Depression auf Twitter: Mehr als nur traurig

Logo_fisch+fleisch_RGB Dieser Text wird kein Gute-Laune-Text und das obwohl seit Dienstag Fasching ist. Denn es geht um folgendes: Seit kurzem werden auf Twitter ziemlich traurige und nachdenkliche Nachrichten verbreitet. Mit dem Hashtag #notjustsad teilen depressive Menschen ihre Erfahrungen mit dieser psychischen Krankheit. Das liest sich dann in etwa so: „Wenn man dir unterstellt, dass du dich nur in den Mittelpunkt drängen willst. #notjustsad“, „Wenn du meinst zu ertrinken, während alle um dich atmen können #notjustsad“ oder „Mein Leben ist mehr als okay und ich bin trotzdem depressiv. Nur, weil ich alles habe, was ich brauche, muss es mir nicht gut gehen.“ Ausgelöst hat diese Bekenntnis-Reihe die deutsche Bloggerin Jana Seelig, die sich auf Twitter Jenna Shotgun (@isayshotgun) nennt. Weil sie sich wieder einmal von irgendjemandem anhören musste, sie solle sich nicht so gehen lassen, reagierte sie mit einer Reihe von Tweets, wie sie Süddeutsche.de erzählte.

Darin schilderte sie ihren Alltag mit Depressionen, die bei ihr mit 22 Jahren nach langer Ursachensuche diagnostiziert wurden. Und prompt wurde ihre Tweet-Serie bemerkt, favorisiert und retweetet; eine andere Twitternutzerin brachte schließlich den Hashtag #notjustsad auf, der bereits seit 2011 vereinzelt in englischsprachigen Tweets zum Thema auftaucht. Quasi über Nacht und wie schon beim Anti-Alltagssexismus-Aufruf #Aufschrei im Vorjahr hat das deutschsprachige Twitterland eine Aufmerksamkeitskampagne mit sehr ernstem Hintergrund, der sich 48 Stunden später auch in den klassischen Medien wiederfindet. Die Sache mit der Depression ist seltsam. Obwohl von Zeit zu Zeit prominente oder spektakuläre Fälle von depressiven Menschen, die sich das Leben nehmen, durch die Medien geistern, ist das Thema immer noch Tabu.

Wenn sich nicht gerade ein Star wie Robin Williams oder ein bekannter Finanzmanager das Leben nimmt und sich die Öffentlichkeit, wie derzeit, an den deutschen Tormann Robert Emke erinnert, der sich vor exakt fünf Jahren das Leben nahm, wird Depression kaum angesprochen. Das Thema geht verloren zwischen den inflationären Berichten über Burnout-Kliniken oder Digital-Fasten und der verständlichen Angst, durch Suizid-Berichte Nachahmer zu animieren. Daher ist die #notjustsad-Aktion prinzipiell gut, rückt sie doch eine weit verbreitete Krankheit ins Rampenlicht. Wenn wir auf diesem Weg erfahren, dass vier Millionen Deutsche und 400.000 Österreicher davon betroffen sind.

Und wenn darüber informiert wird, wie und wo man sich helfen lassen kann. Wenn Betroffene durch die Schilderungen anderer zwar nicht richtig aufgemuntert werden, aber zumindest für kurze Zeit das Gefühl bekommen, dass sie nicht allein sind. Und wenn darüber aufgeklärt wird, dass Depressionen manchmal besser werden oder sogar ganz verschwinden können. Dennoch hinterlässt die Aktion auch ein paar Fragen: Ist wirklich jeder Tweet eine authentische Schilderung eines depressiven Menschen? Wo verläuft die Trennlinie zwischen einer durch ein punktuelles Ereignis ausgelösten Verstimmung und der klinisch diagnostizierten Krankheitsform? Und dann sind da natürlich die Trolle, die schimpfen und wettern. Weil sie mit dem „Psychomüll“ der anderen nicht behelligt werden wollen oder manchen #notjustsad-Twitterern Effekthascherei oder Jammerei unterstellen. Andere fragen obergescheit: „Schon wieder eine Kampagne der Pharmaindustrie im Gange“?

Die Bloggerin Ada Blitzkrieg, alles andere als ein Troll, aber zumindest ehrlich, stellte fest, sie fühle sich statt besser nur noch trauriger, wo sie jetzt wüsste, „dass alle anderen auch depressiv sind“. Wobei „alle anderen“ auch wieder eine Übertreibung ist. Die Tweets können Betroffenen vielleicht eine Ablenkung oder das Gefühl vermitteln, nicht allein mit ihrer Krankheit zu sein. Und allen anderen in Erinnerung rufen, dass hinter jedem noch so mutig-frechen, pointierten Twitterer in erster Linie ein Mensch steht, der Schwachstellen hat. Doch um das Thema Depression zu enttabuisieren, braucht es mehr als ein paar tausend Kurznachrichten und eine gemeinsame Klammer, zB Texte über Therapieformen und Adressen für Hilfesuchende. Die aktuelle Hashtag-Parade kann aber jedenfalls ein guter Anfang sein. Was meint ihr?

Hilfe bei Depressionen oder Suizidgedanken:

Psychiatrische Soforthilfe: 01/31330 rund um die Uhr, http://www.psd-wien.at/psd/

Telefonseelsorge (Rufnummer 142) ist kostenlos

Kriseninterventionszentrum Wien: 01 / 406 95 95  (Mo-Fr: 10 – 17 Uhr); www.kriseninterventionszentrum.at

Für Kinder und Jugendliche: Rat auf Draht (Rufnummer 147)

in Deutschland: Deutsche Depressionshilfe: kostenlose Hotline unter 0049 (0)800-3344533

Die alte Buchhandlung der Juristen: 225 Jahre rund um das Schottentor

Jubiläum. Der Kuppitsch ist mehr als eine Anlaufstelle für Wiens Jusstudenten. Die Buchhandlung hat auch eine bewegte Geschichte hinter sich.

So nüchtern klangen einst öffentliche Anzeigen zu Firmenjubiläen: „Über die Geschichte der Firma Kuppitsch, die im Kulturleben der Stadt Wien immerhin eine Rolle gespielt zu haben scheint, ist mit Ausnahme der trockenen Daten nicht viel zu schreiben.“ Dies sind die Worte einer undatierten Anzeige der Österreichisch-Ungarischen Buchhändler-Correspondenz, die wohl in den späten Zehner-Jahren des 20. Jahrhunderts erschienen sein muss. Die trockenen Daten der Buchhandlung Kuppitsch wurden in den vergangenen hundert Jahren um viele gar nicht trockene Geschichten angereichert. Nur der Satz „Jurisprudenz ist die Hauptstärke der Firma“ trifft heute (zumindest teilweise) immer noch zu, schließlich ist der Kuppitsch an der Ecke Schottengasse/
Helferstorferstraße nach wie vor erste Anlaufstelle für Jusstudenten und Professoren aus dem benachbarten Juridicum.

Das vergangene Jahrhundert war für den Kuppitsch, der diesen Herbst sein 225-jähriges Bestehen feiert, jedenfalls turbulenter als die ersten hundert Jahre. „Und es ist erstaunlich, wie wenig man im Grunde aus der 225-jährigen Geschichte weiß. Vermutlich hat sich in 200 Jahren nicht so viel getan wie in 25“, sagt Michael Kratochvil, der die Buchhandlung seit einigen Jahren leitet. Gegründet wurde die Buchhandlung 1789, und sie befand sich damals noch an der Adresse Schottenring 8. Erst 1821 trat Matthäus Kuppitsch in das Geschäft ein und gab ihm seinen heutigen Namen. Nach einigen Besitzerwechseln begann 1886 der jüdische Lehrbub Arnold Schlesinger als Gehilfe, übernahm 1902 die Firma und führte sie bis zum Anschluss Österreichs 1938, bei dem die Buchhandlung arisiert wurde. Schlesingers Frau nahm sich aufgrund der Umstände ein Jahr später das Leben. 1942 starb auch Schlesinger, bis  heute ist unklar, ob er ebenfalls den Freitod wählte oder durch das NS-Regime zu Tode kam. Besser erging es Schlesingers Tochter Margarete und ihrem Mann Otto Günther – sie konnten das Konzentrationslager Dachau durch glückliche Umstände verlassen und ihnen gelang die Ausreise in die USA. 1950 kehrten die beiden mit ihren Töchtern Zita und Monika nach Wien zurück und sie traten wieder in die Buchhandlung ein. Der Kuppitsch ist eines der wenigen Geschäfte, das nach dem Zweiten Weltkrieg restituiert wurden.

Mann mit Buchhändler-Gen

Heute gehört die Buchhandlung den zwei Töchtern der Familie Günther und ihren Nachkommen. Geschäftsleiter ist seit einigen Jahren Michael Kratochvil, der selbst aus einer Salzburger Buchhändlerfamilie kommt. Eigentlich, fällt ihm auf, ist der Buchhandel in Wien und ganz generell fest in weiblicher Hand. Da ist er als Mann zwischen den durchaus bekannten Wiener Buchhändler-Persönlichkeiten Anna Jeller, Rotraut Schöberl und Petra Hartlieb fast eine Ausnahme. Stören tut das den dreifachen Familienvater nicht.

Seit 16 Jahren werkt er für den Kuppitsch. Seither wurde die kleine Dependance im Jonas-Reindl aufgegeben (dort ist jetzt ein Sushi-Stand) – die Zweigstelle im Alten AKH gibt es noch -, der zweite Stock im Stammgeschäft ausgebaut, dort finden heute regelmäßig Veranstaltungen statt. Bis heute ist der Kuppitsch eine der wenigen Buchhandlungen, die ein vollwertiges CD-Sortiment und eine ziemlich gut sortierte Zeitschriftenecke haben. Dass der Kuppitsch einen Onlineshop hat und auch E-Books verkauft, ist für Kratochvil selbstverständlich. „Der Leser sollte entscheiden dürfen, wie er sein Buch lesen möchte, und auf die Beratung des Buchhändlers trotzdem nicht verzichten müssen. Auch wenn wir lieber ein Buch über den Ladentisch reichen, statt per E-Mail einen Download-Link verschicken.“ Kratochvil ist kein lauter Kämpfer gegen den globalen Konkurrenten Amazon, sondern sieht sich als sanfter Aufklärer.

Amazon schade auch dem Finanz- und Wirtschaftsstandort Österreich, weil das Unternehmen hier keine Steuern bezahle, keine Arbeitsplätze schaffe. Er glaubt, die Leser würden umdenken, wenn ihnen das bewusst werde. Zudem würden sie die Bücher über den Onlineshop jeder österreichischen Buchhandlung schneller bekommen als via Amazon, die ihre Bücher aus Deutschland schicken. Gerade während der soeben angelaufenen BuchWien und Lesefestwoche könne man das gar nicht oft genug wiederholen.

Serienschau: „Transparent“ – Papa trägt Frauenkleider

"Transparent", Foto: Amazon

Auch die größten Kritiker des Onlineversandhändlers Amazon werden zugeben müssen: Die neue Serie „Transparent“ hat was – und ist ein klarer Angriff auf Netflix.

"Transparent", Foto: Amazon
„Transparent“, Foto: Amazon

Es sind vor allem negative Schlagzeilen, mit denen der US-amerikanische Onlineversandhändler Amazon zuletzt aufgefallen ist. Mitarbeiterstreiks in Deutschland, globale Proteste gegen das Aussterben des Buchhandels und die Übernahme der US-amerikanischen Zeitung „Washington Post“ haben das Image des Konzerns beschädigt. Man ist zunächst also skeptisch zurückhaltend, wenn man hört, dass der Onlinesupermarkt jetzt auch Serien produziert.

Eröffnet wurden die Amazon Studios bereits 2010, seit gut einem Jahr werden Online-Serien wie die Polit-Comedy „Alphahouse“ beinah wie am Paketzustellungsfließband produziert (und bei Nichterfolg auch wieder eingestellt). Ende September ging die jüngste Streamingserie „Transparent“ online. Und bisher müssen auch die größten Amazon-Kritiker zugeben, dass dem Onlinehändler damit eine unterhaltsame Independent-Serie aus der Feder von Jill Soloway („Afternoon Delight“) gelungen ist.

Vordergründig geht es darin um Familienvater Mort Pfefferman (grandios gespielt von Jeffrey Tambor, bekannt aus den Serien „Arrested Development“ und „Larry Sanders Show“ und den „Hangover“-Filmen)  der mit fast siebzig Jahren beschließt, endlich offen als Frau zu leben. Der erste Anlauf, seine drei erwachsenen Kinder, allesamt in ihren Dreißigern, über sein weibliches Ich Mora aufzuklären, scheitert. Stattdessen erklärt er, er werde die Familienvilla im Westen von Los Angeles verkaufen. Die Kinder, die zuvor noch ungerührt spekuliert haben, ob ihr Vater an Krebs erkrankt sei, zanken sich um das Haus. Erst nach und nach erfahren die Kinder von seinem jahrzehntelang geheim gehaltenen Wunsch, sich als Frau zu geben. Wir Zuseher sehen in Rückblenden, wie er diesem Wunsch jahrzehntelang nur heimlich in Hotelzimmern nachgab. Nur seine Ex-Frau wusste von „dieser kleinen Sache“, die er da hatte.

Schon bald wird klar, worum es in dieser Serie eigentlich geht: Während der Vater spät, aber doch weiß, wie er leben will, kämpfen seine Kinder in der Mitte ihres Lebens um den richtigen Platz. Ohne zu viel zu verraten, sei hier ein kleiner Abriss über die Hauptfiguren gegeben: Sarah, die älteste Tochter der wohlhabenden, jüdisch-säkularen Familie Pfefferman, vergrub nach dem Studium sowohl ihre lesbischen Neigungen als auch sämtliche berufliche Ambitionen im Vorgarten ihrer schicken Villa. Als zweifache Mutter und Ehefrau eines wohlhabenden Mannes und trotz Haushaltshilfe und Kindermädchen vom Hausfrauendasein überfordert, trifft sie auf ihre einstige Jugendliebe Tammy und verliebt sich Hals über Kopf in sie.

 

Intimes Familiendiagramm

Bruder Josh ist als Musikproduzent vor allem an seiner Karriere interessiert, hat aber Schwierigkeiten, sich länger an ein und dieselbe Frau zu binden. Was mitunter an dem ungesunden Verhältnis zu seiner ehemaligen Babysitterin liegen könnte, mit der er seit seinem 15. Lebensjahr eine sexuelle Beziehung hat. Nesthäkchen Ally ist zwar „out of the box smart“, wie ihr Vater sagt, „aber sie hat Schwierigkeiten, irgendwo anzukommen“. Ohne Job und ohne festen Partner schlittert sie durch ihren Alltag. Fans der Serie „Girls“ wird die Darstellerin der Ally als verrückte Schwester von Adam bekannt sein – Schauspielerin Gaby Hoffmann allein lohnt es, „Transparent“ anzusehen. Ein bisschen unrealistisch und deshalb ärgerlich ist bloß, wie schnell sich die Familienmitglieder daran gewöhnen, dass ihr Vater plötzlich als Frau auftritt; auch die Trennungen, Partnerwechsel und sogar eine Abtreibung gehen fast schon kalifornisch „easy“ und ohne allzu große Szenen über die Bühne. So funktioniert  das im echten Leben selten. Wenn Tochter Sarah mit ihrem Dad, der jetzt eigentlich eine zweite Mum ist, am Poolrand sitzt und über „all those crazy things“ spricht, lobt sie beiläufig den Nagellack auf seinen Fußnägeln: „Schöne Farbe“. Bei der Kosmetikerin waren sie natürlich schon. Da geht es viel um Oberflächliches, wäre da nicht die Szene, als Mora und ihre Töchter zum ersten Mal gemeinsam auf die Damentoilette gehen und Mora von einer anderen Frau attackiert wird, die ihre halbwüchsigen, kichernden Töchter vor „diesem Perversen“ schützen will. 

Auch wenn sich selten vorhersagen lässt, wie sich Serien entwickeln, steht jetzt schon fest: „Transparent“ wird sicher kein massentauglicher Hit wie der Fantasy-Mehrreiher „Game of Thrones“, der CIA-Thriller „Homeland“ oder die Adelsschmonzette „Downton Abbey“, dürfte aber jedenfalls Fixstarter bei der nächsten Emmy-Verleihung sein – und in Fortsetzung gehen. Staffel zwei ist längst fixiert.

„Transparent“ ist eine weitere unterhaltsame Visitenkarte des aufgeklärten, liberalen A-Schicht-Amerikas. Hier darf jeder leben, wie und lieben, wen er will, auch wenn manche – wie Familienvater Mort – erst mit siebzig Jahren ihren Neigungen folgen. Dem kommerziell orientierten Unternehmen Amazon darf man allerdings unterstellen, den Plot bewusst superliberal und provokant (mit vielen Sexszenen) angelegt zu haben, um Netflix Konkurrenz zu machen. Schließlich ist der Onlinesender in den USA nach dem Politdrama „House of Cards“ noch viel erfolgreicher mit der Frauengefängnis-Serie „Orange is the New Black“, in der die Hauptfigur lesbisch ist. Amazon legt nun mit einem Transgender-Papi, einer lesbischen Tochter und einem Sohn mit einem sexuellen Mutterkomplex nach.

„Transparent“ ist die Westküsten-Fortsetzung der Ostküsten-Serie „Girls“. Wie bei den fünf bis zehn Jahre jüngeren Mädchen aus Manhattan drehen sich die Figuren um die Frage: Wie soll man leben? Die hochgradig neurotische, aber lustige Suche der Darsteller nach der Antwort darauf, unterlegt mit einem sehr feinen Folk- und Rock-Soundtrack (u.a. mit dem passenden Song „Your Mess is Mine“ von Vance Joy), gespickt mit lustigen Dialogen zwischen den Familienmitgliedern (grandios auch die Ex-Frau von Mort alias Mora Pfefferman) ist sehenswert. Mit Amazons Ausbeutung seiner Mitarbeiter und den Auswirkungen auf den Buchhandel muss man trotzdem nicht einverstanden sein.

Transparent. Zehn Folgen à 30 Minuten. Seit Mitte November alle Folgen über Amazon Prime auch in Österreich abrufbar.

Die unerträgliche Leichtigkeit des Scheiterns

Logo_fisch+fleisch_RGB Ist Euch vielleicht auch schon aufgefallen. Dass das Scheitern seit einiger Zeit so richtig in Mode gekommen ist. Es ist die häufigste Ausrede für den geringeren digitalen oder technologischen Fortschritt, den der deutschsprachige Raum im Vergleich zu Amerika oder Asien vorzuweisen hat. Es ist der kleinste gemeinsame Nenner aller Gegenwartspessimisten. Egal, ob bei den Technologiegesprächen im Tiroler Bergdorf Alpbach, beim Wiener Startup-Großfestival Pioneers in der Hofburg, in Essay-Sammelbänden, am Titel der aktuellen Ausgabe des Wirtschaftsfeuilletons „Brandeins“ oder bei Gastauftritten weit gereister Medien- und Digitalexperten: Immer fällt irgendwann das berühmte Beckett-Zitat. Immer können sich Vortragende und Diskutanten darauf einigen, dass es um dieses „Try again. Fail again. Fail better“ geht. Und immer wird seufzend festgestellt, dass es Österreich an einer gesunden Fail-Kultur mangelt. 

Das mag sein. Aber keiner hat mir bisher erklären können, was eine gesunde Fail-Kultur eigentlich ist. Anstatt ständig romantisch das Scheitern als Mittel zum Zweck oder wie Thomas Edison, der Erfinder oder Verbesserer von Glühbirne, Telefon und Gramophon, als schmerzhaften Weg zum Erfolg zu bezeichnen, wäre mir wohler, wenn die vielen Strategen und Trendexperten konkreter werden würden. Ich will Beispiele sehen! Welcher Manager darf sich noch weiterhin in seinem Chefsessel drehen, wenn er nicht die zuvor selbst gesteckten Ergebnisse bringt? Welcher TV-Chef darf sich bei sinkenden Quoten, welcher Zeitungsmanager bei sinkender Verkaufsauflage längere Zeit auf der Fail-Better-Floskel ausruhen (es sei denn ihm gehört Sender oder Zeitung)? Scheitern ist nicht immer ein fruchtbringender Lernprozess, der uns weiser, reifer und besser macht. Manchmal ist es sogar existenziell bedrohlich, lebensverändernd oder zumindest himmelschreiend unfair. Nicht nur bei der vierten verpassten Bürgerlich-Recht-Prüfung oder dem „Leider nein“ beim Führerschein-Zweitantritt. Etwa, wenn der Pitch beim Großkunden zum dritten Mal an das Konkurrenzunternehmen geht, eine Operation zu schweren Komplikationen führt und und und. Das Scheitern-Argument klingt ein bisschen wie die sinnentleerte Tröst-Floskel der Großeltern an ihre Enkel, die erste Erfahrungen mit Blut, Schmerz oder sonst irgendeiner unangenehmen körperlichen Blessur machen: „Bis du heiratest, ist es wieder gut.“ Weil niemand kann genau sagen, wo das Scheitern aufhört und das Gewinnen beginnt. 

Daher freu ich mich auf den ersten Vortrag, bei dem der Redner ehrlich zugibt, dass man in manchen Punkten eben nicht unbedingt Scheitern sollte. Auf das erste Panel, bei dem auch mal erklärt wird, wie denn diese in Österreich angeblich so wenig verbreitete Fail-Kultur gelernt werden kann. Im Fachjargon nennt man das vielleicht „Differenzierung“. Denn wir Österreicher sind zwar vielleicht keine Experten im gesunden Umgang mit Scheitern, aber Meister im „Schauen wir mal, dann werden wir schon sehen“-Denken. Eine weitere Ausrede für dieses austriakische Laissez-faire haben wir eigentlich nicht gebraucht.

Leitartikel: Europa sucht ein Wundergesetz, das Google in die Schranken weist

So zögerlich wie Europa bisher gegen Google auftrat, wirkt der Vorschlag einer EU-Digitalabgabe fast lieb. Wer Gesetze einführt, muss sie auch ernst nehmen.

Vollmundig und offensichtlich voll motiviert hat der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger angekündigt, er wolle eine europaweite Abgabe für die Online-Nutzung geistigen Eigentums einführen. Das ist prinzipiell keine schlechte Idee, gäbe es da nicht schon gefühlte siebzig Abgaben für geistiges Eigentum pro Mitgliedsland und die Frage, wie man diese mit einer neuen EU-Abgabe vereinen kann. Und würde dieser Vorschlag nicht schon wieder so auffällig darauf abzielen, den Suchmaschinenriesen Google endlich in die Knie zu zwingen.
Dass sich jener aber nicht so leicht einschüchtern lässt, sollte sich herumgesprochen haben. Gerade Oettinger müsste das in seiner Heimat, Deutschland, mitbekommen haben. Dort zeigt Google gerade, wie leicht es ist, die Verlage vor sich herzutreiben. Große Medienhäuser, allen voran Axel Springer, die Funke Mediengruppe (die in Österreich 50 Prozent an der „Krone“ hält) und der Burda-Verlag, haben monatelang um ein Lizenzrecht für die Nutzung der kurzen Textanrisse auf Google gebettelt und es prompt bekommen. Doch Google nimmt Gesetze wie dieses mit ungerührtem Schulterzucken zur Kenntnis und sagt: „Dann eben nicht.“ Statt die seit August 2013 geltende Gebühr für die Textanrisse zu zahlen, kündigte der Konzern an, diese nicht mehr anzuzeigen. Worauf die Verlage vergangene Woche einknickten und reihenweise eine „widerrufliche Gratiseinwilligung“ für die Nutzung der Texte erteilten. Es gibt nun also ein Gesetz, und keiner hält sich daran. So zwingt man Netzmonopolisten sicher nicht in die Knie.

Wenn Oettinger seine Ankündigungen im „Handelsblatt“ ernst nimmt, die sein Büro am Dienstag ohnehin als „grobe Vorstellungen“ relativiert hat (siehe rechts), sollte er sich genau überlegen, wie eine solche Abgabe aussehen könnte und sich im Vorfeld um eine Einigung mit Google und anderen Digitalkonzernen bemühen. Das alles kostet Zeit, weshalb Oettinger am Dienstag vor allem für seinen gewagten Zeitplan von einem Jahr Gelächter von Legisten und Netzpolitikern geerntet hat. Bis 2016 will er nicht nur die Abgabe, sondern auch ein einheitliches europäisches Urheberrecht einführen. Sein Vorgänger, Michel Barnier, als EU-Binnenmarktkommissar bisher für das Thema zuständig, hat das in fünf Jahren nicht geschafft.

Ähnlich wie Oettinger lässt sich auch der österreichische Verlegerverband VÖZ nicht von der deutschen Google-Niederlage einschüchtern. In regelmäßigen Abständen fordert der VÖZ ein Leistungsschutzrecht nach deutschem Vorbild. Freilich soll es weniger schwammig und mutlos formuliert sein als im Nachbarland. Aber ist der VÖZ wirklich gewappnet, wenn Google auch Österreichs Medienhäusern droht, die Textausschnitte nicht mehr anzuzeigen? Und ziehen wirklich alle Verlage im Land an einem Strang?

Ebenso wenig wie in Deutschland. Dass die Verlage so wenige Chancen mit ihrer durchaus legitimen Forderung auf Bezahlung ihrer Textausschnitte hatten, hat auch damit zu tun, dass sie sich untereinander so uneinig waren. Zeitungshäuser wie „Die Zeit“ oder „Die Süddeutsche“ hatten sich der Lizenzrechtforderung gar nicht erst angeschlossen. Nur der Springer-Verlag stand und steht an vorderster Front im Kampf gegen Google. Vorstand Mathias Döpfner schrieb sogar einen Brief an Google-Chef Eric Schmidt, in dem er gestand, in einem Abhängigkeits-Angst-Verhältnis zu Google zu stehen. Döpfners Brief wirkte auf Netzexperten so naiv wie die deutsche Kanzlerin Merkel, wenn sie von „diesem Internet“ spricht, das „für viele von uns noch Neuland“ ist. Die Mächtigen in Wirtschaft und Politik glauben, dass über Jahrzehnte gewachsene Entwicklungen im Netz leicht revidierbar sind.

Wenn sich Europa auf eine Lex Google einigt, muss sie diese mit allen Konsequenzen durchziehen. Auf halbem Weg die Meinung zu ändern geht dann nicht mehr.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 29.10.2014)

 

Translation:

 

Europe looks for a miracle law designed to rein in Google

In view of how timidly Europe has been facing off against Google so far, the suggestion of an EU-wide digital copyright fee is almost quaint. Newly introduced laws should be taken more seriously.

In a grandiose and very motivated speech, German EU-commissioner Günther Oettinger has announced his goal of introducing a Europe-wide fee for the online use of any intellectual property. This is not a bad idea per se, if it wasn´t for the around seventy or so intellectual property fees per member state that are already in existence, begging the question whether they would all be compatible. Also, this proposition, like others before, has a whiff of being aimed directly at Google, so as to finally bring it to its knees.

The fact that the Google board isn´t very easily intimidated should be common knowledge and particularly Oettinger, hailing from Germany, must have noticed this in his own country. There, Google is currently demonstrating the perfect way to keep publishing houses on a short leash. Media giants like Axel Springer, Funke Mediengruppe (holding 50% of the Austrian daily “Krone“) and Burda Media had to beg for the licensing rights to Google news snippets for months and were finally approved. Google, however, has acknowledged similar laws with serene indifference and a“suit yourselves“ attitude.
To wit – instead of yielding to a law in place since August 2013 and paying the required fee, Google announced instead, they would just not be featuring the snippets anymore. Which in turn forced the publishing houses to cave and grant Google a“revocable consent”agreement to reproduce content. So there is a law, but nobody complies. This is not the way to stare down a giant internet monopolist.

Oettinger´s announcements, featured in Germany´s business newspaper „Handelsblatt“were softened on Tuesday by a qualifying statement from his office calling them „rough ideas“ (see page right), but if Oettinger is at all serious about a revised law, he should think carefully about the exact details of this EU-wide fee, ideally to be immediately followed by an agreement with Google and other digital media corporations. This will require quite a bit of time, which is why Oettinger´s sporty deadline of one year from now was received with amused derision by legislators and network policy makers. By 2016, he wants to have introduced the mandatory fee as well as a European standardized copyright law. His predecessor, Michel Barnier, Commissioner for the Internal Market and therefore responsible for this conundrum before Oettinger, did not manage to find a solution in five years.

Similar to Oettinger, the Austrian publishing association VÖZ refuses to be flustered by the small Google victory in Germany, instead regularly demanding German-style neighboring rights, but less vague and with a little more oomph. But is the VÖZ prepared for a threat by Google to revoke Austrian news snippets? And are all publishing houses really on the same page?

And just like in Germany, the answer is no.
The chances publishers had to get paid for their snippets, an entirely legitimate demand, were very small primarily due to constant discord amongst each other. Newspapers like „Die Zeit“ and „Die Süddeutsche“ stayed away from the licensing rights demands from the start. Only the Springer publishing house was first in line in the fight against Google. Managing Director Mathias Döpfner even wrote a personal letter to Google CEO Eric Schmidt, bizarrely confessing to a rather one-sided relationship to Google based on dependency and fear.
Internet experts labeled Döpfner´s missive “naïve”, not unlike Chancellor Merkel´s comments about „that internet“ being „virgin territory for many of us“.

The great and powerful in the worlds of economy and politics think that even online developments that have organically grown over decades can now be very easily revoked.

So if Europe ever agrees on a Lex Google, it will have to be very rigidly adhered to by everyone involved. Changing tack halfway through will then no longer be possible.

Paid Content: Und jetzt die Nachrichten

New York Times und Axel Springer schießen drei Mio. Euro in das holländische Start-up Blendle, ein iTunes für Nachrichten.

Utrecht/Berlin/New York. Ein bisschen Größenwahn gehört beim Gründen dazu. Nicht weniger als „eine Revolution“ hatten die beiden 27-jährigen Holländer Alexander Klöpping und Marten Blankesteijn im Mai beim Launch ihrer Onlineplattform Blendle angekündigt. Dieser Revolution sind sie in der Nacht auf Montag ein großes Stück näher gekommen.

Nur sechs Monate nach dem Start sind zwei der wichtigsten internationalen Medienhäuser auf das Start-up aus Utrecht aufmerksam geworden: Die New York Times Company und der deutsche Axel Springer Verlag beteiligen sich zu 25 Prozent an Blendle und investieren drei Millionen Euro. Die Gründer halten weiter 75 Prozent.

Aber was ist Blendle genau? Der Einfachheit halber und mit dem eingangs erwähnten Größenwahn ausgestattet verglichen sich Klöpping und Blankesteijn von Anfang an mit Apples iTunes. Ähnlich wie der digitale Kiosk für Musik, Filme und Bücher ist Blendle eine Plattform (und eine App) für Nachrichten. Artikel können auf der Seite einzeln bezogen werden, um 20 bis 40 Cent oder mehr. Beim Start in Holland waren so gut wie alle großen Medienmarken aus Holland an Bord, und das, obwohl die meisten Zeitungshäuser gerade erst ihre eigenen Bezahlsysteme für Online-Nachrichtenseiten errichtet hatten. Von den 130.000 Abonnenten, die Blendle laut eigenen Angaben hat, geben erst 20 Prozent regelmäßig Geld für Texte aus. Der Rest surft gratis auf der Plattform und vernetzt sich mit Freunden oder Kollegen.

Deutsche Konkurrenz Readly

Springer und New York Times sehen in Blendle ein weiteres Werkzeug, das dazu beitragen kann, eine Bezahlkultur für Journalismus im Netz zu etablieren. Mit einem einfachen Bezahlsystem sei vor allem eine junge, internetaffine Generation von Lesern eher bereit, für journalistische Inhalte zu zahlen.

Springer bekommt allerdings schneller Konkurrenz als gedacht. Schon am Montag ging das deutsche Portal Readly online. Dort können die Inhalte der Bauer Media, der Funke Mediengruppe, des IT-Verlags IDG (etwa „PC Welt“) und das Vice-Magazin (70 Magazintitel zum Start) für eine Flatrate von 9,99 Euro (ähnlich wie bei Netflix oder Spotify) gekauft werden.

Bei Blendle ist die Investitionssumme von drei Millionen Euro noch eine relativ überschaubare Summe. Wenn die Plattform allerdings in vielen anderen europäischen Ländern angenommen wird, könnte damit nach dem schwedischen Spotify das nächste große Digitalprojekt aus Europa kommen. Und zwar eines, das vielleicht wirklich eine Revolution für die Zeitungsbranche bringt. Darauf zumindest hoffen die großen Verlage wie Springer und New York Times.

Der nächste Marc Zuckerberg kommt aus Europa

Logo_fisch+fleisch_RGBJede Branche hat ihre Schwächen, die Medienbranche hat Kongressitis. Kaum eine andere Profession spricht so gern und häufig über sich und den eigenen Untergang. Vergangene Woche erst wieder saßen in München deutschsprachige Medienmacher in großen Runden auf flauschigen Sofas und erzählten sich gegenseitig, wieso was nicht mehr oder nie funktionieren wird. Ein digitaler Streamingdienst à la Spotify oder ein Digitalkiosk à la iTunes sei für die Zeitungsbranche schwer bis gar nicht umsetzbar, war man sich einig. Weil: Zu teuer. Technisch schwierig. Und überhaupt. Die Rache der mutigen Einzelgänger an den voreiligen Medienmachern sind aufgehende Ideen: Just in der Nacht auf Montag wurde bekannt, dass im deutschen Nachbarland Holland gerade so ein iTunes-für-Zeitungen funktioniert. Die Rede ist von dem Startup mit dem zugegeben wenig eingängigen Namen „Blendle“.

Im Frühjahr ging der digitale Kiosk online, in dem Zeitungen und Magazine ihre Inhalte artikelweise verkaufen können. Diesen Bauchladen für Geschichten kann man sich als Mischung aus Spotify und itunes vorstellen: als soziale Plattform, auf der ich mir ein Profil anlegen und Freunden folgen kann, nur läuft der Austausch eben ausschließlich über Inhalte von Zeitungen. Interviews, Kommentare, Berichte, Reportagen. Ein Paradies für Nachrichtenjunkies. Schon kurz nachdem ich von Blendle gehört und mit den Gründern Alexander Klöpping und Marten Blankesteijn geredet hatte, war ich mir sicher, von diesen beiden Herrn und ihrer Geschäftsidee schon bald wieder zu hören. Nur sieben Monate nach dem Start und 130.000 niederländische Abonnenten später haben die ersten großen Medien-Angler angebissen: Die New York Times Company und der deutsche Axel Springer Verlag beteiligen sich gemeinsam zu 25 Prozent an Blendle und investieren drei Millionen Euro. Das ist noch eine relativ geringe Summe in der sonst so für Superlative anfälligen Digitalmedienbranche. Dennoch zeigt sich, ähnlich wie bei dem aus Schweden kommenden Spotify (das heute über 40 Millionen Nutzer hat), dass digitale Innovationen nicht immer und automatisch im Silicon Valley geboren werden müssen.

Noch steht fest, dass nur 20 Prozent der niederländischen Blendle-Abonnenten auch wirklich für Artikel bezahlen, der Rest surft gratis auf der Plattform. Ein Prozentsatz, den Digitalexperten als ungewöhnlich hoch einstufen. Aber natürlich ist längst noch nicht klar, ob Blendle außerhalb Hollands überhaupt Erfolg haben wird. Doch wenn Unternehmen wie die New York Times und Axel Springer freiwillig an Bord gehen, ist das nicht unbedingt das schlechteste Zeichen. Wer weiß, vielleicht kommt der nächste Marc Zuckberg, Steve Jobs oder Bill Gates endlich einmal aus Europa.

Ein guter Tag fährt Straßenbahn

Thomas Weber, Herausgeber der Gratisqualitätsmagazine „The Gap“ und „Biorama“, hat ein gar nicht langweiliges Buch zum etwas langweiligen Thema Nachhaltigkeit verfasst.

Die Band Mondscheiner gibt es längst nicht mehr. Unter anderem, weil sich Sänger Manuel Rubey seit einigen Jahren auf die Schauspielerei konzentriert. Trotzdem hätte eines ihrer Lieder das Zeug zur Titelmelodie von Thomas Webers erstem Buch: „Dieser Tag fährt Straßenbahn“ heißt es in dem Gutelaunesong. Er passt deshalb gut zu Webers Ideenfibel, weil er darin beschreibt, was ein guter, umweltschonender Tag ist. Mit der Straßenbahn (oder generell mit öffentlichen Verkehrsmitteln) zu fahren gehört da natürlich dazu.

Der St. Pöltner Residenz-Verlag ist wohl aus mehreren Gründen mit einer Buchanfrage auf Weber zugegangen. Der langjährige Herausgeber des 1997 gegründeten Kultur- und Musikmagazins „The Gap“ ist nicht nur ein profunder Literatur- und Popkenner, sondern interessiert sich auch schon seit Langem – und nicht erst seit der Gründung des Magazins „Biorama“ 2005 – für Themen rund um Landwirtschaft, Tiernutzung und einen ressourcenschonenden Lebensstil. Obwohl er zuerst noch dachte, das Thema Nachhaltigkeit sei nun wirklich schon „totgekaut“, kam ihm dann aber doch schneller als gedacht eine spezielle Buchidee. Vor einigen Jahren hatte er über die Initiative „Ein guter Tag hat 100 Punkte“ des Vorarlberger Unternehmens Kairos und der Designagentur Integral Ruedi Baur geschrieben. Mit einem Koordinatensystem wird dabei „die abstrakte CO2-Verbrauchsmetapher, in der niemand denken kann“, so Weber, verständlich gemacht. Jeder Mensch sollte nur 6,8 kg CO2 pro Tag verbrauchen, um Welt und Klima im Gleichgewicht zu halten. Tatsächlich verbraucht der Industriestaatenbewohner derzeit im Schnitt 450 kg. Aber wer weiß schon, wie viel wir verbrauchen, wenn wir ein Huhn essen, Kaffee trinken, Lift fahren oder uns die Hände beim warmen Luftgebläse trocknen lassen? Das 100-Punkte-System soll dabei helfen, die eigene Tagesbilanz auf der Website einguterttag.org zu berechnen. Ein Huhn aus dem Billigsupermarkt (250 g) schlägt in der Tagesbilanz mit 29 Punkten zu Buche, ein Biohuhn hingegen nur mit 15. Genauso viele Punkte kostet ein Mal Wäschewaschen. Kaffee ist mit vergleichsweise geringen 0,8 Punkten (0,6 bei Biokaffee) eine ressourcenschonende Angelegenheit. Und dass man sich mit der eingangs erwähnten Straßenbahn umweltschonender fortbewegt als mit dem Auto oder Bus, weiß jedes Vorschulkind. Noch weniger Punkte, nämlich null, verbrauchen wir nur beim Radfahren und Zufußgehen.

Hat Weber also nur eine gute Idee gefunden und nacherzählt? So einfach hat er sich das nicht gemacht. Sein Buch basiert zwar auf der Eingutertag-Idee, will aber vor allem Lust auf nachhaltiges Leben machen, frei von Reformhaus-Romantik oder „rustikalem Vintage-Retro-Leben“. Weber zieht seine eigenen Schlüsse und stöberte neue und zum Teil sogar für ihn, den „Biorama“-Experten, unbekannte Initiativen auf, die den nachhaltigen Lebensstil nicht nur erleichtern, sondern auch nach einem schönen Wochenend- oder Urlaubsprogramm klingen. Weber rät etwa, jeder Mensch sollte sich einen Bauern suchen. Also einen Landwirt, bei dem man Obst, Gemüse oder Tierprodukte bezieht und mit dem man auch eine Gesprächsbasis hat.

Bei Webers insgesamt 30 Handlungsanleitungen überraschen gerade jene rund um Haltung und Nutzung von Tieren. Anders gesagt: Strenge Veganer wird Webers Buch vermutlich enttäuschen. Im Kapitel „Zelebriere den Tierfreitag“ erläutert er die Idee von Kochbuchautorin Katharina Seiser, einmal pro Woche bewusst auf tierische Lebensmittel zu verzichten. Den Rest der Woche können Fleisch und Tierprodukte aber ruhig auf dem Speiseplan stehen. Auch die Auseinandersetzung mit der Jagd empfiehlt Weber. „Würden alle acht Milliarden Menschen auf Fleisch oder überhaupt auf tierische Produkte verzichten, hätten wir ein riesiges Problem.“ Pflanzenfressende Nutztiere wie Rinder und Ziegen würden dem Menschen schließlich dabei helfen, Landschaften zu nutzen. Der Mensch kann frisches Gras oder Heu nicht verdauen.

Iss Innereien

Feinschmecker werden den Vorschlag „Iss Innereien“ gern beherzigen. All jenen, die bisher Herz, Leber oder Niere mit Naserümpfen abgelehnt haben, erklärt Weber, wie wichtig es ist, alle Teile eines Tieres zu essen. Überraschend ist auch der Ratschlag „Iss bedrohte Tiere“: „Nur die Pflanzen und Tiere, die wir nutzen, werden wir tunlichst erhalten wollen.“

Ohne erhobenen Zeigefinger oder Insiderangeberei rät Weber also zu unkonventionellen („Miete eine Waschmaschine“ oder „Werde Bauer auf Zeit“) und auch bekannten („Radle zur Arbeit“, „Repariere, anstatt wegzuwerfen“) Nachhaltigkeitsmethoden für den Alltag. Für manche mag das Endprodukt eine „Gutmenschenfibel“ sein. Thomas Weber stört das nicht. „Da ich kein Problem damit habe, als Gutmensch bezeichnet zu werden. Ich weiß nicht einmal, was das ist.“ Zudem ist er selbst nicht in allen Bereichen vorbildlich. „Ich habe ein Auto, aber ich fahre auch Rad und mit öffentlichen Verkehrsmitteln.“

Kann der zweifache Vater und viel beschäftigte Herausgeber von zwei Magazinen seinem letzten Ratschlag „Lebe intensiver, arbeite weniger“ wirklich folgen? Er versucht es zumindest. Um das Buch zu schreiben, habe er etwa „die WM ausgelassen“. Kein großer Verzicht für den wenig Fußballinteressierten. „Ein Match anzusehen kann Teil eines intensiven Lebens sein, aber manchmal heißt intensiver zu leben auch, auf etwas zu verzichten.“ Schon mehr geschmerzt hat ihn, dass er ein Jahr lang „de facto keine Belletristik“ gelesen habe. Das hole er jetzt nach.

In seinem Buch will Weber den Lesern vor allem klarmachen, dass es sich lohnt, bei Themen wie Jagd, Fleischkonsum, Energieverbrauch oder Freizeitgestaltung genauer hinzusehen und sich die Kreisläufe von Lebensmittelproduktion und Tierhaltung bewusst zu machen. Nicht alles, was sinnvoll oder umweltschonend klingt, ist gut – und umgekehrt.

Buch und Termin:

„Ein guter Tag hat 100 Punkte“ von Thomas Weber (Residenz, 224 Seiten, 18 Euro).

Buchpräsentation am 28.10., 19h, Wien 9, Hartliebs Bücher, Porzellangasse 36.

Thomas Weber, Martin Strele und Katharina Seiser (Initiatorin des „Tierfreitags“) diskutieren.

 (Credit: Clemens Fabry)

 

Die erste Frau an der Burg: Kunst kann Chefin

Logo_fisch+fleisch_RGB Sensation! Das Burgtheater hat nun also die erste Direktorin seiner auch schon wieder 126 Jahre alten Geschichte. Und tatsächlich waren sich Theaterschaffende und -kritiker selten so einig wie bei der Bestätigung von Karin Bergmann vergangene Woche. Aus der interimistischen Leiterin des Hauses am Ring wird nun die offizielle Direktorin bis 2019. Sie wird mehr als die Chefin für Notfall und Übergang. Abgesehen von Vorgänger Matthias Hartmann und dessen Vertrauten und Rechtsberatern trauen ihr so gut wie alle Kommentatoren zu, die Burg mit ruhiger Hand, wenn auch mit wenig(er) Pomp und Budget aus der Krise zu führen. Aber darum soll es hier nicht gehen. Spätestens mit der Besetzung von Karin Bergmann ist etwas andereres nicht mehr zu übersehen: Die Führungsetagen der österreichischen Kulturwelt sind erstaunlich weiblich. Und das ganz ohne Quote und in einer Branche, die im Grunde noch immer als Männerdomäne gilt. Nicht nur die Burg, auch das Volkstheater wird ab kommendem Jahr mit Anna Badora von einer Frau geführt. Und vor allem im Museumsbereich sind Frauen stark vertreten: So werden mit Sabine Haag (Kunsthistorisches Museum), Agnes Husslein (Belvedere), Karola Kraus (MUMOK) und Gabriele Zuna-Kratky (Technisches Museum) vier der größten und wichtigsten Museen des Landes von Frauen geleitet. Auch kleinere Häuser wie das Jüdische Museum (Danielle Spera), das Salzburger Museum der Moderne (Sabine Breitwieser) und das Bank Austria Kunstforum (Ingried Brugger) haben Chefinnen, die Salzburger Festspiele mit Helga Rabl-Stadler eine nimmermüde Präsidentin.

Wobei wir nicht zu früh jubeln sollten. Denn auffallend bleibt, dass die Frauendichte nur in einigen Kulturbereichen höher und nur im Museumsbereich richtig hoch ist. Die beiden Direktorinnen an Burg- und Volkstheater sind fast eine Premiere, hätte nicht Emmy Werner fast zwanzig Jahre (von 1988 bis 2005) vorgezeigt, dass auch Frauen ein Theater führen können. Weit und breit keine Frauen in Sicht sind zum Beispiel an den Klassikbühnen. An der Staatsoper gibt es nicht einmal eine künstlerische Leiterin. Und die Philharmoniker lassen Frauen gar erst seit 1997 mitmusizieren, bis heute hat das weltberühmte Orchester nur sieben Musikerinnen. Und fällt Ihnen auf Anhieb eine berühmte Dirigentin ein? (Falls ja, bitte melden. Die könnten wir zum Dirigat des Neujahrskonzerts vorschlagen.)

Aber gut, immerhin bei den Museen und Theaterbühnen geht etwas weiter. Bleibt also nur die Frage, wieso es im Kunstbereich leichter ist, Frauen bis ganz oben vordringen zu lassen als etwa im Bankwesen oder im Unternehmensnetz der ÖIAG? Die Politik hat schließlich da (zumindest bei Bundestheatern und Bundesmuseen) wie dort (ÖIAG) mehr als ein Wörtchen mitzureden.

Adieu Facebook! Hallo Ello, oder was?

Logo_fisch+fleisch_RGBJetzt sind wirklich fast alle da. Der Physikprofessor, der einen in der Oberstufe so gequält hat, die Klassenkollegin aus der Volksschule, die man seither eigentlich nicht vermisst hat, die Gastmutter aus dem Spanisch-Austauschprogramm, ja, sogar der Chef und seine Sekretärin und der Vater der Ex-Freundin. Marc Zuckerberg, der stets so harmlos dreinblickende Gründer von Facebook, hat sie alle angelockt und so existieren im Achtmillionen-Einwohner-Land Österreich mittlerweile auch schon gut 3,5 Millionen Facebook-Konten. Natürlich sind wir auch hier wie überall sonst im Land, nämlich überaltert. Aber auch die Jungen sind hier, ganz anders als gern behauptet wird – oder sind 1,8 Millionen Nutzer unter 30 etwa nichts? Es macht jedenfalls den Eindruck, dass die Unkenrufe vom langsamen Sterben des alles dominierenden Netzwerk etwas voreilig waren. Oder doch nicht? Es könnte sein, dass sich die Facebook-Chatrooms bald in Windeseile leeren werden und Marc Zuckerberg mit seinem börsennotierten Unternehmen Probleme bekommt. Den Eindruck bekommt man zumindest, wenn man den Hype um ein quietschneues Netzwerk beobachtet. Ello heißt die geheimnisvolle US-Plattform, bei der man sich zuerst einmal auf einer Liste eintragen lassen muss, um überhaupt eine Einladung für die Registrierung zu bekommen. Das Logo ist ein schwarzer runder Kreis mit einem weißen Smiley-Strichmund.

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Viel mehr Auskunft kann ich selbst noch nicht geben. Denn ich habe mich zwar, neugierig wie ich bin, sofort auf die Warteliste setzen lassen, werde seither aber nur in regelmäßigen Abständen informiert, dass man sich noch in der Beta-Phase befindet und die eifrig arbeitenden Mitarbeiter von Ello alles daran tun, die unzähligen Anfragen, die seit einiger Zeit eintrudeln, zu bearbeiten. Auch meine Anfrage ist darunter, ich soll mich bitte noch schön brav gedulden. Menschen, die schon eine Einladung erhalten haben, geben unterschiedliche Auskunft. Für die einen zählt vor allem der Reiz, als Erste einen neuen virtuellen Raum betreten zu dürfen. (Es soll übrigens ein schlichter, schwarz-weißer Raum sein.) Für die anderen, die Ehrlichen, ist es in diesem Raum aber vor allem eines: langweilig! Weil da wo sie sind, kaum jemand anderer ist. Manche nennen Ello bereits das „Öko“- oder „Bio-Facebook“. Weil es werbefrei und ohne Sortieralgorithmus funktioniert und sich an den Datenschutz seiner Nutzer hält. Umgekehrt sind die Benutzerregeln etwas lax, so muss zum Beispiel niemand seinen echten Namen eingeben. Es ist also ein Facebook ohne negative Eigenschaften.

Schön, denke ich mir, vor allem, weil ich gelesen habe, dass man zwar wie beim großen, kommerziellen Bruder mit „Friends“ befreundet sein kann. Wenn einem aber die ständigen Updates der Großtante oder des Ex-Kollegen auf die Nerven gehen, gibt es die Möglichkeit, diese Nervensägen in den sogenannten „Noise“-Ordner zu schieben. Dort wo Lärm drauf steht, muss ich aber eben nicht ständig hineinschauen, wenn ich nicht will. Dass das Ello-Like „Love“ heißen soll ist hingegen alles andere als kreativ. Vergeben wir nicht schon bei Instagram und Pinterest virtuelle Liebe in Form von kleinen Herzchen.

Alles in allem bringt mich der plötzliche Ello-Wahnsinn vor allem durcheinander. Und ich frage mich: Warum sind wir auf der Suche nach neuen virtuellen Räumen und wundern uns, dass wir dort alleine sind? Wieso ist immer das Neue, Unbekannte spannend? Und wieso drehen wir nicht unsere Smartphones ab und gehen in den Wald, wenn wir Einsamkeit und Stille suchen? Wieso verbinde ich mich in der digitalen Welt nicht einfach mit wem und wann ich will? Die Freundschaftsanfrage der Ex-Kollegin und des Physikprofessors muss ich nicht annehmen. Auf Facebook nicht und auf Ello nicht. Denn auch dort werden sie hinkommen, wenn alle anderen da sind.

 

Translation:
Adieu Facebook! Hello Ello, or what?
Now they are almost all here. The bullying physics teacher, the classmate from primary school (missed by no one), the host mother from the Spanish forein exchainge programme, even the boss and the ex-girlfriend’s dad.
Marc Zuckerberg, the ever so innocent looking founding father of Facebook, has lured them all in; thus, there are already more than 3.5 million facebook accounts in Austria, a land of a mere 8 million souls. Of course we are in Austria as overaged in Facebook land as we are in the real world. But contrary to popular opinion, the youngsters are here too – 1.8 million Facebook users under the age of 30 are not nothing, right?
All those prophecies of doom about the network’s impending death seem to have been rather rash. Or maybe not? It may be that the Facebook chatrooms will soon empty as fast as a theatre after a fire alarm and Marc Zuckerberg’s market-listed enterprise may tumble into oblivion. This is the impression one gets when observing the hype around a brand new social network. This mysterious American platform answers to the name of Ello and seems to be really exclusive: one even has to sign up to request and invitation to register. The logo is a round, black disc with a white smiley mouth inside.
This is all the information I am able to provide for now. To satisfy my curiosity I have already requested an invitation, but now the only messages I receive are about them being in the beta phase and about their incredibly busy employees who supposedly spend all their time and energy answering the inpouring requests. Mine is among them, thank you for your patience.
People who have received invites give various accounts of their experiences. For some it is all about the thrill of being one of the first to enter this new virtual space. (It is a minimalist, black and white space.) For the others, the more honest ones, this new space is merely one thing: boring. Because there is hardly anyone there. Ello has already been nicknamed the “organic Facebook“ by some. Because it is free of ads and those ominous algorythms that determine who sees what in their timeline. And it abides by privacy policies. On the other hand, the user regulations are a bit lax; for instance, members don’t have to state their real name. So it is like Facebook without the bad stuff. Nice, I think, especially after reading that one can be friends with “friends“, just like in Facebook. But when one is annoyed by a plethora of great aunty’s or the former colleague’s status updates, one has the option to dump the buggers in the so-called “noise folder“. And one is not forced to look at that noise label all the time, either. A little less creative is the Ello version of the “Like“ Button. It is called “Love“. Aren’t Pinterest and Instagram already peppered with virtual, heart-shaped love?
All in all this whole Ello craze triggers mainly one thing for me: confusion. And I ask myself: why do we search for new virtual spaces and are surprised that we are all alone when we get there? Why is it always the new and unknown that excites us the most? Why don’t we turn off our smartphones and venture out into the woods if we are yearning for some quiet time alone? Why don’t we connect with whomever we want, whenever we want in the digital world? I don’t have to accept the friend request by my old physics teacher or the former colleague. Neither in Facebook nor in Ello. Because they will go there too, eventually, when everone else is there.