Ela Angerer: „Wir sollten viel geduldiger mit uns sein“

Die Autorin und Fotografin Ela Angerer erzählt in ihrem Debütroman „Bis ich 21 war“ von einer wohlstandsverwahrlosten Kindheit in einem Vorarlberger Schloss. Einiges davon hat sie selbst erlebt. 

Presse am Sonntag.

Soeben ist Ihr erster Roman „Bis ich 21 war“ erschienen. War Ihnen bewusst, dass das Wörtchen „autobiografisch“ auf dem Klappentext Fragen beim Leser auslösen wird?
Ela Angerer: Das Buch ist in der Tonlage einer Halbwüchsigen geschrieben. Damit wird klar, dass nicht alles erfunden sein kann, aber es ist kein Tatsachenbericht. Mir ging es darum, dass wir alle so gut wie nie über das große Thema Kindheit sprechen. Freunde wollen wir damit nicht langweiligen, unsere Eltern wollen wir nicht kränken. Wenn wir darüber sprechen, dann sind es oft nur Allgemeinplätze und das, was von der Familie offiziell zur Wahrheit erklärt worden ist. Sobald Menschen über ihre Kindheit sprechen, fallen Sätze wie Kalendersprüche.

… und der Rest wird beim Psychotherapeuten verhandelt.
Wenn überhaupt. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man sich ganz schön lange an seiner Kindheit abarbeitet. Bei mir hat es 50 Jahre gedauert.

 Sie schildern eine Jugend im materiellen Überfluss, in einem Schloss in Vorarlberg mit viel Personal und noch mehr Foie-gras- und Kaviar-Vorräten im Keller. Sie schreiben von Drogenerfahrungen und sexuellen Abenteuern mit gleichaltrigen Männern und Frauen. Die Frage ist schrecklich platt, aber sie liegt auf der Hand: Was von all dem ist real, was erfunden?
Es ist ein Spiel mit Wahrheiten, die zu einem Kunstprodukt verdichtet werden. Es gibt einen inneren Kern, der entspricht einer Wahrheit, die ich kenne. 

Sie erwähnen, wie lähmend es ist, wenn Menschen nichts mit ihrer Zeit anzufangen wissen. Kennen Sie diese Lebens-Fadesse?
Das kennen, glaube ich, viele, die so wie ich im Bürgertum groß geworden sind. Durch nicht vorhandene Geldsorgen entsteht auch ein großes Vakuum. Viele Menschen wollen darüber nicht nachdenken, wer oder was sie sind und sich lieber ablenken. Besonders für Kinder ist es schlimm, wenn ihnen keine Inhalte vorgelebt werden. Natürlich können die Eltern auch andere Inhalte für wichtig empfinden als man selbst. Das heißt nicht, dass die Eltern falsch oder böse sind, aber man muss sich zu ihnen verhalten, sich gegen sie positionieren, um ein eigenständiger Mensch zu werden. 

Warum hat die Auseinandersetzung mit der Kindheit bei Ihnen so lange gedauert?
Auch ich war lange abgelenkt. Ich hatte einen erfüllten Beruf als Journalistin, habe ein Kind großgezogen. Irgendwann ist mir aufgefallen, dass mich viele Geschichten aus meiner Kindheit begleiten, und wann immer Stille um mich herum ist, melden die sich. Dem wollte ich nachgehen. Ich war erstaunt, wie lange diese Stimme aus der Kindheit sich meldet. 

Wie sind die Reaktionen auf das Buch?
Ich werde ganz oft gefragt, was meine Mutter zu dem Buch gesagt hat.

Und Sie antworten wie?
Ich sage wahrheitsgemäß: Ich weiß es nicht, weil ich nicht weiß, ob sie es schon gelesen hat. Meine Mutter ist eine sehr intelligente Frau, ich gehe davon aus, dass sie sich von sensationsgierigen Nachbarinnen und Freundinnen nicht verrückt machen lässt, sondern weiß, dass es sich um Literatur und keinen Tatsachenbericht handelt. 

Wie ist das Verhältnis zu Ihrer Mutter?
Kompliziert, und es war auch nicht immer so gut wie es heute ist. Das hat auch mit mir zu tun, weil ich, um mich selber zu finden, auf Distanz zu meiner Mutter gehen musste. Sie ist eine sehr beeindruckende Person, ich musste aus ihrem Schatten treten. Es gehört zu den größten Tabus in unserer Gesellschaft, zu den Eltern und vor allem zur Mutter auf Distanz zu gehen. Ich habe viele Freunde, vor allem Frauen, die jammern, dass sie ihre Eltern treffen müssen. Die sind in meinem Alter und lassen sich bis heute von ihren Müttern terrorisieren. Nur wenige trauen sich zu hinterfragen, ob die eigene Mutter zum engsten Freundeskreis gehören muss. 

Ist das in der nächsten Generation anders?
Mein Sohn ist da viel brutaler, aber ich fordere es auch nicht. Natürlich kann man sagen: Wenn nichts mehr gilt, was hält uns dann noch zusammen, außer die Familie? Ich gehöre eher zu den Menschen, die sich eine Wahlfamilie geschaffen haben. Ich arbeite mich mein ganzes Leben an der Familie ab, liebe meine Mutter aber natürlich. Wenn ich etwas geschafft habe in meinem Leben, dann, dass ich in meiner Familie die erste Frau bin, die für sich selbst sorgen kann. Unsere Mütter, die sich für die Familie entschieden haben, können das nicht verstehen, auch unsere Probleme nicht, weil sie denken: „Hättest halt einen g’scheiten Mann geheiratet und liebe Kinder bekommen.“ 

Was stimmt ist, dass Sie in Vorarlberg aufgewachsen sind. Wie hat Sie das geprägt?
Sehr. Aber es ist ein Unterschied, ob man als Kind von Vorarlbergern in Vorarlberg aufwächst oder – so wie ich – als Kind von zugereisten Wienern. Schon meine Eltern waren dort nicht sehr heimisch, und vielleicht war es deswegen auch für mich schwierig. Meine Theorie ist, dass aus den österreichischen Bergregionen die spannendsten Menschen kommen, weil die Landschaft die Menschen prägt. Die schroffen Berge rufen etwas in einem hervor. Da muss man schon eine Gegenkraft entwickeln, um dem standzuhalten. Nicht umsonst kommen so viele Künstler aus Vorarlberg. 

Wann haben Sie Vorarlberg verlassen?
Mit 18 bin ich nach Wien gegangen. Die Schönheit der Landschaft war mir zu wenig. Ich war auf der Suche nach viel mehr Reibung. 

Und wie war es dann in Wien?
Ehrlicherweise hatte ich am Anfang Angst, U-Bahn zu fahren. Aber sagen wir so: Ich bin sehr schnell heimisch geworden dank dem U4. Ich bin eine von denen, die dort viel Zeit verbracht hat. Da stand man neben Falco oder Helmut Lang am Rand der Tanzfläche und hatte das Gefühl, man ist jetzt bei etwas Wichtigem dabei. 

Stichwort U4. Bis heute zählen Sie zu einer bestimmten Wiener Medien-Kulturblase rund um die Autoren Joachim Lottmann, Thomas Glavinic und Schauspieler Philipp Hochmair. Sehen Sie das auch so?
Ja. Das ist auch der Grund, warum ich zu den Leuten gehöre, die Wien wunderbar finden. Ich war eine Zeit lang viel in Berlin und bin draufgekommen, dass Wien etwas hat, was andere Städte nicht haben. Diese ernsthafte Literatur- und Theatertradition. Hier wird mit einer anderen Ernsthaftigkeit gelebt und über Kunst nachgedacht. In Berlin reicht es, dass man jeden Abend auf irgendeiner Vernissage aufkreuzt, es geht relativ wenig um Inhalte. Hier finde ich, zumindest in dem Umfeld, in dem ich mich bewege, muss man schon etwas zu sagen haben. Zudem sind alle Künstlerfreunde, die ich habe, extrem fleißig.

Sie begeistern vor allem männliche Künstler. Autor Joachim Lottmann schwärmt in seinen Büchern von Ihnen. Wie würden Sie Ihre Rolle beschreiben? Sind Sie Muse?
Muse bin ich sicher nicht. Ich glaube, ich bin einfach eine Gesprächspartnerin, und es gibt Leute, die behaupten, dass ich auch eine sehr gute Freundin bin. Aber ich reflektiere stark auf andere und brauche den Austausch. Ich könnte nie allein auf einer Alm sitzen und ein Buch schreiben. 

Wird es eine Fortsetzung der Geschichte über das Mädchen aus dem Schloss geben?
Ich bekomme sehr viel Post von Leuten, die mir schreiben, sie warten auf eine Fortsetzung. Aber es wäre zu einfach, wenn das nächste Buch den Arbeitstitel hätte: „Bis ich 42 war“. Ich habe schon ein neues Buch begonnen und natürlich fließen da auch wieder eigene Erfahrungen ein. Aber es wird überhaupt nichts mit meiner Biografie zu tun haben.

Was die Menschen zu interessieren scheint, ist, wie jemand mit so einer krassen Kindheit erwachsen wird?
Man wird nicht von einem Jahr zum anderen ein vernünftiger und ausgeglichener Mensch. Retrospektiv kann ich sagen, wir sollten alle viel geduldiger mit uns selber sein, auch mit anderen Menschen, denen wir dabei zusehen, wie sie Irrwege gehen. Mit einer so wie im Buch beschriebenen Kindheit braucht man länger als bis 22, bis man es auf die Reihe kriegt. Mein Glück war, dass ich im Beruf meinen Mann stehen musste als Journalistin. Das hat mein Leben geregelt. Ich bin eine Schulabrecherin. Im Internat habe ich kurz vor der Matura alles hingeschmissen. Ich war also jung und dumm. Später wollte ich allen beweisen, dass ich verlässlich bin und Leistung erbringen kann. Vielleicht ist man mit einer komplizierten Kindheit sehr leistungsorientiert und schafft dann sehr viel. 

Frau Angerer, darf man Sie auch fragen…

1. . . ob die im Buch geschilderten Drogenerfahrungen Ihre eigenen sind?
Ich habe wirklich viele Drogen genommen, aber das ist zwanzig Jahre her. Seitdem habe ich nie wieder etwas angerührt und würde das auch nicht mehr tun. Drogen sind auch eine Suche, man muss nur rechtzeitig damit aufhören.

2… ob Sie dank Ihrer eigenen Erfahrungen bei diesem Thema strenger oder milder mit Ihrem Sohn waren?
Ich hab mich sicher mehr gefürchtet, weil ich wusste, was alles passieren kann. Aber ich habe es meinem Sohn damit auch sehr langweilig gemacht, für ihn war Drogenkonsum keine Grenzüberschreitung. Die Eltern seiner Generation gehen alle noch in Clubs und wissen, wie man einen Joint baut. Damit wird das Thema uninteressant.

3… ob es etwas gibt, worüber Sie nie schreiben würden?
Meinem Sohn habe ich versprochen, dass ich nie über ihn schreiben werde.

Steckbrief

Ela Angerer, (Jahrgang 1964) wächst in Vorarlberg auf, zieht mit 18 nach Wien. Nach einer Lehre für Handdruck beginnt sie im Journalismus Fuß zu fassen, schreibt u.a. für den „Standard“, bis 2013 für den „Kurier“; und fotografiert.

Ab 2010 gibt sie die Reihe „Moderne Nerven“ im Czernin-Verlag heraus. Bisher erschienen „Abwärts“, „Brennstoff“ und „Porno“. Im Rabenhof inszeniert sie die Kurzgeschichten aus „Porno“ für die Bühne. 

Aktuell. Im September erschien ihr Debütroman „Bis ich 21 war“ (Deuticke). Seit Mai betreibt sie die Agentur Mega Kommunikation, die vor allem auf das Erstellen, Optimieren und Betreuen von Websites sowie Social-Media-Maßnahmen spezialisiert ist. Angerer hat einen erwachsenen Sohn und lebt in Wien.
www.elaangerer-fotografie.com

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 05.10.2014)

„Girls“: Jetzt schreibt sie auch noch

Lena Dunhams Buch „Not That Kind of Girl“ sollte man wie ihre Serie auf Englisch konsumieren. Hinter den flapsigen Texten über Nacktheit, Hypochondrie, Vergewaltigung und ihre Familie steckt ganz schön viel Weisheit für eine 28-Jährige.

Lena Dunham (Credit: AutumndeWilde)Wer noch Zweifel an Lena Dunhams Herkunft und Erziehung hatte, verliert sie nach Lektüre dieses Buches. Hier plaudert eine junge Frau aus liberalem Manhattaner Künstlerhaushalt, die schon als Dreijährige „mit anderen Töchtern von Downtown-Rebellinnen“ feministische Treffen besuchte, „während unsere Mütter die nächste Demo organisierten“. Sie wächst in einer Familie auf, „die mich liebte und keine größeren Sorgen hatte außer, welche Galerie wir am Sonntag besuchen sollten und ob der Kinderpsychologe bei meinen Schlafproblemen weiterkam“. 

Das, was Lena Dunham hier als wunderbare Kindheit beschreibt, ist Grund für viele, die 28-Jährige nicht ernst zu nehmen oder gar zu verachten. Weil eine wie sie vom echten Leben nichts verstehen könne. Auf der anderen Seite gibt es viele, vor allem Frauen aller Altersstufen, die sie verehren. Vielleicht weil sie erkennen, dass man nach einer solchen Kindheit auch eine ganz andere hätte werden können. Oberflächlich, faul, sich auf Geldpolster und Ruhm der Künstlereltern ausruhend oder aus Mangel an existenziellen Problemen sich auf die Perfektion ihres Äußeren konzentrierend.

„Mein Boss bin ich“
Stattdessen hat Dunham neben gesundem Selbstbewusstsein offenbar auch viel Gescheites von ihren Eltern mitbekommen, früh zu schreiben und drehen begonnen und als 24-Jährige mit „Girls“ eine der spannendsten Serien über junge Erwachsene im Manhattan der 2010er-Jahre erfunden. In der spielt sie nicht nur die Hauptrolle, sondern zeigt auch einen ungezwungen Umgang mit ihrem nach Hollywood- oder Prêt-à-porter-Maßstäben alles andere als perfekten Körper und dem Thema Sex. Auch das übrigens brachte ihr gleichermaßen Kritik wie Lob ein. Schauspielerin Mia Farrow etwa forderte nach dieser einen, ganz besonderen „Girls“-Folge (Staffel Zwei), in der Dunham nur in Unterhosen Tischtennis spielt und mit einem makellosen Mann schläft, via Twitter einen Golden Globe für Dunham.

Den Preis hat sie ein Jahr später wirklich bekommen, und der Nacktheit widmet Dunham in „Not That Kind of Girl“ sogar ein ganzes Kapitel. Dass sie sich so gerne nackt zeigt, ist wohl ebenso Folge einer liberalen Kindheit als auch einer Fotografen-Mutter, die mit ihrem eigenen Körper experimentierte. Als Lena als junger Teenager in den Ferien mit einem gleichaltrigen Freund Fahrrad fuhr, kam es ihr unfair vor, dass sie T-Shirt trug und er nicht. „Ich hielt an, zog mein T-Shirt aus, und wir strampelten schweigend weiter.“ Eine Szene, die aus „Girls“ stammen könnte. Dass sie in ihren Filmen oft nackt ist und Sex-Szenen dreht, verschaffe ihr auch eine Form von Kontrolle über Set und Szene. „Doch ich tue es vor allem, weil mein Boss es von mir verlangt. Und mein Boss bin ich.“

Natürlich muss man Lena Dunhams vordergründig oberflächlichen Plauderton mögen, vor allem weil man zwischen den bisweilen flapsigen Nonsense-Sätzen gern die tiefgründigeren über Selbstachtung, Verlust und den Umgang mit dem eigenen Körper überliest. Es lohnt sich also mehr als sonst, das Buch – so wie übrigens auch die Serie – im englischen Original zu konsumieren. Obwohl die deutsche Ausgabe soeben fast zeitgleich mit der englischen erschien, lesen sich Dunhams Aufzeichnungen im Original authentischer. Dass bei der Übersetzung die feinen Zwischentöne verloren gehen, zeigt schon der Untertitel: Aus dem Englischen „A young woman tells you what she’s ,learned‘“ wird im Deutschen die ironiefreie Version „Was ich im Leben so gelernt habe“.

Entbehrlich sind die Buzzfeed-Listen
Schon 2012 unterschrieb Dunham den 3,5-Millionen-Dollar-Vertrag mit Random House. Dem Druck, den eine solche Summe auslösen muss, hielt sie stand und lieferte eine bunte, ziemlich ehrliche Erzähl-Collage einer starken jungen Frau, die ihre Jugend und ihr junges Erwachsenenleben reflektiert. Entbehrlich sind nur die an Buzzfeed erinnernden Listen wie „15 Dinge, die ich von meiner Mutter gelernt habe“ oder „die Top Ten meiner Ängste in Sachen Krankheiten“. Doch apropos Krankheit. Neben den Erfahrungen mit „Fieslingen“, auf die sie früher reinfiel und von denen einer sie vergewaltigte, schildert sie ihre frühe Besessenheit vom Tod und die Therapien, die sie aufgrund ihrer Zwangsneurose und ihrer Angstzustände macht. Auch eine behütete Kindheit lässt genug Platz für Irregularien und Abnormitäten. Eine der berührendsten Geschichten ist die über das Coming-out ihrer jüngeren Schwester Grace, das sie zwar unerlaubt der Mutter verrät, an der aber das besonders liebevolle Verhältnis in der Familie spürbar wird.

Längst ist Dunhams Ruhm so groß, dass selbst ihr freundlich gesinnte Menschen genau beobachten, ob sich die Frau verbiegen lässt, etwa plötzlich radikal abnimmt. Bis auf die Aufregung um eine Fotostrecke in der „Vogue“, in der Dunham sichtbar schlanker und makelloser aussah als real, war das bisher nicht der Fall. Ihr Buch hat sie neben ihrer Familie der 2013 verstorbenen (Drehuch-)Autorin Nora Ephron („Harry und Sally“) gewidmet. Mit dieser wird sie nun gern verglichen. Dabei ist Dunham, ganz wie ihre „Girls“-Protagonistin Hanna Horvath sagt, „eine Stimme einer Generation“ – und daher eigentlich unvergleichbar mit den vielen Stimmen früherer Generationen.

ZUR PERSON

Lena Dunham, geboren 1986 in New York City, die ältere von zwei Töchtern des Malers Carroll Dunham und der Fotografin Laurie Simmons. Sie begann schon früh Texte zu schreiben, studierte Kreatives Schreiben am Oberlin College. Mit ihrem ersten Langfim „Tiny Furniture“ machte sie erstmals auf sich aufmerksam. Seit 2012 ist sie Drehbuchautorin, Produzentin und eine der vier Hauptdarstellerinnen in der HBO-Serie „Girls“. Staffel vier wird Anfang 2015 ausgestrahlt. Das Buch „Not That Kind of Girl“ erschien soeben auf Englisch bei Random House und am Dienstag auf Deutsch bei S. Fischer (Übersetzt von Sophie Zeitz und Tobias Schnettler, 304 Seiten, 20,60 Euro). Random House bezahlte Dunham im Vorfeld ein 2,8 Millionen-Euro-Honorar.

Red mit mir! Die Generation Selfie bekommt eine Standpauke

Logo_fisch+fleisch_RGBWir wollen nicht belehrt werden, eigentlich von niemandem. Nicht von unserem Bundes-Fischer-Heinzi oder der Innenministerin, schon gar nicht von selbst ernannten Experten für eigentlich eh alles und am allerwenigsten von Prominenten, die mit unserem Leben so viel zu tun haben wie die Wiener Copacabana mit dem Originalstrand in Rio de Janeiro. Seit sich Schauspielerin Gwyneth Paltrow dazu berufen fühlt, immer und überall Ernährungs- und Entpartnerungstips zu geben, hat sie rapide an Beliebtheit verloren.

Und jetzt also Kirsten Dunst. Die Schauspielerin, die schon die verwöhnte Dann-Sollen-Sie-Doch-Kuchen-Essen-Herzogin Marie Antoinette verkörpert hat und sich in Lars von Triers „Melancholia“ schmerzhaft der titelgebenden Stimmung auslieferte, will der Generation Selfie den Spiegel vorhalten. Sie tut das mit einem zweieinhalb Minuten langen Kurzfilm namens „Inspirational“, der seit kurzem durch das Netz geistert (Copyright: Filmemacher Matthew Frost).

Darin sieht man die Schauspielerin vor ihrer Villa vermutlich irgendwo in Los Angeles auf den soeben bestellten Uber-Fahrer warten, als sie von zwei jungen, vorbeifahrenden Frauen erkannt wird: „Are you Kirsten Dunst?“, fragen die, stürzen unter lauten „Cool! Cool!“-Rufen aus dem Auto und zücken ferngesteuert ihre Smartphones. Ohne zu fragen knipsen sie Selfies mit „Kirsten, Fucking!, Dunst“. Die weiß kaum wie ihr geschieht, fragt die zwei freundlich: „Do you wanna talk or anything? You can ask me a question.“ – „Wollt ihr vielleicht mit mir reden? Mich irgendetwas fragen?“. Stille. Ungläubige Blicke. „Kannst Du mich taggen?“, fragt eine der Frauen bevor sie wieder ins Auto steigt und jubelt, sie habe bereits 15 Likes für ihr Kirsten-Dunst-Selfie bekommen.

Gut, wir haben die Botschaft verstanden. Zwei oberflächliche junge Frauen haben sich die Chance auf eine Plauderei mit einem Star entgehen lassen, weil sie nur an der Trophäe Selfie interessiert waren. Und die dummen Frauen, das sind gewissermaßen wir alle. Die ständige Knipserei ist tatsächlich zur Verhaltens-Epidemie geworden. Auf Konzerten, am Strand, in den Bergen oder beim Rundgang durch das Museum of Modern Art in New York oder das Van Gogh-Museum in Amsterdam sieht man Menschen, die Fotos von sich und der Umgebung oder den Gemälden machen anstatt die Situation zu genießen oder das Bild auf sich wirken zu lassen. Wir ehrlich und selbstkritisch ist, gibt zu, dass er den Drang schöne Situationen fotografisch festzuhalten, durchaus kennt. Und am Ende nachzählt, wie viel Daumen oder Instagram-Herzerln er von seinen Freunden bekommen hat.

Kirsten Dunsts Video soll uns zwar an den Kalenderspruch „Seize the Moment“ erinnern, ist aber auch ein bisschen wehleidig. Hier übt eine Prominente Kritik an der neuen Ungezwungenheit von Fans. Selfies mit Prominenten haben die Autogramme abgelöst – und während man den Star noch brav um seine werte Unterschrift auf einem Stück Papier bitten musste, passiert es häufig, dass sich Fans ihre Selfies ganz ungefragt abholen. Die „Downton Abbey“-Darsteller Allen Leech (alias Tom Branson) und Rob James-Collier (Butler Thomas) erzählten unlängst in einem Interview, es komme immer wieder vor, dass sich Fans im Pub neben sie stellen, auf den Handyauslöser drücken und sich mit einem „Cheers, Mate“ verziehen. Die beiden nehmen’s (noch) mit Humor.

Kirsten Dunst macht jedenfalls einen Punkt, wenn sie uns sagen will, dass wir vor lauter Selbstdarstellungssucht in sozialen Netzwerken nicht die unglaublichsten Momente im realen Leben vorüberziehen lassen sollen. Paradox ist nur, dass sie das ausgerechnet mit einem Kurzfilm tut, der nun in sozialen Netzwerken rauf- und runtergespielt wird. Andererseits: anders würde ihn die Zielgruppe vermutlich gar nicht finden.

90 Jahre Radio: Das „Jugendzimmer“ als Tor zur Welt

Das FM4-»Jugendzimmer« gibt es nicht mehr. Erinnerung an den Sommer 1998, in dem ich dort zu Gast war.

Als der Sender FM4 1995 on air ging, eröffnete sich für mich eine neue Welt. Eine mit Musik, die ich bis dato auf Ö3 und in den CD-Verkaufsecken der karg und lieblos bestückten Libro-Filialen nicht entdeckt hatte. Aber auch eine der Satire, der Ironie und des Austauschs. Freitagabend war das Highlight der Woche mit Ster- und Grissemanns „Salon Helga“, deren Humor ich erst nach und nach verstand, und der Techno-Sendung „La Boom De Luxe“, die nach Freiheit klang. Es gab Zeiten, da wollte ich freitags lieber zu Hause bleiben und Radio hören, als mich für die Tanzschule aufzubrezeln und danach in irgendeinen Stadtrandclub zu stellen, schließlich gab es weder Podcasts noch Radio-Streams. Die besten Szenen aus „Salon Helga“ spielten Freundin Carina und ich uns am Samstag in der Schule auf Kassette vor.
Besonders gern hörte ich das „Jugendzimmer“. Elisabeth Scharang besuchte jede Woche andere Jugendliche aus unterschiedlichsten Milieus, ließ sie erzählen und spielte ihre Musik. In meinem Jugendzimmer sitzend fühlte ich mich den mehr oder weniger Gleichaltrigen verbunden.
Im Sommer 1998 nahm ich meinen Mut zusammen und lud die „Jugendzimmer“-Redaktion per Brief (!) in das Ferienlager am Wolfgangsee, in dem ich seit Jahren meinen Sommer verbrachte. Und Scharang kam, sprach mit mir und Sommerlagerfreund Michael und spielte unsere Musik. Ich war während der Sendung viel mutiger als danach, als mir bewusst wurde, wie viel Stumpfsinn ich in der Aufregung geplappert hatte.
Diese Woche hat das „Jugendzimmer“ Sendeplatz (Dienstag, 21 Uhr) und Name („FM4 auf Laut“) gewechselt. Die Sendung höre ich schon lange nicht mehr, aber durch sie bin ich zur Radiohörerin geworden. 

Arianna Huffington: Erfolgsrezept Schlaf

Die Gründerin der Web-Zeitung »Huffington Post« kommt demnächst nach Wien und spricht über das Mediengeschäft. In Berlin stellt sie einen Tag später ihr neues Buch vor, in dem sie für den Acht-Stunden-Schlaf wirbt. Das ist kein Zufall.

Presse am Sonntag am 14. September 2014. Vor einer Woche landete sie in Australien, schon am Mitt woch flog sie weiter nach Neuseeland. Doch Arianna Huffington war in diesen Ländern nicht, um „unter dem Mangobaum“ zu entspannen, wie sie es in einem Interview nennt. Überall, wo sie hinkommt, hat sie Termine, Termine, Termine. Hier eine Buchpräsentation, dort einen Vortrag, dazwischen Gespräche mit Medienschaffenden. Über all das berichtet sie öffentlichkeitswirksam und nicht selten garniert mit Selfies oder Gruppenfotos auf Twitter oder Instagram; wer sie dort direkt anspricht, bekommt mitunter ein freundliches „See you“ zurückgeschickt.

Kurzum: Es fällt ein bisschen schwer, der 64-jährigen Geschäftsfrau ihr eigenes Mantra vom „Weniger ist Mehr“ abzunehmen. Seit Monaten tourt sie mit ihrem neuen Buch „Thrive“ („Erfolg“) – buchstäblich – durch die Welt. Es ist das Erfolgsrezept einer vermeintlich Geläuterten. 2007 erlitt sie einen Zusammenbruch – das war zwei Jahre, nachdem sie die Online-Zeitung „Huffington Post“ gegründet hatte. Ziemlich plastisch schildert sie dieses für sie einschneidende Erlebnis nicht nur im Buch, sondern bei so gut wie jeder Gelegenheit. Damals sei sie vor allem aufgrund von Schlafmangel zusammengebrochen, mit dem Kopf auf den Badewannenrand geknallt und Stunden später in einer Blutlacke liegend aufgewacht. Danach vollzog sie einen für sie radikalen Wandel: Die 18-Stunden-Tage mit nur vier Stunden Schlaf ließ sie sein. Heute versuche sie „90 Prozent ihres Lebens, acht Stunden Schlaf zu bekommen“. Sie arbeite deswegen nicht weniger hart, aber sie achte darauf, „sich aufzuladen und zu erholen“. Es sei ein Irrglaube zu denken, wer auf seinen Körper achte, könne keinen Erfolg haben. Zudem hält es die Social-Media-Heavy-Userin (21.000 Tweets, 1,61 Millionen Follower) für unerlässlich, einmal pro Woche ein paar Stunden „strictly offline“ zu sein. Gerne verlinkt sie zu diesem Zweck auf Artikel wie diesen: „Why your family should go Internet-free on your next vacation.“ Wo die erscheinen? Erraten!

Online Only

Wenn Arianna Huffington am 23. September nach Wien kommt, wird sie weniger über ihr Acht-Stunden-Schlaf-Erfolgsrezept sprechen, als über den Wandel der Medien. Mit ihrer Online-Zeitung „Huffington Post“ hat sie Gespür bewiesen und als eine der ersten ein Online-Only-Medium gegründet. Zu Beginn waren Meinungsbeiträge der wesentliche Bestandteil der Webseite, und die Seite wurde fast ausschließlich von unbezahlten Bloggern bespielt. Erst 2008 entschied sich Huffington, ernsthaften Journalismus zu betreiben und engagierte erfahrene Reporter. 2011 verkaufte sie ihr Unternehmen an den Internetanbieter AOL (kolportierter Verkaufspreis: 315 Millionen Dollar), behielt aber die Leitungsfunktion. Somit wurde aus dem einstigen Blogger-Sammelbecken eine in den USA durchaus respektierte Nachrichtenwebseite. Nicht zuletzt, weil sie 2012 als erstes kommerzielles Onlinemedium den Pulitzerpreis gewann. In der Kategorie „National Reporting“ war der ehemalige „Time“- und „Los Angeles Times“-Journalist David Wood mit einer Geschichte über die psychischen und physischen Schäden der US-Soldaten nach dem Einsatz in Afghanistan und dem Irak aufgefallen.

Doch weil Arianna Huffington eben weniger der Typ „Unter-dem-Mangobaum-Entspannen“ ist, begann sie ihre Marke zu expandieren. Mittlerweile gibt es eine „HuffPo“-Ausgabe für Großbritannien und für Kanada, eine für Japan, eine für Hawaii und je eine für Frankreich, Italien und Spanien. Mitte November kommt eine in ihrer Heimat Griechenland dazu. Genau vor einem Jahr ging die deutschsprachige Ausgabe online und es wäre interessant zu wissen, ob Arianna Huffington bewusst ist, dass diese eher wie eine Mischung aus der sehr frühen „Huffington Post“ und der reinen Unterhaltungsseite „Buzzfeed“ daherkommt. Die „HuffPo Deutschland“ setzt fast ausschließlich auf Copy-and-Paste-Journalismus, Rankings und Listen und produziert kaum selbst Recherchiertes. Die Blogger schreiben wie damals zu Beginn in den USA gratis.

Griechische Wurzeln

Das vielleicht größte Kapital von Arianna Huffington, sagen manche ihrer Wegbegleiter, sei ihre griechische Herkunft. Die mache sie bis heute zu einer so offenherzigen und Türen-öffnenden Person. Als Arianna Stassinopoulos und Tochter eines Zeitungsverlegers wurde sie im Juli 1950 in Athen geboren. Die Ehe der Eltern zerbrach früh, die Tochter aus wohlhabendem Haus zog es mit 18 Jahren nach England, wo sie unter anderem in Cambridge Ökonomie studierte. Mit dreißig lebte sie als freie Autorin, verheiratet mit einem Journalisten in London. Nachdem diese Ehe scheiterte, zog sie nach New York, heiratete den Öl-Tycoon und Republikaner Michael Huffington und bekam mit ihm zwei Töchter. Auch diese Ehe wurde geschieden.

Der Ruf, der Arianna Huffington in den Achtzigerjahren als Autorin von Autobiografien nachhing, war nicht unbedingt der beste. Bei ihrem Buch „Maria Callas“ wurde sie des Plagiats beschuldigt – man einigte sich außergerichtlich auf einen Vergleich. Später behauptete die Kunstgeschichte-Professorin Lydia Gasman, Huffington habe in ihrer Picasso-Biografie aus ihrer unveröffentlichten Dissertation abgeschrieben. Interessanterweise hat die Professorin sich nie gerichtlich dagegen gewehrt. Bis zur Gründung ihres eigenen Mediums gehörte Huffington zur Manhattaner Oberschicht und war bekannt für das eine oder andere Buch (und den Skandal), doch das war’s. Erst mit der Zeitung und in ihren Fünfzigern kamen Ruhm und Erfolg.

In Wien bleibt sie übrigens nur einen halben Tag. Danach geht es weiter nach Berlin, das Büro ihres deutschen Ablegers besuchen und die deutsche Ausgabe ihres Buchs vorstellen. Es heißt: „Die Neuerfindung des Erfolgs“. Sie hätte es auch: Die Rückkehr zum Schlaf nennen können.

TERMIN

Arianna Huffington ist Gast des „future.talk“ der Telekom Austria Diskutieren wird auch der deutsche Medienblogger Stefan Niggemeier. Es moderiert Michael Fleischhacker, Chefredakteur der NZZ.at

Dienstag, 23. 9. 2014, ab 19 Uhr, Atelierhaus der Akademie der bildenden Künste (ehemals Semperdepot). Livestream: www.telekomaustria.com

Zehn Jahre Familienabenteuer: Wenn eine Buchhändlerin schreibt

Porträt. Petra Hartlieb betreibt mit ihrem Mann seit 2004 die gleichnamige Buchhandlung in Wien Währing. Jetzt hat sie ihre Geschichte aufgeschrieben.

index2Noch vor dem Verkaufsstart steht fest, dass nicht mehr viel schiefgehen kann: Die zweite Auflage ist bereits in Vorbereitung, die ersten Kritiken im privaten Umfeld sind überschwänglich (mit einer kleinen Ausnahme, aber dazu später mehr) und die Stammkunden fragen ständig, wann das Buch nun – bitte, endlich! – erscheint. Wobei, eine Sache könnte die Stimmung noch trüben: wenn das Buch öfter als E-Book verkauft wird als über den Ladentisch. Denn wenn schon ein Buchhändler-Selbsterfahrungsreport, dann sollte der auch da besorgt werden, wo er entstanden ist: in der Buchhandlung.

Wer im geschäftigsten Teil Währings wohnt, in der Gegend zwischen Bezirksamt in der Martinstraße und Kutschkermarkt, wird Petra Hartlieb und ihre Familie längst kennen. Allen anderen sei sie kurz vorgestellt: Petra und Oliver Hartlieb betreiben die gleichnamige Buchhandlung in der Währinger Straße. Das Paar übersiedelte 2004 aus Olivers Heimat Deutschland nach Wien und pachtete spontan jene leer stehende Buchhandlung, die es heute betreibt. Mit ihrer Tochter zogen sie in die Wohnung darüber, in der geschätzte 5000 Bücher mehrere Zimmer zieren. Zehn Jahre, einen Riesenumbau und ein zweites Geschäft später (Hartliebs Bücher 2 in der Porzellangasse ist auf französische und italienische Literatur spezialisiert), entschloss sich Petra Hartlieb, ein Buch über das Familienabenteuer zu schreiben.

Buchhändlerhorror: Adventzeit

Dabei kommt Hartlieb ihr journalistischer Hintergrund und eine gewisse Schreibroutine zugute – mit dem Berliner Literaturkritiker Claus-Ulrich Bielefeld schreibt sie seit einigen Jahren Wien-Berlin-Krimis. Nachdem sie ihre Familienmitglieder, neben Mann, Tochter und Hund auch den bereits erwachsenen Sohn, um Erlaubnis gefragt hatte, sie in ihre Geschichte einbauen zu dürfen, war für Hartlieb das Schwierigste, „den richtigen Ton und die richtige Erzählperspektive zu finden“. Sie wollte nicht betulich oder abgehoben klingen, aber auch keine dritte Person ihr Leben erzählen lassen. Also entschied sie sich für die Ich-Form und eine flott-flapsige Sprache. Herausgekommen ist ein kurzweiliger Report über die harten Anfangszeiten in der neuen Nachbarschaft, das stressige Weihnachtsgeschäft, für das sich bereits ab Anfang November die Bücherkisten in der Wohnung stapeln, Softwareprobleme und lange Spaziergänge mit dem Hund. Obwohl man zwischen den Zeilen spürt, wann die Selbstständigkeit im Buchhändlergewerbe und die Verantwortung für mittlerweile zwölf Mitarbeiter an die Substanz gehen, ist das Buch rundum positiv. Und das ist er, der kleine Kritikpunkt, den sich Hartlieb von lieben Freunden und Schriftstellerkollegen anhören muss: Ihre Schilderungen seien fast unglaubwürdig optimistisch, stets stehe bei Problemen ein Nachbar oder Kunde bereit, immer löse sich alles in Wohlgefallen auf. Hartlieb ist das bewusst und sie erinnert ihre liebevollen Kritiker, dass sie hier von wahren Kunden, Mitarbeitern, Familienmitgliedern schreibt. Selbst wenn es gröbere Probleme gegeben haben sollte, hätte sie die unmöglich ganz originalgetreu schildern können.

 Was Hartlieb schon länger umtreibt, ist der Kampf gegen den Onlinehändler Amazon. Sie glaubt, dass die Buchhändlerbranche mittlerweile ein neues Selbstbewusstsein erlangt hat. „Dank der Berichterstattung über das Thema und wegen der Kritik an Amazon.“ Mit ihrem Buch wollte sie auch ihren Buchhändlerkollegen ein Denkmal setzen. Schon vor dem Verkaufsstart bekam sie rührende Post von Kollegen aus Deutschland. Das Interesse an ihrem Buch ist vor allem dort groß. Die Kollegen (und Konkurrenten) in Österreich sind da wohl noch ein bisschen zurückhaltender.

Wie gut vernetzt Hartlieb in Wien ist, zeigt auch ihre Fangemeinde unter Kreativen. Mit Daniel Glattauer tauscht sie sich regelmäßig aus, Kabarettist Thomas Maurer wohnt in der Nähe, ebenso Regisseur David Schalko. Letzterer besorgte sich stets kiloweise Bücher bei Hartliebs. Die Buchhändlerin, neugierig wie sie ist, fragte, was er beruflich mache. Seither sind die beiden befreundet.

BUCHPRÄSENTATION

„Meine wundervolle Buchhandlung“
von Petra Hartlieb ist ab sofort erhältlich (DuMont, 208 Seiten, 18,50 Euro). Das Buch wird am 27. Oktober in der Wiener Hauptbücherei vorgestellt (19 Uhr; Moderation: David Schalko). Die Autorin liest außerdem bei der Buch Wien am 14. November (Messe Wien, 13.15 Uhr).

Regt euch ab! Plädoyer für eine neue Debattenkultur

Ob Bundeshymne, Binnen-I oder Gaza- und Ukraine-Konflikt: Debatten erreichen heute schnell ein menschenverachtendes Niveau – vor allem im Internet. Neue Kommunikationskanäle erfordern auch neue Umgangsformen.

Von Anna-Maria Wallner und Ulrike Weiser

Man kommt kaum an ihnen vorbei, an den Debatten der vergangenen Wochen, die besonders aufgeregt geführt wurden. Vor allem, aber nicht nur im Internet lösen immer öfter Themen, und immer öfter Gender- oder Auslandsthemen eine Welle der Empörung aus. Beispiele gefällig? So gut wie jede Asylwerber-Debatte, der Ukraine/Russland-Konflikt, die Diskussion um die Bundeshymne, ausgelöst durch Volkspopmusiker Andreas Gabalier. Die Binnen-I-Debatte. Der „Nie wieder Judenhass“-Titel der „Bild“-Zeitung, der massenhaft antisemitische Postings zur Folge hatte. Einer der traurigen Höhepunkte innerhalb der ohnehin schon so komplexen Debatte war eine spätnächtliche TV-Diskussion zum Israel/Gaza-Konflikt. ORF-Moderatorin Lisa Gadenstätter sah sich nach dem (nicht sehr geordneten) Livegespräch, bei dem UETD-Chef Abdurrahman Karayazili das Studio verlassen hatte, mit Morddrohungen konfrontiert.

Es sind aber nicht nur die sogenannten „Hassposter“ im Internet, die auffallen. Auch in Leserbriefen oder Kolumnen – wie der von „Krone“-Postler Michael Jeannée – häufen sich verbale Entgleisungen. Vielleicht wirkt das Genre der TV-Diskussion auch deshalb auf viele so blutleer, weil sie häufig sehr viel konsensueller ablaufen als Diskussionen im Internet. Wer sich gegenübersitzt, wird eben nicht so schnell ausfällig.

Immer schon hatte neben den Gelehrten auch „das Volk“ eine Meinung, der Unterschied ist nur: Heute hat dank der Demokratisierung des Internets wirklich jeder ein Ausdrucksmittel zur Hand. Sogar der Unwissendste kann sich zu jedem beliebigen Thema äußern. Das darf er natürlich, es gibt auch nichts gegen gewitzte und sogar beleidigende Schmähungen einzuwenden. Problematisch wird es, wenn sich in Diskussionen ein menschenverachtender, rassistischer Ton einschleicht – und das tut er im Netz so schnell, weil die emotionale Anteilnahme schwerer fällt. Ich kann mein Gegenüber anbrüllen und beleidigen und bin nicht mit seiner Reaktion konfrontiert. Neue Kommunikationskanäle fordern daher auch neue Umgangsformen für Debatten. Sozusagen eine moderne Ars Discutandi, die so aussehen könnte:

Kritik muss sein – aber mit (selbst)kritischem Blick auf das Niveau.
Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist ein unverzichtbares Menschenrecht. Niemand will das heuer 225 Jahre alte Recht, das erstmals in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in Frankreich erwähnt wurde, abschaffen. Die Diskussion, die Kritik und auch die Polemik sind wichtig. Was viele vor dem Enter-Taste-Drücken vergessen: Auch die Meinungsfreiheit hat ihre Grenzen, etwa, wenn die persönliche Ehre durch Beleidigung oder Verleumdung verletzt wird. Meinung sagen ja, niveaulos stänkern nein.

Wer diskutiert, sollte besser wissen, wovon er spricht.
Die Devise sollte lauten: Erst denken, dann sprechen – oder einen Tweet absetzen. Gerade, wer sich persönlich von einem Thema betroffen fühlt, denkt rasch, er sei automatisch allwissend und im Recht. So beginnen aber auch viele Rechtsstreitigkeiten und die können so oder so ausgehen.

Es gelten die Regeln der Logik und die Macht der Fakten.
Dieser Punkt ergibt sich aus dem vorigen. In einer echten Debatte ist eine Meinung nur etwas wert, wenn man sie einigermaßen logisch begründen und mit Fakten untermauern kann. Wer nur emotionale Ressentiments à la „Das mag ich einfach nicht“ zu bieten hat, ist eigentlich kein Dialogpartner, denn er ist gar nicht an einer Debatte interessiert. Interessant sind solche Behauptungen nur dann, wenn sie am Ende eines Argumente-Austauschs stehen. Denn wer als Erster „das ist nun einmal so“ sagt, hat offiziell verloren.

Die oberste Tugend ist Toleranz – Humor schadet aber auch nicht.
Schon Aristoteles wusste: „Toleranz ist die letzte Tugend einer untergehenden Gesellschaft.“ Und auch wenn man darüber diskutieren kann, was der Philosoph damit eigentlich gemeint hat (und zwar eher das Gegenteil), lässt sich dieser Spruch doch auf moderne Debatten anwenden. Dass andere Dinge anders machen und bewerten als man selbst, ist eine wichtige Erkenntnis und sollte nicht automatisch den Blutdruck erhöhen. Und wenn die kruden Thesen der anderen einen doch so empören, hilft es immer, die Situation mit Humor zu sehen. Auch sich selbst und das Gegenüber nicht so wichtig nehmen, kann die Wut und Aggression aus der Debatte nehmen.

Der digitale Imperativ: Poste nichts, was du deinem Gegenüber nicht auch ins Gesicht sagen würdest.
„Virtuelle Ethik ist die imaginierte Präsenz des anderen“, sagt die deutsche Philosophin Ariadne von Schirach (siehe rechts). „Sie ist die Grundlage für Respekt und Sachlichkeit trotz Anonymität und fehlender persönlicher Haftbarkeit.“ Anders formuliert: Sagen Sie nichts, was Sie in einer Wohnzimmerrunde nicht auch sagen würden.

Morddrohungen und Gewaltaufrufe haben in einer Debatte nichts verloren.
Aufrufe zu Gewalt gegen andere oder sogar zur Tötung sind eine Angelegenheit des Strafrechts. Punkt.

Debatten brauchen einen Rahmen.
Die gute Nachricht lautet: In Krisenzeiten erlebt die Philosophie ein Comeback. In Wiener Wohnzimmern und Berliner Cafés trifft man sich seit geraumer Zeit wieder, um zu diskutieren – und zwar so „richtig“. Das erfordert allerdings Rahmenbedingungen: Zeit, Vorbereitung, einen Moderator. Diese altmodischen Zutaten würden auch die Onlinedebatte in Form bringen. Denn wer Diskussion nicht nur anreißen, sondern zu Ende führen will, muss sich auch anstrengen. Für Internetplattformen – auch die von Medien wie der „Presse“ – bedeutet das, dass sie sich um Moderation kümmern müssten. Und für die Teilnehmer, dass sie den Online-Austausch ernst nehmen. Sonst werden sie nicht ernst genommen.

Vier Experten fordern ein Umdenken in der Debattenkultur: 

1) Philosophin Charlotte Werndl

„Kritikfähigkeit ist wichtig“

„Die Frage oder das Problem muss wieder im Vordergrund stehen, nicht ideologische Faktoren oder das Recht-haben-Wollen. Nehmen wir die Debatte, ob kleine Kinder durch Kinderbetreuung positiv oder negativ beeinflusst werden. Hier sollte nicht auf Basis von gewissen Ideologien argumentiert werden, sondern man sollte sich fragen: Was zeigen empirische Untersuchungen? Welche Evidenzen gibt es? Ein weiterer wichtiger Faktor ist Kritikfähigkeit. In der Wissenschaft ist es normal, kritisiert zu werden, außerhalb oft nicht. Im Netz können Diskussionsregeln helfen, dass Debatten zivilisiert und fair bleiben.“ Eine gute Debatte zeichnet sich dadurch aus, dass man von ihr etwas lernt.

Die gebürtige Salzburgerin hatte zuletzt eine Professur in Oxford inne und kehrt im September an die Uni Salzburg zurück. 

2) Philosophin Ariadne von Schirach

„Am Ende sitzt ein verletzlicher anderer“

„Das Internet erschwert die emotionale Anteilnahme. Wenn ich maile, kommentiere oder chatte, nehme ich keine direkte körperliche Reaktion des Gegenübers wahr. Der Philosoph Emmanuel Levinas schreibt über das Antlitz des anderen als Anrufung. Der Blick eines Menschen hat eine ethische Wucht. Doch diese Anwesenheit des anderen, seine emotionalen Reaktionen wie Freude oder Scham oder Schmerz, sind im Netz nicht erfahrbar.

Eine mögliche Lösung? Sich trotz Geschwindigkeit, Anonymität und Verfügbarkeit der Kommunikation wieder klarzumachen, dass am anderen Ende ein verletzlicher anderer sitzt. Virtuelle Ethik ist die imaginierte Präsenz des anderen.“

Schirach (*1978) ist eine deutsche Philosophin, Cousine von Strafverteidiger Ferdinand von Schirach. Zuletzt erschien: „Du sollst nicht funktionieren“ 

3) Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen

„Den Menschen nicht verdammen“

„Das Grundproblem ist: Die technisch-mediale Evolution und der aktuelle Stand der Herzensbildung passen nicht zusammen; wir sind wie Pubertierende, die auf der Weltbühne des Internets einfach alles Mögliche ausprobieren – und fröhlich über die Stränge schlagen. Nötig ist ein besseres Gespür für die Nuance, Proportionalität und Verhältnismäßigkeit: Ja, wir sollen und müssen uns streiten, hart in der Sache, aber weniger unerbittlich im Ton. Ja, es braucht die scharfe Attacke und die investigative Recherche, aber die kindlich-naive Suche nach dem Heiligen sollte ein Ende haben. Das erste Gebot einer anderen Debattenkultur lautet: Den Fehler kritisieren, aber nicht den Menschen verdammen.“

Pörksen (*1969), ist Medienprofessor in Tübingen. Im September erscheint „Kommunikation als Lebenskunst“.

4) „The European“-Chefredakteur Alexander Görlach

„Eine gute Debatte kreist immer um Ideen“

„Eine gute Debatte kreist immer um Ideen, nie um Menschen. Menschen müssen dafür frei von den Zwängen sein, in denen sie sonst stecken: Parlamentarier debattieren am besten außerhalb des Parlaments. Eine Gesellschaft braucht Räume, in denen Menschen ungeschützt, abseits von Rollen, die sie im Berufsalltag spielen, miteinander diskutieren können“, sagt Alexander Görlach, der Chefredakteur des Debatenmagazins „The European“. „ Empörung ist häufig gespielte Entrüstung. Wer wirklich etwas bewegen will, der vergeudet keine Zeit mit Empörung, die in nichts mündet. Empörung ist kein Selbstzweck. Wenn sie echt ist, dann sucht sie sich ein Ziel.“

Görlach (*1976) leitet das deutsche Online-Debatten-magazin „The European“, das hie und da auch gedruckt erscheint.

(„Die Presse am Sonntag“, Print-Ausgabe, 24.08.2014)

Die Ururgroßväter von Meredith Grey

Spitalserie. Steven Soderberghs Serie „The Knick“ spielt in der gleichnamigen New Yorker Klinik im Jahr 1900. Da spritzen Ärzte zu Techno-Sound Kokain und öffnen mutig die Bauchdecken. So blutig und düster war kaum eine Arztserie davor.

Der Auftakt sitzt, und zwar gleich doppelt. Nur langsam wacht der Arzt Dr. John Thackery in einem Opiumsalon aus seinem Medikamentenrausch auf, sanft geweckt von den zierlichen Animierdamen. Unfrisiert, mit verrutschter Krawatte und Sonnenbrille raunt er dem Kutscher vor dem Bordell zu: „The Knick“, dort wolle er hin, und zwar über den längeren Weg durch Manhattan. Denn in der Kutsche hat er noch etwas zu erledigen, wie jeden Morgen muss er sich Kokain zwischen die Zehen spritzen. Nur so übersteht er den Arbeitstag im New Yorker Krankenhaus „The Knickerbocker“.

Dort erwartet man ihn schon im OP. In den Saal mit aufsteigenden Hörsaalreihen wird eine Schwangere geschoben, die die Herren in Weiß wimmernd bittet, ihr Kind zu retten. In 100 Sekunden und mit einem Schnitt wollen Thackery und seine Kollegen das Baby aus dem Bauch der Mutter geholt haben. Flasche um Flasche füllt sich mit Blut, das Kabel der Absaugpumpe verheddert sich, die Bauchdecke wölbt sich wie Wellblech – am Ende sind Kind und Mutter, man hat es kommen sehen, tot. Die Szene spielt im Jahr 1900, ein Kaiserschnitt war damals noch ein gefährlicher Eingriff. Und der Oberarzt sagt resigniert: „It seems we are still lacking.“ Oh ja, es fehlt – an Routine, Wissen und vielem mehr.

Skalpell auf gespannter Bauchdecke

Regisseur Steven Soderbergh weiß, was er seinen Zusehern da zumutet: „Wenn du die ersten sieben Minuten aushältst“, sagte er unlängst der „Süddeutschen Zeitung“, „dann hast du es geschafft. Wenn du damit ein Problem hast, dann solltest du besser nicht weitermachen.“ Zur Übersetzung für Serien kenner: Verglichen mit „The Knick“ waren „Emergency Room“ oder „Grey’s Anatomy“ lustige Ausflüge in den geschönten Krankenhausalltag. Hier sind die Ururgroßväter von Meredith Grey und Doug Ross an der Arbeit, und Soderbergh hat den Weichzeichner weggelassen. Die Serie spielt zu einer Zeit, in der die Medizin noch mehr Feld für Experimente war und OPs nach einem Eingriff an eine Schlachtbank erinnerten. Selbst abgebrühte Zuseher werden hier reflexartig die Hände vor das Gesicht halten müssen. Soderberghs Kameraführung ist erbarmungslos: Wenn das Skalpell die Bauchdecke durchschneidet, bleibt er drauf und drauf und drauf.

Untermalt wird die Szenerie im staubig-düsteren, vom Fortschritt vernebelten Manhattan mit rasant-kühler Elektromusik. Ein genialer Kniff. Das ist perfekte Serienkunst im Jahr 2014 – zu perfekt allerdings. Schnell hat man die Muster und Rollen dieser Geschichte durchschaut: Der Einzelgänger Dr. Thackery (mieselsüchtig gespielt von Clive Owen) ist nicht nur schwer kokainsüchtig, sondern auch übellaunig, cholerisch und rassistisch. Es gefällt ihm gar nicht, dass ihm der schwarze Arzt Algernon Edwards (vornehm: Andre Holland) zur Seite gestellt wird. Cornelia Robertson, die moderne und liberale Spitalchefin und Tochter des philanthropischen Krankenhaus-Stifters hält viel von Edwards, er ist der Sohn von der Köchin und dem Chauffeur ihrer Familie.

So geht es abseits der Blutgelage im Operationssaal um das Leben in der damaligen 3,5-Millionen-Metropole New York, die zu einem Drittel von europäischen Migranten bevölkert wurde. Diese armen New Yorker Neuankömmlinge werden im „Knick“ behandelt, wo die Ärzte eben auch mit neuen Therapie- und Operationsmethoden experimentieren. So bedienen sich manche Szenen in düsteren Armen-Wohnungen etwas billiger (und vorhersehbarer) Klischees. Wir haben verstanden: Frauen (hier vorzugsweise Krankenschwestern) und Schwarze haben nichts zu melden, alle Iren sind derb, und die Ärzte sind unantastbare Götter in Weiß.

Stoff für Montagmorgen im Büro

„The Knick“ ist ein weiteres reines TV-Projekt von Soderbergh. Vor zwei Jahren kündigte der Regisseur von Filmen wie „Erin Brokovich“ und „Sex, Lügen und Videos“ seinen Abschied aus dem Kinofilmsegment an. Nach dem TV-Biopic „Behind the Candelabra“ mit Michael Douglas und Matt Damon in den Hauptrollen und „The Knick“ arbeitet er schon an zwei weitere Serien („Red Oaks“, „The Girlfriend Experience“). Das Genre reizt ihn derzeit auch deswegen, weil sich das Fernsehen jenen Platz in der kulturellen Landschaft gesichert habe, der früher dem Film gehörte. „Niemand spricht mehr Montagmorgen über Filme in der Art wie derzeit über Fernsehen gesprochen wird.“ Gut möglich, dass jene, die am Montag über „The Knick“ sprechen, dabei angewidert das Gesicht verziehen.

„The Knick“. Läuft in den USA seit Freitag bei Cinemax und ist in Österreich ab heute, 9. 8. auf Sky Go abrufbar.

Blut und Eingeweide. Dr. Thackery (Clive Owen, dritter von links) führt das Regiment im OP-Saal. [ Credit: Home Office Box, Inc ]

Die Elternzeit als Einstiegsdroge für den Mann

Die Väterbeteiligung liegt in Deutschland bei 30, in Island bei unglaublichen 96 Prozent.

Die Elternzeit sei eine „geniale Erfindung“, schrieb Journalist Jakob Schrenk vergangenes Wochenende in der „Süddeutschen Zeitung“. „Sie dient als Einstiegsdroge. Männer fremdeln nicht mehr mit ihren Babys, wie das in den Jahrhunderten zuvor der Fall war.“ Jakob Schrenk hatte genug von dem ewigen Jammern über den modernen Mann, darum wollte er zur Abwechslung einmal die Männer loben.

Die Frauen wären immer noch so streng mit den Männern, dabei würden seine Freunde und Kollegen sicher nicht von einer Existenz als Alleinverdiener und wandelnder Kreditkarte träumen. „Stattdessen tragen sie die Babykotzeflecken auf dem Hemd so selbstverständlich wie eine Krawatte […] und brechen nachmittags um halb fünf Richtung Kindergarten auf.“ Man kann Schrenks Schilderungen als verklärte Sicht eines Kreativberuflers auf den Alltag in bundesdeutschen Großstädten abtun, oder aber man sieht anerkennend, dass die jüngste Neuregelung der Elternzeit in Deutschland etwas bewegt hat. Immerhin 30 Prozent aller Väter nehmen heute Elternzeit. Noch bis zum Jahr 2006 blieb laut Schrenk so gut wie kein Vater nach der Geburt seines Kindes zu Hause. Viel sei passiert seit dem Jahr 1985 und dem Kinofilm „Drei Männer und ein Baby“ – als es noch exotisch-absurd war, wenn Männer auf ihre Kinder aufpassten. In der Komödie „Mrs. Doubfire“ musste sich Familienvater Robin Williams nach der Scheidung sogar noch Frauenkleider anziehen, um mehr Zeit mit seinen Kindern zu verbringen.

Deutschland ist Österreich also eine Spur voraus, dabei sind die Kinderbetreuungsmodelle sehr ähnlich. Hierzulande gehen erst rund 17 Prozent aller Väter in Elternzeit (siehe oben). Als Musterschüler in Sachen Gleichberechtigung gelten nach wie vor die nordeuropäischen Länder. Ein besonders gutes Babybetreuungsmodell existiert in Island. Es folgt der Drei-plus-drei-plus-drei-Logik. Zuerst geht die Mutter drei Monate, dann der Vater, danach wieder die Mutter in Elternzeit. Die Väterbeteiligung liegt dort bei unfassbaren 96,3 Prozent (2009). Für Sonja Blum vom Institut für Familienforschung zeigt das: „Väter nehmen immer in Anspruch, was für sie exklusiv reserviert ist.“ Zudem wird die Karenz in Island gut bezahlt, der Einkommensersatz beträgt 80Prozent des Durchschnittseinkommens vor der Geburt (Obergrenze: 2180Euro/Monat). Derzeit wird in Island die Ausweitung des Models auf fünf plus fünf plus zwei (also zwölf Monate) bis 2016 diskutiert. Damit würden Frauen zwar insgesamt nur einen Monat länger zu Hause sein, der Mann aber zwei Monate mehr. Österreichs Familienpolitik kann sich bei Island noch einiges abschauen.

Fakten

In Island liegt die Väterbeteiligung innerhalb des ersten Lebensjahres des Kindes bei 96 Prozent.

In Deutschland gehen 30 Prozent aller Väter in Elternzeit. 

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 03.08.2014)

Vaterschaft – die Rolle meines Lebens

Christian Goriupp, Foto: Clemens Fabry

Väter in (langer) Elternzeit sind immer noch in der Minderheit. Doch langsam bewegt sich etwas bei der Väterkarenz: 17 Prozent von Österreichs Vätern beziehen derzeit Kinderbetreuungsgeld.

Christian Goriupp, Foto: Clemens Fabry
Christian Goriupp, Foto: Clemens Fabry

Leben und Tod lagen bei Christian Goriupp nah beieinander. Ein Jahr, nachdem seine Tochter Anna zur Welt kam, starb sein Vater, was seine Einstellung zur Vaterschaft entscheidend veränderte. 

Das Verhältnis zu seinem alten Herren, erzählt er, sei zwar gut gewesen, „zu gut vielleicht sogar“, dennoch fehlte ihm etwas. „Ich hatte dieses Bild von einem alten Cowboy im Kopf, der dem jungen Cowboy etwas weitergibt. Aber mein Vater hat mir nichts Greifbares mitgegeben“, erzählt er. In Karenz gehen und auf seine Tochter aufpassen, das wollte Goriupp schon vor ihrer Geburt, doch erst durch den Tod des eigenen Vaters begann sich der heute 35-Jährige intensiver mit seiner eigenen Rolle als Vater auseinanderzusetzen.

Weil sein Arbeitgeber, ein Versicherungskonzern, seinen Wunsch, vier Monate in Karenz zu gehen, nicht akzeptierte, verlor Goriupp seinen Job. Seine Tochter Anna betreute er dann weit über die gesetzliche Kinderbetreuungszeit hinaus, insgesamt eineinhalb Jahre. Bis heute sei er für seine Tochter Anna eine gleichwertige Bezugsperson wie seine Frau. „Ich hatte immer gleich viel Zeit für sie wie meine Frau.“ Erst bei den Freunden seiner Tochter habe er gemerkt, dass die Betreuungszeit in vielen Familien immer noch 80 zu 20 zwischen Mutter und Vater aufgeteilt ist. Und Goriupp erinnert sich noch, dass er damals in der Grazer Vorstadt als Vater in langer Karenz eine Rarität war. Ob beim Zwergerltreff oder im Babyschwimmen – er war so gut wie immer der einzige Mann.

Use-or-lose. Ganz allein wäre Goriupp am Spielplatz heute nicht mehr. Seit 2010 bewegt sich etwas bei der Babybetreuung von Vätern. Die Zahlen aus dem Februar 2014 besagen, dass zuletzt 17 Prozent aller Väter Kinderbetreuungsgeld bezogen haben. Die Einführung des einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeldes 2010 bringt langsam sichtbare Veränderungen. (Zur Erinnerung: Derzeit gibt es fünf Kinderbetreuungsmodelle, bei der sich die Eltern die Zeit aufteilen können: 30+6, 20+4, 15+3, 12+2 pauschal und 12+2 einkommensabhängig mit max. 2.000 Euro netto). Arbeitnehmer in Kreativberufen, etwa im Journalismus, oder im öffentlichen Dienst, gehen immer häufiger zwei Monate in Karenz. Für Sonja Blum vom Institut für Familienforschung zeigt sich: „Väter nehmen die Zeiten, die exklusiv für sie reserviert sind, stärker in Anspruch.“ Sich aber individuell eine längere Kinderbetreuungszeit zu nehmen, das würden immer noch sehr wenige. Sie plädiert wie viele Familien- und Väterexperten für die Einführung eines Use-it-or-lose-it-Modells. Wenn der Vater die für ihn gesetzlich vorgesehene Zeit nicht in Anspruch nimmt, verfällt das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld.

Auch für Christian Pecharda wäre es in seiner Position als Chef einer Abteilung im mittleren Management eher schwierig gewesen, sechs Monate oder länger in Karenz zu gehen. Dass er aber nach dem Karenzjahr seiner Frau zwei Monate auf seine Tochter Teresa aufpassen würde, stand für ihn schon früh fest. Er sei „fertig, aber glücklich“ nach den acht Wochen Karenz, postete er vergangenen Donnerstag am Ende seiner Väterzeit auf Facebook. Die Karenz hat ihn zwei Dinge gelehrt: Er habe bemerken müssen, dass es „offensichtlich noch immer nicht selbstverständlich ist, dass Väter in Karenz gehen“. In seinem privaten Umfeld kenne er nicht viele Männer, die es wie er gemacht haben. Anders sei das in seinem Arbeitsumfeld, wo vor ihm schon einige Männer zu Hause geblieben sind. In der Wiener Vorstadt war er im Sommer 2014 zwar deutlich seltener der einzige Mann unter vielen Frauen am Spielplatz als Goriupp in Graz vor vier Jahren, dennoch bekam er vereinzelt ungläubige Fragen zu hören, wie „Wie machst du das mit dem Kochen?“ oder „Du wickelst?“.

Erkenntnis zwei: Abgesehen davon, dass Pecharda die Zeit mit seiner Tochter genossen und vom vielen Nachkrabbeln zwei Kilo abgenommen hat, hat er heute noch weniger Verständnis für Väter, die behaupten, eine Karenz ginge sich finanziell oder aus Karrieregründen nicht aus. Wenn beide Seiten wollen – also Arbeitgeber und Mann – dann funktioniere das. „Dass nicht jeder sechs Monate gehen kann, ist verständlich, aber bei zwei Monaten geht es nicht um können, sondern um wollen.“

Auch für die Partnerschaft bringe die Väterkarenz Vorteile: „Es tut beiden gut, die andere Seite kennenzulernen. Mir ist aufgefallen, dass in den vergangenen zwölf Monaten die wirkliche Arbeit die Karenz war, weil sie sieben Tage die Woche rund um die Uhr dauert.“ Umgekehrt sei seiner Frau bewusst geworden, wie sehr dem arbeitenden Teil die Zeit mit dem Kind fehlt.

Blinder Fleck Vaterschaft. Für Christian Goriupp begann mit seiner Karenzzeit ein völlig neuer Lebensabschnitt. Auf der Suche nach Studien zum Thema entdeckte er, „dass die Vaterschaft immer noch ein blinder Fleck ist“. Daher begann er selbst im Grazer Kindercafé Workshops für junge Väter anzubieten. „Die zu Beginn gar nicht angenommen wurden.“ Schließlich kam ihm die Idee, einen Dokumentarfilm zu machen, der nun im Oktober in die Kinos kommt. Für „Die Rolle meines Lebens“ begleitete er einen Vater schon während der Schwangerschaft seiner Frau bis über die Geburt hinaus. In Gesprächen mit einer Hebamme, einem Sozialarbeiter, einem Tagesvater, dem Theologen Paul Zulehner, dem Grazer Landesrat Michael Schickhofer und dem Väterforscher Harald Werneck wird diese filmische Studie zur Vaterschaft abgerundet. Ganz bewusst ließ Goriupp seine eigene Geschichte nicht in den Film einfließen. Was ihm ein besonderes Anliegen ist: Unternehmen darüber aufzuklären, wie sehr sie davon profitieren, wenn Männer in Karenz gehen. „Es hat sich noch nicht weit verbreitet, dass danach frischere Männer mit neuen Eindrücken zurückkehren.“

Papamonat wäre wichtig. Was rund um die Väterkarenz-Frage auch gern vergessen wird, ist die Zeit direkt nach der Geburt. Goriupp und Pecharda plädieren beide für die Einführung des Papamonats. Im öffentlichen Dienst wurde der zwar 2011 eingeführt (bis Ende 2013 haben ihn 13 Prozent aller Väter in Anspruch genommen), doch auf eine flächendeckende Einführung auch in der Privatwirtschaft konnte sich die Bundesregierung bisher noch nicht einigen. „Gerade im ersten Lebensmonat ist es wichtig, dass du zu Hause bist. Allein schon zur Unterstützung der Frau, zum Einkaufen gehen und für die Behördengänge. Aber auch, um beim Kind zu sein und mitzubekommen, wie alles geht, wie das mit dem Stillen funktioniert“, sagt Pecharda. Bestärkt werden die beiden Väter durch eine aktuelle EU-weite Studie im Auftrag der EU-Kommission. Demnach gibt es in ganz Europa ein steigendes Interesse der Männer an Gleichstellung und damit auch an der Kindererziehung. Daher wird derzeit überlegt, einen sogenannten Vaterschutz – nach dem Vorbild des Mutterschutzes – einzuführen. Männern soll dabei verboten werden, direkt nach der Geburt ihres Kindes zu arbeiten. Ein Modell, das in Portugal bereits existiert: Väter müssen innerhalb des ersten Monats nach der Geburt ihres Kindes zehn Tage – und können 20 Tage – zu Hause bleiben.

Auch in Literatur und Forschung wird der Blick immer häufiger auf die Väter gelenkt. Autoren wie der Familientherapeut Jesper Juul haben das populärwissenschaftliche Feld mit Büchern wie „Mann und Vater sein“ geebnet. Ein Wiener Forscherteam analysiert zudem seit Kurzem die Vaterschaft. Psychologin Lieselotte Ahnert vom Institut für Angewandte Psychologie an der Uni Wien leitet seit 2013 mit dem neu gegründeten Central European Network on Fatherhood eine groß angelegte Studie. Die Zeit sei reif dafür, weil die modernen Väter sich in einer Aufbruchstimmung befinden würden, sagt sie. „Doch auf wissenschaftlicher Ebene wissen wir fast nichts über Möglichkeiten und Effekte dieses Aufbruchs.“ Bis Februar 2016 will man mit Hilfe von 3700 Männern mehr über die Motive und Ziele der Väter im Zusammenleben mit ihren Kindern herausfinden. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass sich bis dahin die Zahl der Vaterkarenzgeher noch mal erhöht.

Mehr zum Film: www.dierollemeineslebens.at

(„Die Presse am Sonntag“, Print-Ausgabe, 03.08.2014)