im Fitnesscenter hören will?

Daher warnt Konrad Paul Liessmann davor, Menschen, die Gegenstände lieber nutzen und nicht besitzen wollen, automatisch als „bessere Menschen“ zu bezeichnen.

Verwöhnt und gelangweilt. Was die teilwilligen Großstädter eher sind: verwöhnt. Die Generation der Zwanzig- bis Vierzigjährigen ist in materiellem Überfluss aufgewachsen. An Spielzeug, tollen Urlauben und Sportgeräten hat es nie gefehlt. Statussymbole ihrer Elterngeneration – der teure Mercedes S-Klasse, die edle Platten- oder Whiskeysammlung – sind nicht mehr erstrebenswert, weil die ohnehin immer greifbar waren. „Statussymbole verschieben sich auch aufgrund beschleunigter Zyklen der digitalen Gesellschaft“, sagt Zukunftsforscher Andreas Reiter. „Junge Leute wollen zwar das neueste iPhone, aber kein Auto besitzen. Auch, weil sie wissen, dass ein Auto im Durchschnitt nur eine halbe Stunde am Tag genutzt wird.“

Der Konsum wird also nicht verweigert, er verändert sich nur. Bekannte Spielarten des Kapitalismus sind langweilig, neue Nutzungsformen versprechen Abwechslung und Spaß. Der neue Status ist der Zugang, nicht das Eigentum.

Ein weiteres Motiv für die Freude am Teilen: Die Generation der Digital Natives kennt das Teilen aus dem Internet. Wer YouTube-Videos und die Fotos vom letzten Urlaub mit anderen teilt, der teilt klarerweise auch Platten und Filme oder sein eigenes Sofa. 1000 Likes auf Facebook sind da plötzlich erstrebenswerter als das Moped, mit dem man vor der Schule vorfährt.

Besser mehr als wenig

„Wenn ich Urlaub in London mache, kann ich wie ein gewöhnlicher Tourist in ein Hotel einchecken, oder ich übernachte bei einem Einheimischen, der mir lokale Informationen zugänglich und mich sozusagen zum Insider macht“, sagt Andreas Reiter. Eine Motivation, die elitär und egalitär zugleich sei: elitär, weil der Zugang ein gewisses Wissen voraussetzt. Egalitär, weil durch die moderne Technologie Transparenz garantiert werden. Im besten Fall führt die Reise zu einem Erlebnis, das man wieder mit den Freunden auf Facebook teilen kann. Die Qualität von Waren oder Leistung – sei es der Klang der Musik, die Sauberkeit des Sofas beim Citytrip in Helsinki – tritt dabei in den Hintergrund. Besser billiger reisen, aber mit Erfahrungen, die mir keiner wegnimmt. Besser das neueste Modell des Snowboards fahren als das eigene, das schon bald wieder veraltet ist. Müsste man ein Mantra der Generation Sharing formulieren, es könnte lauten: Lieber mehr als wenig und am besten sofort!

Sorglos nutzen

Wer in Wohlstand aufwächst, wird auch bequem. Das wissen die Erfinder von Sharing-Plattformen. Der vielleicht wichtigste Vorteil einer Sache, die ich nur nutze, nicht besitze: Ich muss mich nicht darum kümmern. Reifen wechseln, Vignette kaufen, Versicherung zahlen, Garage mieten, Garten gießen oder Platten abstauben – all das macht jemand anders. Die Carsharing-Plattform Car2go belohnt ihre Kunden sogar, wenn sie bereit sind, ein bisschen etwas von ihrer Bequemlichkeit abzugeben: Wer das ausgeborgte Auto wieder volltankt, bekommt 15 Fahrminuten geschenkt. Noch ein Vorteil: Was ich nicht besitze, kann mir keiner wegnehmen.

Philosophen haben bestimmt eine Freude mit dieser neuen Spielart des Konsums. Fragen nach dem Haben und dem Sein waren immer schon große Themen der Philosophie. Arthur Schopenhauer etwa schrieb in seinen „Aphorismen zur Lebensweisheit“, dass unser Lebensglück nur durch das entsteht, was wir sind, nicht durch das, was wir haben. Jüngst erschienen einige Bücher zum Thema: „Wir sind, was wir haben“ (Annette Schäfer, DVA), „Über das Haben“ (Harald Weinreich, C.H. Beck).

Noch kein Massenphänomen

Ein Wertewandel hat zwar im Kleinen begonnen, doch noch ist klar: Österreich hat in der Ökonomie des Teilens noch großen Aufholbedarf gegenüber Städten wie Berlin und London. Vor allem beim Crowdsourcing und Crowdfunding, meint Zukunftsforscher Andreas Reiter. Beim Crowdsourcing wird die Intelligenz der Masse genutzt. Große Firmen gründen Innovationsplattformen, auf denen die Bevölkerung (gegen Prämien) Ideen einbringen kann. Beim Crowdfunding können Projekte oder Start-ups Sponsoren suchen.

Freilich werden selbst in Berlin und London all diese Dienste derzeit nicht von der Masse, sondern von einer kleinen, gut gebildeten Konsumelite in Anspruch genommen. Und auch in Österreich nutzen erst 45.000 Menschen Car-sharing. „Von einer allgemeinen Entwicklung können wir nicht sprechen“, sagt Philosoph Liessmann. „Noch nicht“, meint Forscher Reiter. Er ist sich sicher, dass die Freunde des Teilens rasch immer mehr werden.

(„Die Presse am Sonntag“, Print-Ausgabe, Ressort Leben, 10.02.2013)