Leitartikel: Wie oft lässt sich der Leser narren? Der Boulevard testet es

In österreichischen Medien häufen sich journalistische Fehler und bewusste Täuschungen der Leser. Die Falschmeldungen werden nicht einmal richtiggestellt.

„Ich saß allein im Kompressorenraum, als […] der große 400-pferdekräftige Kompressor, der den Elektromotor für die Dampfüberhitzer speist, eine auffällige Varietät der Spannung aufzuweisen begann. […] Völlig unerklärlich ist jedoch die Erscheinung, daß mein im Laboratorium schlafender Grubenhund schon eine halbe Stunde vor Beginn des Bebens auffallende Zeichen größter Unruhe gab.“

Es war die „Neue Freie Presse“, die vor rund 100 Jahren immer wieder Opfer ihrer Leser wurde. In herausragend formulierten Leserbriefen erzählten diverse Herrschaften von haarsträubenden Erlebnissen, die einen entscheidenden Haken hatten: Sie waren erfunden. Die sensationsgierige Zeitung aber druckte die Briefe ab, weil die zuständigen Redakteure den Unsinn nicht entdeckt hatten. Der eingangs erwähnte Text stammt aus einem solchen Leserbrief, und zwar nicht, wie viele vielleicht meinen, von Karl Kraus, einem leidenschaftlichen Feind der und Leserbriefschreiber an die „NFP“, sondern vom Ingenieur Arthur Schütz. Seine Schilderung eines Erdbebens im November 1911 begründete den Begriff „Grubenhund“ als Synonym für gefälschte Neuigkeiten.
Es mag ein Zufall sein, dass exakt 100 Jahre später wieder die Grubenhunde los sind. Heutzutage nennt man solche Täuschungen „Hoax“, die Sache bleibt dieselbe: Redaktionen werden mit offenkundig falschen Fakten vorgeführt. Zuerst war es eine an Schulen verteilte Ausgabe von Kafkas „Das Schloss“, die vor Fehlern strotzte. Nun ist es eine Sexschule, die dieser Tage in Wien hätte eröffnet werden sollen, sich aber als völlig frei erfunden herausstellte. „Österreich“ und „Heute“ schrieben erregt über die „Austrian School of Sex“ (die „Krone“ nicht, der war das Thema im Advent offenbar zu heikel), der „Kurier“ äußerte zwar Zweifel, befasste sich aber doch auf einer ganzen Seite damit. Auch wenn die Aktionsgruppe The BirdBase, die hinter diesen Streichen steckt, die Medien nur als Vehikel für ihre Forderungen an die Politik (etwa ein funktionierendes Pensionssystem) benutzen will, legt sie den Finger in eine klaffende Wunde: den schlampigen und unvorsichtigen Umgang der Medien mit Informationen.

Wenn es nur Schlampigkeiten wären! Zuletzt häuften sich Täuschungen, ja Lügen in den Blättern. Sei es, dass die Reporterin aus der Tierecke der „Krone“ mit falschen Fotos und Fakten von Hundetötungen Stimmung gegen die Ukraine als Austragungsort der Fußball-EM macht (und sogar die Politik auf den Plan gerufen hat). Sei es, dass gekaufte Texte nicht als Werbung gekennzeichnet werden. Oder dass Ereignisse vorweggenommen werden, die erst nach Redaktionsschluss stattfinden. So schrieb die „Krone“ Ende November in ihrer ersten Ausgabe, die gegen 15 Uhr gedruckt wird, eine ganzseitige Kritik über George Michaels Wien-Konzert. Ein Pech, dass das Konzert kurz nach Druck wegen Krankheit des Sängers abgesagt wurde.
Fehler wie dieser passieren auch, weil die Branche immer stärker unter Druck ist. Der Markt wird härter, die Konkurrenz größer. Gerade der Boulevard unterliegt dem Irrglauben, der Leser sei ein ungeduldiges Wesen, das schon bei der geringsten redaktionellen Verspätung in seinem Blatt das Abo kündigt oder zumindest die Gratisentnahmebox wechselt. Dabei wird es der Leser auch in Zeiten der minutenaktuellen Informationswiedergabe im Internet verkraften, wenn er die ausführliche Konzertkritik oder die politische Analyse über den Ausgang des EU-Gipfels einen Tag später liest. Dasselbe gilt für Falschmeldungen, die eine Redaktion erreichen: Wenn keine Zeit für die Überprüfung der Fakten, die Nachfrage bei Dritten, den Check, Recheck, Double-Check bleibt – dann sollte die Geschichte besser warten. Und es sollte schon gar keine erfundene Geschichte in die frei gewordenen Spalten gepresst werden, auch wenn das schlechte Tradition hat, wie Kästner in seinem Roman „Fabian“ zeigt.

Natürlich passieren Fehler, auch in der „Presse“. Nur sollte es selbstverständlich sein, diese auch öffentlich zu machen. In manchen Redaktionen von heute hält man sich lieber an die Usancen der „Neuen Freien Presse“: Die Fehler werden einfach totgeschwiegen.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 14.12.2011)

Leitartikel: Der kopflose Umgang mit dem ORF muss jetzt ein Ende haben

ORF Küniglberg. Foto: Clemens Fabry

Gerhard Zeilers Worte zur heimischen ORF-Politik werden der SPÖ noch lange wehtun. Sie lenkt lieber vom Thema ab. Und die ÖVP sucht den Gegen-Wrabetz.

ORF Küniglberg. Foto: Clemens Fabry
ORF Küniglberg. Foto: Clemens Fabry

Gerhard Zeiler wird nicht der nächste Generaldirektor des ORF sein. Aber er hat das fast Unmögliche möglich gemacht: Für die kurze Zeit eines Wochenendes waren der ORF und die Bestellung eines neuen Generaldirektors sogar wieder für jene interessant, denen dieses Thema sonst bestenfalls ein Gähnen abringt. Wenn sich einer der erfolgreichsten TV-Manager Europas für den Posten des ORF-Chefs interessiert und die verantwortlichen Politiker demonstrativ einen anderen, nämlich den bisherigen Erfüllungsgehilfen nehmen, den sie vor einiger Zeit noch loswerden wollten, dann begreift sogar der oberflächliche Beobachter aus der Ferne, dass die Politik in Sachen ORF seltsam kopflos agiert.

Gerhard Zeiler, gebürtiger Österreicher, bekennender Sozialdemokrat und mächtiger Chef des deutschen Privatfernsehtankers RTL, hat im aktuellen „Profil“ der österreichischen Politik und im Speziellen der SPÖ, den Kopf gewaschen. Er werde den Job des ORF-Generaldirektors nicht machen, obwohl ihn dieser durchaus gereizt hätte. Er habe erkannt, dass die Politik nicht den Besten für diesen Job suche, sondern einen, der „willfährig parteipolitische Personalwünsche umsetzt“. Die Ohrfeige war auch gegen den amtierenden Generaldirektor Alexander Wrabetz gerichtet.

Zeilers überraschend laute und unösterreichisch direkte Absage wirkt auf Beobachter wie eine Wohltat. Endlich sagt einer, was sich viele seit Jahren denken. Und wie reagiert die Politik? Die Verantwortlichen in der SPÖ beruhigen sich und ihre ohnehin nicht übermäßig in Aufregung geratenen Gemüter so: Sie reden sich ein, dass Zeilers harte Worte nur seiner Frustration zuzurechnen sind. Es sei doch verständlich, dass einer, der nicht bekommt, was er will, so reagiert, sagen viele hinter vorgehaltener Hand. Wie unangenehm der SPÖ Zeilers Standpauke aber tatsächlich ist, zeigt die Reaktion von Werner Faymann: Dass der Kanzler dem „Krone“-Innenpolitiker Peter Gnam Pläne einer Volksbefragung zur Wehrpflicht ins Montagsblatt diktiert hat, sieht aus wie ein Ablenkungsmanöver.

Aber Faymann verkennt vielleicht, dass ihm und seiner Partei die „Bußpredigt“ Zeilers (© Publikums- und Stiftungsrat Franz Küberl) noch lange und immer wieder sauer aufstoßen wird.

Zeiler hat gezeigt, dass er konfliktfreudig und wohl auch ein bisschen schadenfroh ist. Denn er hat genüsslich Aussagen gestreut, die nun hinter ihm wie Zündhölzer im Stroh eine Debatte entfachen, die noch sehr lange Brandwirkung haben wird. Vor allem aber hat er, obwohl selbst Sozialdemokrat, der SPÖ geschadet. Die politischen Gegner werden seine Sätze künftig bei jeder Gelegenheit aus dem Archiv kramen.
Apropos Gegner: Die ÖVP wusste nach der Lektüre des Zeiler-Interviews zunächst nicht, ob sie sich freuen oder eher grämen soll. Freuen über dessen wahre Worte zur österreichischen ORF-Politik (die vor einigen Jahren genauso auf sie selbst zugetroffen hätten)? Grämen, dass just jener Kandidat, der zwar nicht ihr ureigener war, aber doch ihr Favorit wurde, frühzeitig abgesprungen ist? Es ist wohl von beidem etwas dabei – und beflügelt durch Zeilers Kritik entwickelt die Partei nun einen trotzigen Tatendrang. Es sieht so aus, als wolle sich die Volkspartei nach einem eigenen Kandidaten umsehen, getreu dem Motto „Jetzt erst recht“. Namen werden ohnehin schon seit Wochen genannt. Viel ändern wird das aber nichts an der Tatsache, dass der neue Generaldirektor der alte sein wird.

Eine Standpauke wie die von Zeiler hätte bei den Verantwortlichen in einem privaten Unternehmen vielleicht einen Denkprozess ausgelöst – oder den Willen zur Änderung struktureller Missstände. Nicht so beim ORF. Auch wenn Fachleute in Europa und vor allem beim deutschen Nachbarn längst über die österreichische Rundfunkpolitik lachen, auch wenn der parteipolitisch gefärbte ORF Österreich bereits den Ruf eines „Klein-Berlusconistan“ eingebracht hat, reagieren die Regierungsparteien wie immer: Die einen (SPÖ) stecken den Kopf in den Sand, die anderen (ÖVP) stecken die Köpfe hektisch zusammen und suchen nach einem Kandidaten. Dabei wäre jetzt die beste Zeit, diesen kopflosen Umgang mit dem ORF zu überdenken. Bericht, Seite 23

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 07.06.2011)