Resetarits: „Ich bin sicher kein Pitbull“

In diesem Jahr moderiert „Bürgeranwalt“ Peter Resetarits ab 11. August die „Sommergespräche“. Dem Motto seiner anderen Sendungen folgend sollen diesmal die Bürger das Fragen übernehmen.

Peter Resetarits gefiels beim Heurigen. "Wir hätten die Sendung eigentlich auch hier machen können", sagte er. / Bild: (c) Die Presse (Clemens Fabry)
Peter Resetarits gefiels beim Heurigen. „Wir hätten die Sendung eigentlich auch hier machen können“, sagte er. / Bild: (c) Die Presse (Clemens Fabry)

Sie fanden wirklich schon überall statt, die „Sommergespräche“: im Dachfoyer der Hofburg (2011), in Betriebshallen (2010), auf Festspielbühnen (2009), bei Heurigen und gleich im ersten Sommer landete Sendungserfinder Peter Rabl mit dem damaligen FPÖ-Chef Norbert Steger im Swimmingpool. Heuer, im 33. Jahr, bleiben die „Sommergespräche“ im Studio am Küniglberg (was auch schon öfter vorkam). Dafür tingelt Moderator Peter Resetarits vorher durch das Land und holt Fragen und O-Töne der Bevölkerung ein, im Trailer der Sendung sagt er daher auch: „Ich stelle Ihre Fragen“. Wir trafen Resetarits zum Gespräch beim Heurigen Wambacher in Hietzing. Und während er im Gastgarten sitzt, sagt er: „Eigentlich hätten wir die Sendung auch hier machen können.“
Herr Resetarits, Sie arbeiten seit über 30 Jahren für den ORF, moderieren heuer erstmals (allein) die „Sommergespräche“. Warum tun Sie sich das an?

Peter Resetarits: Gefragt zu werden, ob man diese Sendung machen will, ist prinzipiell eine Ehre – noch dazu, wenn das Konzept der Sendung auf mich und meine Rolle als „Bürgervermittler“ und „Bürgerversteher“ zugeschnitten ist. Aber ich habe meine Vor- und Nachteile auf den Tisch gelegt und gesagt, was ich kann und was nicht so gut, wo es vielleicht Bessere gibt.

Und was können Sie nicht so gut?
Es gibt sicher Leute, die sich in den vergangenen 15 Jahren mehr mit innenpolitischen Themen beschäftigt haben als ich. Mein Vorteil ist, dass ich einen guten Überblick darüber habe, was die Leute wirklich stört. Wo öffentliche und veröffentlichte Meinung auseinander klaffen. Und ich kenn mich mit den Sorgen älterer Leute aus, rund um Themen wie Pension, Frührente oder Wohnen.

Es heißt, der Politik sei es Recht, dass heuer Sie dran sind, nachdem es u. a. 2013 nach den Wahlkonfrontationen Kritik am ORF gab. Haben Sie so einen netten Ruf?
Ich kenne meinen Ruf bei der Politik nicht, aber ich kann Ihnen ein paar Immobilienspekulanten nennen, Banken und Versicherungen, die mich nicht so nett finden.

Stimmt also nicht, dass sich Kanzler Werner Faymann lieber von Ihnen als von Armin Wolf befragen lässt?
Dazu habe ich wirklich keine Wahrnehmung. Ich bin im Ton freundlich und verbindlich, werde aber unter Beweis stellen, dass ich in der Sache sattelfest bin.

Der Kanzler war schon länger nicht mehr in der „ZiB 2″, elleicht auch wegen des hartnäckigen Fragestils von Armin Wolf. Werden Sie die Politiker sanfter anfassen?
Man muss ein vernünftiges Mittelmaß finden. Manchmal habe ich den Eindruck, dass ein bisschen zu früh interveniert wird, da hätte ich noch ganz gerne, dass der Gedanke ausgesprochen wird. Vorgenommen habe ich mir, mich nicht mit Alibi-Antworten abspeisen zu lassen und auch die Bürger an meiner Seite zu fragen, ob sie mit dieser oder jener Antwort zufrieden ist.

Mehr Wickert als Broder

Richtig, dass Sie eher der Ulrich Wickert- und nicht der Henryk Broder-Typ sind?
Das mag sein. Ich bin wie ich bin und werde mich auch nicht für die Sommergespräche verbiegen. Es hat keinen Sinn, sich zu verstellen. Ich bin mein Lebtag gut damit gefahren, dass ich authentisch bin. Ich habe auch keine Lust, den Pitbull zu spielen, der ich nicht bin. Schließlich will ich danach die Sendungen, die ich bis jetzt mache, weitermachen.

Aber ist das nicht der größte Vorteil: Anders als frühere Moderatoren, sind Sie in Ihrem normalen Berufsalltag nicht darauf angewiesen, ob der Kanzler oder die anderen, ins Studio kommt oder nicht.
Das stimmt, das ist mir in Wirklichkeit auch vollkommen egal, ob das einem Politiker gefällt oder nicht. Auf der anderen Seite bin ich meinem Publikum und mir selbst verpflichtet, mir treu zu bleiben. Was ich befürchte ist, dass die Leute danach sagen: „Der ist immer so ruhig, aber da war er ein Unsympathler, der ist ja hysterisch.“ Das würde ich mir gerne ersparen, weil ich das auch nicht bin.

Einiges ist heuer anders: Sie gehen ab sofort auf Österreich-Tour, um Stimmen aus dem Volk einzufangen, im Studio werden Bürger zu Gast sein. Wird das nicht ein „Bürgerforum light“?
Nein. Die Fragen und Vorwürfe sind zum Teil recht harsch. Die Bürger auf der Straße sagen manchmal Dinge, die man sich als Journalist nicht zu fragen trauen würde. Mein Punkt ist es, den Hintergrund zu diesen Fragen zu recherchieren und mir ansehen, was die jeweilige Partei dazu schon gesagt oder gemacht hat.

Wie bereiten Sie sich vor?
Die wirkliche Vorbereitung beginnt jetzt. Das Konzept steht, wir wissen wie das Studio aussieht und nun geht es in die inhaltliche Vorbereitung. Ich denke mir Fragen aus, vergebe Recherecheaufträge, ersuche gewisse Dinge nachzuchecken.

Gibt es Vorgespräche mit den Politikern?
Null. Herrn Strolz (Neos, Anm.) und Frau Nachbaur (Team Stronach) habe ich noch nie gesehen. Alle anderen habe ich meist im Zuge der Bürgerforen kennengelernt. Ich rede weder mit den Pressesprechern noch mit den Kandidaten. Die sehe ich das erste Mal siebeneinhalb Minuten vor der Sendung.

Warten Sie bis kurz vor den Sendungen. Was tun Sie, wenn sich die Pressesprecher dann doch noch melden?
Dann ersuche ich Sie, die Sache mit dem Sendungsverantwortlichen zu besprechen, der das hervorragend macht und die wahren Entscheidungen trifft.

Im Plastiksessel neben Voggenhuber

Sie haben schon 1990 einmal bei den „Sommergesprächen“ mitgewirkt. Wie war das damals?
Der Ansatz war drei ORF-Reporter diskutieren mit einem Politiker. In der fixen Besetzung waren meine wirklichen Vorbilder Hans Benedikt und Johannes Fischer – und je ein jüngerer Reporter als Dritter. Ich war bei Johannes Voggenhuber dabei. Da saßen wir auf einer Burgruine im Waldviertel auf weißen Plastiksesseln mit tiefer Lehne im Kreis und es war unfassbar heiß.

Die „Sommergespräche“ sind 33 Jahre alt. Hat so eine Sendung noch Legitimität?
Sie sind mittlerweile zu einer Marke geworden. Die Leute wollen es sehen, die Politiker wollen über ihre Aktivitäten referieren. Die Publikumsakzeptanz ist noch da, wie man an den Quoten sieht.

Spüren Sie einen Quotendruck?
Nein. Ich wüsste auch nicht, was ich anders machen sollte, wenn ich einen Quotendruck hätte oder man mir eine Messlatte vorgehalten hätte. Wir versuchen eine spannende Sendung zu machen, aus der man etwas mitnimmt, bei der man vielleicht etwas Neues lernt.

Zu den „Sommergesprächen“ gehört auch ein bisschen, Persönliches über die Politiker herauszufinden. Wird das auch diesmal Platz haben?
Das diskutieren wir noch. Mich interessiert das persönlich null, aber es gibt Leute die sagen, das gehört dazu.

Sie haben ältere Menschen erwähnt, deren Sorgen Sie kennen. Verfolgen Sie auch jene der Jüngeren? Ich hab Sie weder auf Twitter noch auf Facebook gefunden.
Auf Twitter bin ich, aber nur passiv. Auf Facebook bin ich bis jetzt nicht, aus Sorge, die vielen Anfragen nicht zu schaffen. Ich werde, wo immer ich hinkomme, mit sehr konkreten Problemen konfrontiert. Neben der journalistischen Tätigkeit rutsche ich immer mehr in eine Beratungs- und Interventionstätigkeit. Meine Sorge war immer, wenn ich auf Facebook präsent bin, wird die Erwartungshaltung zu hoch. Wenn man so etwas nicht betreut, bekommt man Mails, die – zu Recht – so lauten: „Ich habe Sie sehr geschätzt, aber Sie haben nicht einmal ein Ohrwaschl gerührt. Ich habe Ihnen vor drei Wochen geschrieben, es geht um mein Kind und das ist Ihnen offenbar wurscht.“ Dafür geht demnächst die Facebook-Seite der Sendung online. Aber gut, dass sie mich erinnern, ich glaube, ich sollte an meinem Twitter-Account arbeiten.

Wenn es der ohne Foto und mit bislang null Tweets ist, sollten Sie vielleicht.
(Lacht) Und den Ulrich Wickert muss ich mir jetzt danach auch genauer ansehen.

Schon mal überlegt, sich mit der Beratungstätigkeit selbstständig zu machen?
Nein. Aber als Redaktion müssen wir uns das überlegen, ob man sich junge Juristen ins Team holt und eine echte Beratung durchführen soll und das als Teil von Public Value versteht. Was wir schon machen: Dass wir kompetent weiterverweisen an die Patientenanwälte, die Mietervereinigung oder die Volksanwaltschaft. Trotzdem gibt es sehr viele Anrufe von Leuten, die sich einen kompetenten Tipp erwarten. Und wenn wir den liefern könnten, würde uns das als öffentlich-rechtlicher Rundfunk nicht schlecht anstehen.

Wie oft haben Sie es bereut, nicht eine klassische Juristen-Karriere eingeschlagen zu sein?
Nie. Ich habe die Akribie, die wirklich gute Juristen haben müssen, nicht. Ich bin eine ganz gute Mischung aus mittelmäßigem Juristen und halbwegs gutem Geschichtenerzähler. Da ist der kritische Rechts-Journalismus genau das Segment, das sich für mich am besten ergibt.

„Sommergespräch“ ab 11. August, jeden Montag, 21.05 h, ORF 2;

„Fargo“: Gorillas im Schnee

Die grandios düstere Serie „Fargo“ bekommt eine zweite Staffel, allerdings mit neuen Darstellern. Was schade ist. Billy Bob Thornton und Martin „Hobbit“ Freeman werden fehlen.

Wer hat sich das nicht schon einmal gewünscht? Dass plötzlich ein großer, starker Mann auftaucht, zuhört und in Großer-Bruder-Manier die Probleme für einen löst. Für den Versicherungsangestellten Lester Nygaard – grandios tollpatschig gespielt von Martin Freeman (bekannt als Hobbit und als Sherlocks Assistent Dr. Watson in der gleichnamigen Serie) – erfüllt sich dieser Wunsch im unerwartetsten Augenblick. Mit blutiger Nase sitzt er in der Notfallambulanz, gedemütigt vom ehemaligen Schultyrannen Sam Hess, der ihm soeben vor seinen Söhnen bewiesen hat, dass er wie einst auf dem Schulhof der Stärkere ist. In der Ambulanz kommt er ins Gespräch mit diesem unbekannten nuschelnden Mann in klobigen Stiefeln und schwarzem Mantel – und plötzlich fragt dieser: „Wollen Sie, dass ich ihn töte?Ja oder nein.“ Lester, der Loser, gibt natürlich keine Antwort, das Angebot sieht er als dumme Blödelei.

Zwei Tage später ist Sam Hess tot – und wir sind mittendrin in der eiskalten Welt von „Fargo“. Angelehnt an den gleichnamigen Oscar-gekrönten Film der Coen-Brüder Ethan und Joel erzählt die zehnteilige Miniserie von einer Reihe von Verbrechen in und um das 13.000-Seelen-Örtchen Bemidji im US-Bundesstaat Minnesota. Dabei hat die Produktion mit ihrem Filmvorbild nur die eisig-morbide Stimmung gemeinsam. Es ist Winter, der Schnee liegt meterhoch, wer in Unterhosen durch den Wald läuft, erfriert.

Zehn Teile hatte die erste Staffel, die in den USA Mitte Juni zu Ende ging. Seit Dienstag ist bekannt, dass der Kabelsender FX eine zweite Staffel für Herbst 2015 plant. Die 18Emmy-Nominierungen, auch für die vier Hauptdarsteller, dürften den Sender motiviert haben. Doch FX, der die Serie gemeinsam mit den Coen-Brüdern produziert hat, geht einen mutigen Weg: Die neue Staffel erzählt eine völlig neue Geschichte und spielt zu einer anderen Zeit, daher werden lauter neue Darsteller gecastet. Das könnte sich als Fehlgriff erweisen, denn Staffel eins lebt vor allem von den Hauptdarstellern, wie Allison Tolman, die die zunächst noch einfältig wirkende Polizistin mimt, die plötzlich Hartnäckigkeit entwickelt.

„What if you’re right, and they’re wrong“

Zuallererst aber von der kongenialen Paarung Billy Bob Thornton und Martin Freeman. Ersterer spielt den eiskalten, abgeklärten Stiefelträger und Auftragskiller Lorne Malvo, Letzterer den eingangs erwähnten Underdog Lester, der von Bruder, Ehefrau, Chef und besagtem Ex-Schulkollegen untergebuttert wird. In einer Schlüsselszene in Folge eins erklärt der Bösewicht dem Verlierer bei Filterkaffee in einem typischen US-Diner sein Weltbild: „Dein Problem ist, dass du dein Leben lang geglaubt hast, es gibt Regeln. Die gibt es aber nicht. Wir waren immer Gorillas, die sich nahmen, was sie wollten, und es verteidigt haben.“ Was nach platten Klosprüchen („Nur der Stärkste überlebt“) klingt, verursacht dank Thorntons düsterer Mimik und dunklem Timbre trotzdem angenehme Gänsehaut– und entpuppt sich für Serienfigur Lester als lang ersehnter Befreiungsschlag. Plötzlich erkennt er den tieferen Sinn jenes Plakats, das im Keller an der Wand hängt: Ein roter Fisch schwimmt unter lauter orangen Fischen, darüber steht: „What if you’re right, and they’re wrong.“ Was also ist, wenn du, der ewige Underdog, recht hast, und alle anderen irren? Das ist eine schöne, beinahe kitschige Botschaft, auf der die Serie aufbaut. Und es ist wie ein Präludium für die darauffolgende blutrünstige Reise durch das winterliche Minnesota.

Manchen mag das zu brutal sein, selbst hartgesottenen „Game of Thrones“-Fans wird hier, in diesem viel realeren Setting, plötzlich zu viel gemordet. Dabei kommt der Tod in „Fargo“ zwar häufig (und häufig ohne Vorwarnung), aber immer ohne Grusel-und-Graus-Effekt. Anders als beim Kopf-ab-Gemetzel von „Game of Thrones“ wird beinah sauber getötet. Serienpuristen werden „Fargo“ mögen. Ganz beiläufig werden hier wunderschöne Szenen von Schnee (und Blut im Schnee), Eis und US-amerikanischem Kleinstadtleben gezeigt. Und die Ironie zieht sich bis in kleinste Details. So zum Beispiel in das Insert, das zu Beginn jeder Folge aufscheint: „This is a true story.“ Es ist reine Fiktion.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 23.07.2014)

(Credit: FX/Fargo)

 

Eizellkönigin oder nicht?

Selbstversuch: Der Ferticheck ist einfach, tut nicht weh, aber eine Garantie für spätere Schwangerschaft ist er nicht.

Man soll ja nie sagen, man wisse schon alles über den eigenen Körper. Das Erste, was ich also lerne, ist, dass ich – wie jede andere Frau – seit meiner Geburt eine bestimmte Anzahl an Eizellen in mir trage. 100.000 bis 300.000 Stück. Und die werden von Monat zu Monat, von Eisprung zu Eisprung weniger. Dank des zwar nicht neuen, aber in Österreich noch eher unbekannten Fertichecks kann jede Frau abklären, wie ihr Eizellstatus aussieht. Das erinnert mich an Jess aus der Serie „New Girl“. In der Folge „Eggs“ macht sie diesen Test und nennt sich danach dank ihrer Bestwerte stolz „Eierkönigin“.

Auch ich bin in der Zielgruppe für diesen Test: Anfang 30, mit klarem Kinderwunsch, dennoch will ich mir zur Sortierung von Beruf und Privatleben noch ein paar Jahre mit der Familiengründung Zeit lassen. Der Test könnte mir sagen, ob ich diese Zeit überhaupt noch habe oder ob ich besser schon übermorgen versuchen sollte, schwanger zu werden. Freundinnen sind skeptisch: „Und was machst du, wenn nicht alles in Ordnung ist?“, fragen sie.

Darüber mache ich mir vorerst keine Gedanken. Erst als ich im Labor zur Blutabnahme sitze, wird mir mulmig. Zufall oder nicht: An diesem Morgen zähle ich 15 (sichtbar) schwangere Frauen im Wartezimmer. Zehn Tage später, Termin beim Arzt: Östrogen, Prolaktin, Testosteron – meine Hormonwerte liegen völlig in der Norm. Dennoch zeigt sich mein Alter schon, der Wert des Anti-Müller-Hormons (das Rückschluss auf die vorhandenen Eizellen gibt) liegt nur mehr bei fünf. Der Maximalwert (bis unter 30) ist sieben, eine Frau mit 40 erreicht gerade noch zwei. Der Arzt beruhigt mich, meine Werte sind für mein Alter ideal, auch der Eierstockultraschall ist in Ordnung.

Ein schneller Test und dann? Ich weiß jetzt, dass ich noch nicht im frühzeitigen Wechsel bin, mein „Eierdepot“ noch gut gefüllt ist. Doch viele andere mögliche Fehlerquellen können nicht eliminiert werden. Eine kleine Beruhigung ist der Test, auch eine Bewusstseinsbildung für das Thema Fertilität, doch er kann nie, nie, nie Garantie für eine spätere Schwangerschaft sein.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 20.07.2014)

Ein Crashtest für die Fruchtbarkeit

Ein Wiener Kinderwunschzentrum will die Öffentlichkeit auf die sinkende Fertilität von Frauen ab 40 aufmerksam machen. Mit dem „Ferticheck“ könnten Frauen schon in jungen Jahren ihre Fruchtbarkeit abklären.

Claudia Hermann und Martin Sommer sind aufgeregt, aber guter Dinge. Im Oktober werden die beiden Lehrer Eltern, der gewölbte Bauch ist auch schon unter der weiten Sommerbluse erkennbar. Vor exakt einem Jahr waren sie das erste Mal im Wiener Kinderwunschzentrum Goldenes Kreuz bei einem Infoabend. Erleichtert seien sie gewesen, erzählt Hermann, „dass es auch noch andere junge Menschen gibt, die Schwierigkeiten haben, schwanger zu werden.“ Denn Hermann ist 33 und damit für die Fortpflanzungsmedizin noch sehr jung. Trotzdem hat es aufgrund einer organischen Ursache nicht mit dem Kinderwunsch geklappt. „Auf natürlichem Weg ist bei uns eine Schwangerschaft nicht mehr möglich, also mussten wir es künstlich probieren“, erzählt Martin Sommer. Im Herbst folgte der erste Versuch einer In-vitro-Fertilisation. Ein „Riesenprozedere“, vor allem emotional rollte an: Notarielle Beglaubigung organisieren (für nicht verheiratete Paare verpflichtend), Hormone spritzen, somit Eizellen stimulieren, Ultraschall machen, Samenspende, Eizellenpunktion. „Dazwischen heißt es immer warten, aufs Ergebnis und darauf, ob der nächste Schritt überhaupt gemacht werden kann“, erinnert sich Claudia Hermann. Die nervenaufreibendste Wartezeit ist die zwischen dem Einsetzen der Eizelle und dem Anruf, ob der Körper die befruchtete Eizelle angenommen hat, das heißt, ob man schwanger ist. Bei ihnen brachte der Anruf im Herbst keine guten Nachrichten: Es hat nicht geklappt.

Sinkende Geburtenrate stoppen. So wie dem Lehrerpaar Hermann/Sommer ergeht es jährlich tausenden Paaren in Österreich. Laut Statistik Austria versuchen bis zu 30 Prozent aller Paare länger als zwölf Monate, schwanger zu werden. Dabei hat die zunehmende Infertilität nicht nur mit dem Altersanstieg der Mütter, sondern auch mit steigenden Einflüssen der veränderten Umwelt und einem ungesunden Lebensstil (Stress, Nikotin, mangelnde Bewegung) zu tun. Die Reproduktionsmediziner Andreas Obruca und Heinz Strohmer helfen in ihrem Kinderwunschzentrum Goldenes Kreuz jener wachsenden Gruppe an Menschen mit unerfülltem Kinderwunsch. Zuletzt haben sie eine enorme Altersverschiebung unter ihren Patienten bemerkt – so hat sich in zehn Jahren das Durchschnittsalter ihrer Patientinnen um zwei Jahre auf 36,5 verschoben.

Was die Reproduktionsmediziner aber besonders verblüfft, ist das fehlende Wissen in der Bevölkerung über den Zusammenhang zwischen dem Lebensalter der Frau (und zum Teil auch des Mannes) und der Möglichkeit einer Schwangerschaft. Durch Medienberichte würde immer noch der Eindruck entstehen, es sei spielend leicht, auch nach dem 40. Lebensjahr schnell schwanger zu werden. „Tatsächlich gibt es einen Abfall der Fertilität, der dramatisch mit 38 beginnt, und mit 42 flacht die Fertilitätskurve noch einmal sehr stark ab“, sagt der Obruca.

Kampagne und Ferticheck

Er und sein Kollege haben nun eine Idee, wie man der sinkenden Geburtenrate entgegenwirken könnte: Sie wollen ein Bewusstsein für die fallende Fertilität schaffen und dafür die Politik ins Boot holen. In einem Informationsbrief an die Ministerien für Gesundheit, Frauen (beide SP) und Familie (VP) haben sie ihre Ideen formuliert: Mit einer Kampagne könnte darauf aufmerksam gemacht werden, dass es nicht selbstverständlich ist, dass Frauen in jedem Alter ein Kind bekommen. Zusätzlich weisen die Ärzte auf eine einfache Untersuchung hin, mit der man den Fruchtbarkeitsstatus der Frau messen kann. „Diese Untersuchung ist nicht völlig neu“, sagt Obruca. Jeder Gynäkologe könne sie heute bereits durchführen, doch sei sie unter niedergelassenen Ärzten und in der Bevölkerung noch zu wenig bekannt.

Der sogenannte Ferticheck umfasst einerseits eine Blutuntersuchung, bei der die Hormone im Blut – darunter das Anti-Müller-Hormon und das follikelstimulierende Hormon – analysiert werden. In einem zweiten Schritt wird ein Ultraschall des Eierstocks gemacht. Die Untersuchung hilft vor allem Patientinnen, die an einem krankhaft früh einsetzenden Wechsel, dem sogenannte Premature Ovarian Failure (POF), leiden. Ein bis zwei Frauen pro 1000 sind davon betroffen. Wenn etwa eine 30-jährige Frau, die sich mit dem Kinderkriegen noch ein paar Jahre Zeit lassen will, durch diesen Ferticheck erfährt, dass die Anzahl ihrer Eizellen gemessen an ihrem Alter schon deutlich gesunken ist, kann sie sich entscheiden, das Kinderthema nicht mehr auf die lange Bank zu schieben.

Kritiker wie der Journalist Andreas Bernard (siehe Interview) wittern hier reine Geschäftemacherei eines Kinderwunschzentrums. Andreas Obruca verneint und sagt: „Im Gegenteil.“ Sein Zentrum sei nicht die richtige Anlaufstelle für den Ferticheck und hätte auch gar nicht genügend Kapazität. Zu ihnen würden zudem nur Frauen kommen, die bereits einen unerfüllten Kinderwunsch haben. Seine Idee sei lediglich, den Ferticheck bekannter zu machen, so dass ihn möglichst viele niedergelassene Ärzte anbieten können. Und der Wunsch an die Politik sei, die Untersuchung, die rund 100 Euro kostet (je 50 Euro für Hormonbestimmung und Ultraschall), finanziell zu unterstützen, damit möglichst viele Frauen diesen Test machen können. „Jeder Frau, der man die Pille verschreibt, sollte man den Ferticheck anbieten.“

Wie klingt so ein Test für eine Frau wie Claudia Hermann, bei der im Jänner der zweite IvF-Versuch endlich funktioniert hat? „Ich bin da zweigeteilt“, sagt sie. Es sei enorm wichtig, über die sinkende Fertilität aufzuklären – andererseits haben sie ihre Erfahrungen mit Zahlen geprägt: „Die Gefahr sehe ich, dass man diversen Zahlen zu viel Beachtung schenkt und eine Maschinerie von Kontrollen und Tests beginnt. Zudem geht Natürlichkeit, Vertrauen in den Körper verloren.“

Vorsorge wie beim Krebsabstrich

Andreas Obruca vergleicht den Ferticheck mit einer Vorsorgeunterschung wie dem Krebsabstrich des Gebärmutterhalses (PAP-Test). Durch diese von der Krankenkasse bezahlte Routineuntersuchung konnte die Häufigkeit von Gebärmutterhalskrebs deutlich reduziert werden. „Natürlich wird auch der Ferticheck, wenn der Befund nicht in Ordnung ist, zu einem Denkprozess führen. Das soll es ja sogar, weil ich dann noch Zeit habe, etwas zu tun.“ Wobei der Reproduktionsmediziner einräumt, dass mit dem Ferticheck auch nicht alle Fehlerquellen im Körper einer Frau gefunden werden.

Ähnlich wie Claudia Hermann spricht die zweifache Mutter Manuela offen über ihre Erfahrungen mit IvF. Sohn Yannik ist fünf und natürlich gezeugt worden, damals war seine Mutter 40. Der Wunsch nach einem zweiten Kind war groß, doch auf natürlichem Weg ging das nicht mehr. Also entschied sie sich für eine IvF-Behandlung, die schon beim ersten Mal klappte. Tochter Amelie ist heute acht Monate alt. Für Manuela ist der künstliche Eingriff ganz normal gewesen. „Ab dem Zeitpunkt, in dem ich wusste, es hat funktioniert, war es wie eine ganz normale Schwangerschaft.“ Sie habe nur noch mehr gelernt, welches Geschenk es ist, ein Kind zu bekommen. Ihr sei nicht bewusst gewesen, dass die Fertilität ab dem 40. Lebensjahr absinkt. „Sonst hätte ich vielleicht schneller versucht, ein zweites Kind zu bekommen“, sagt sie. Den Ferticheck hält sie daher für sinnvoll.

Und die Politik, wie reagiert die auf den Vorschlag? Aus den Ministerien kommen wohlwollend-zurückhaltende Antworten. Im Familienministerium heißt es zwar: „Die Kinder, die sich Familien wünschen, sollen auch geboren werden“, man verweist aber lieber auf anerkannte medizinische Methoden wie IvF. Und das Gesundheitsministerium bestätigt nur, dass Information der Bevölkerung ein wichtiges Erfordernis sei, um Menschen ein gesundes Leben zu ermöglichen. Ein freundliches Abnicken der Forderungen, mehr ist das nicht. Verständlich, wenn man bedenkt, dass die Politik in der Reproduktionsmedizin zuerst andere Hausaufgaben zu erledigen hat: Im Jänner hat der VfGH das sogenannte Lesbenverbot im Fortpflanzungsmedizingesetz, also das Verbot der künstlichen Befruchtung bei gleichgeschlechtlichen Paaren, aufgehoben. Das Gesetz wurde bisher noch nicht entsprechend geändert.

99 Ideen für Österreich: Die Idee

Andreas Obruca und Heinz Strohmer sind Ärzte am Kinderwunschzentrum Goldenes Kreuz. 

Ihr Vorschlag gegen die sinkende Geburtenrate: 1. Eine Kampagne soll die Öffentlichkeit über den Abfall der Fertilität ab dem 38. Lebensjahr informieren. 2. Es wäre wünschenswert, wenn die Politik den Ferticheck (Ermittlung des Fruchtbarkeitsstatus ) finanziell unterstützen würde.

„Presse am Sonntag“, 20. Juli 2014

Phänomedial: „The Leftovers“ – Kettenrauchen gegen das Verschwinden

Das neue postapokalyptische Drama mit einigen Serienstars dürfte rasch treue und geduldige Fans finden.

HBO

Das einjährige Baby, Papst Benedikt XVI., Jennifer Lopez, die Ehefrau des Nachbarns und Salman Rushdie – sie alle sind plötzlich weg. Zwei Prozent der Bevölkerung – also 140 Millionen Menschen und damit jeder fünfzigste Mensch – sind an diesem 14. Oktober vor drei Jahren spurlos verschwunden. Keiner weiß, warum und wohin. Das ist das ebenso rätselhafte wie beunruhigende Setting der neuen HBO-Serie „The Leftovers“, die am Sonntag in den USA angelaufen ist.

Drei Jahre sind seit diesem Tag vergangen und die Welt ist eine andere geworden. Die „Zurückgebliebenen“, wie die Serie wohl etwas missverständlich auf Deutsch heißen könnte (besser wäre wohl: „Die Übriggebliebenen“ oder wörtlich: „Die Reste“), kämpfen mit und gegen das Unerklärliche, jeder auf seine Weise. Der eine erschießt wahllos streunende Hunde und Rehe, andere bleiben nach außen kontrolliert, tauchen aber Nachts im Pool unter – nur dort kann man so laut und lang schreien ohne gehört zu werden. Wieder andere schließen sich der sektenartigen Gemeinschaft namens „Guilty Remnants“ (die schuldigen Übriggebliebenen) an, deren Mitglieder weiße Gewänder tragen, kettenrauchen und nicht mehr miteinander sprechen, sondern nur schriftlich kommunizieren. Sie glauben, dass die Menschheit schuld an dem Verschwinden von Teilen der Bevölkerung ist und halten eine Rückkehr der Verschollenen für ausgeschlossen. Allen anderen, die weiterhin nach einer Erklärung für dieses Mysterium suchen, werfen sie Zeitverschwendung vor. Der Sekte angeschlossen hat sich auch die Ehefrau von Hauptfigur Kevin Garvey (gespielt von Justin Theroux). Als Polizeichef des fiktiven Städtchens Mapleton im US-Bundesstaat New York ist er einer von jenen, die herausfinden wollen, was passiert ist. Nebenbei versucht er seine Frau in sein Leben zurückzuholen, während seine Teenager-Tochter sich isoliert, sein erwachsener Sohn nicht mehr mit ihm spricht.

Die neue Serienware von „Lost“-Autor Damon Lindelof weckt Erinnerungen an die französischen Serie „Les Revenants“ („Die Zurückgekehrten“) und die US-Produktion „Under the Dome“. Wieder werden die Bewohner eines kleinen Städtchens Zeugen und Opfer eines übernatürlichen Ereignisses. Apokalyptische Settings wie diese folgen einem einfachen Rezept: ist der Zuseher in der Pilotfolge einmal infiziert, bleibt er bis zum Ende dran, um das Geheimnis hinter den myteriösen Umständen zu erfahren. Von Folge zu Folge wird ein bisschen mehr verraten, doch das große Ganze wird erst später oder sogar in der nächsten Staffel präsentiert.

HBO/Paul Schirald

„The Leftovers“ basiert auf dem gleichnamigen Roman des US-Bestseller-Autors Tom Perotta und wartet gleich mit mehreren bekannten Darstellern auf. Die Frau von Polizist Kevin Garvey etwa wird von Amy Brenneman dargestellt, manchen vielleicht noch bekannt aus der Anwaltsserie „Für alle Fälle Amy“ und dem „Grey’s Anatomy“-Spinoff „Private Practice“. In dieser Rolle dürfte sie an ihren schauspielerischen Grenzen stoßen, immerhin darf sie keinen einzigen Satz sprechen. Ebenfalls dabei ist Liv Taylor.

Die 72-minütige Pilotfolge war tatsächlich mitreißend und durchaus komplex. Die Serie könnte also rasch eine treue Fangemeinde erreichen, obwohl zum Auftakt am Sonntag in den USA nur 1,8 Millionen zusehen wollten. Einziger Minuspunkt (nach der ersten Folge): Die Stimmung in „The Leftovers“ ist trist und würde eher zu nebligen Novembertagen als in die Sommermonate passen. Zudem werden wir die vielen Stars genau beobachten. Mal sehen, ob sie halten was ihr Star-Appeal verspricht.

SkyGo zeigt die Serie seit 30. Juni im Originalton. Ab Herbst läuft die Serie auf Sky Atlantic HD in synchronisierter Fassung.

Kira Stachowitsch: „Wir könnten ja unabsichtlich Teil einer ganz ganz hippen Sache sein“

Interview. Die Wiener Trendconsulterin und Herausgeberin der Mode- und Lifestylemagazine „Indie“ und „Material Girl“ warnt davor, die neue Strömung nicht mit der immer noch flammenden Nineties-Leidenschaft zu verwechseln.

Der Mass-Indie- oder Hipster-Stil wird nun von der Hardcore Normalität abgelöst, sagt eine New Yorker Trendagentur. Was halten Sie von der neuen Kategorisierung als „Normcore“?
Kira Stachowitsch: Es ist faszinierend, wie Normcore es geschafft hat, gerade überall auf und ab zitiert zu werden. Das liegt vermutlich daran, dass viele Medien darin ein für den Mainstream interessantes und nachvollziehbares Modetrendthema sehen, das mit der Idee spielt, wir alle könnten unabsichtlich Teil einer ganz, ganz hippen Sache sein. Aber da gibt es ein großes Missverständnis: Man kann es Normcore nennen, wenn Kunststudenten in Mom-Jeans, verschnittenen Logoshirts und Werbekappen herumlaufen. Weil es ein bewusstes Zitat ist und ein gewisser Witz, wenn man es so nennen will, dahintersteckt. Das macht den H&M-Durchschnittsträger aber eben – Gott sei dank – noch lange nicht zum Normcore-Anhänger.

Wie lange hält sich so eine Trend-Kategorierisierung?
Normcore funktioniert ob seiner Subtilität anders als andere subkulturell geprägten Modestile nicht als lautes und auffälliges Abgrenzungszeichen der restlichen Gesellschaft gegenüber. Insofern ist nicht anzunehmen, dass er sich in die Herzen und Schränke jener schleicht, die ihre Individualität gern durch Mode ausdrücken. Ich glaube, wir müssen uns also noch keine Sorgen darüber machen, dass die halbe Menschheit in einen Trend hineingeraten ist, von dem sie nichts wusste. Die wenigsten COS-Träger sehen aus wie Bill Gates auf Italien-Urlaub und Omas Strickjacke verwandelt einen sicher auch noch nicht in Jerry Seinfeld. Er und Bill zählen ja zu den sexy Posterboys der Normcore-Bewegung. Wenn man sich fragen muss, ob man unbewusst längst einer Trendströmung angehört, dann ist die Antwort ziemlich sicher: Nein.

Stimmt es, dass sich das „neue Normal“ bereits auf den internationalen Laufstegen zeigt? Setzen Labels wie COS schon länger auf diesen Stil?
Die Normcore-Sichtungen auf den Laufstegen würde ich eher auf die noch immer flammende Nineties-Leidenschaft in der Mode zurückführen. Viele Normcore-Keypieces stammen aus dieser glücklichen Zeit, in der Jeans und weißes T-Shirt „Casual Chic“ genannt wurden und nichts über das richtige Logo, im besten Fall CK, auf der Brust ging.

Was ist überhaupt „normal“ in der Mode?
„Normal“ meint konform. Ein Look für alle, die es bevorzugen, in der grauen Masse unterzutauchen.

Steckbrief

Kira Stachowitsch 
* 1984 Wien, Journalistin, Model, Trendconsultant und mit Clemens Steinmüller Gründerin der Magazine „Indie“ und „Material Girl“.

Ihre Garderobe umfasse Kleidungsstücke aus diversesten Dekaden und Stilen, somit könne sie „einer Kategorisierung ziemlich sicher noch von der Schippe springen“.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 27.04.2014)

08/15 ist das neue Ziel: Das Normale wird die Norm

Der Mensch ist müde vom Anderssein und will in der Masse untergehen. Normcore heißt der von einer New Yorker Agentur erfundene Trend. Statt Hornbrille und Vollbart zu tragen sind jetzt bald alle „hardcore normal“.

Das Normale hatte es zuletzt nicht unbedingt leicht. Das Andersartige, Ausgefallene, irgendwie Schräge war im Zweifel erstrebenswerter als das Naheliegende. Trendbewusste Menschen urlaubten lieber in der Sächsischen Schweiz statt an der Adria, trugen Brillen oder Ketten mit „Statement“ um zu zeigen: „Ich habe die aktuellen Fashion-Codes verstanden“ und fuhren Rad statt Auto, am besten das Gefährliche ohne Bremsen und Gangschaltung. 

Doch jetzt kehrt sich der Trend um: Das Normale wird wieder entdeckt. So prophezeit das zumindest die New Yorker Agentur K-Hole in ihrem Report „Youth Mode“. Die Menschen würden nach Jahren des Anderssein-Wollen nun das Normale und Unaufgeregte suchen. Was genau normal ist, erklären sie allerdings nicht. Das Credo laute: Besser dazugehören als sich absetzen, besser empathisch sein als abgehoben. „Normcore“ nennen die K-Holer ihre Trend-Kreation, die den „Mass-Indie“ (den Massen-Individualisten) oder Hipster ablösen soll.

Und plötzlich ist die Hardcore-Normalität in aller Munde. Von den Stilseiten der Modemagazine tönt es: Rasiert euch die Vollbärte! Räumt die Stofftaschen weg! Holt No-Name-Jeans und das No-Label-T-Shirt aus dem Schrank! Fortschrittlich sei jetzt, wer aussehe wie die Supermarktkassiererin aus Scheibbs. Prominente Paten für den Nicht-Stil waren mit Bill Gates oder Sarah Jessica Parker schnell gefunden. Dass der Microsoft-Gründer sich immer schon so uninspiriert anzog, stört die Normcore-Beschwörer nicht. Das „neue Normal“ (© „New York Magazine“) sei überall: am Laufsteg bei Karl Lagerfeld, im Fernsehen bei „Girls“. Dabei werden in der Trend-Euphorie viele Stile und Phänomene in einen Topf geworfen. Und nein, Kleider von H&M und Möbel von Ikea sind nicht automatisch „neues Normal“. Die Berliner Schriftstellerin Ulrike Sterblich stellte treffend fest: Das Wort Normcore habe sich so verselbstständigt, dass es seine Schöpfer zurückließ „wie den Zauberlehrling, der sein Geschöpf nicht mehr beherrschen kann“.

Reden wir über das Wetter

Tatsächlich fühlen sich die Prognosemeister von K-Hole missverstanden. Sie wollten in ihrem Trendreport (der als PDF unter khole.net abrufbar ist) mehr als einen neuen Modetrend ausrufen. „Normcore“ sei eine neue Lebenseinstellung, die mit Freiheit zu tun habe. Nach dem Motto: Alles was du tust und trägst ist cool (und ja, das Wort darf man neuerdings auch wieder sagen). Coolness sei dabei kein Vorrecht der Jugend mehr. Mass-Indie sei in etwa so wie über den Traum von letzter Nacht zu sprechen, bei Normcore rede man stattdessen über das Wetter. Langweilig? Nein, unverkrampft und normal.

Eigentlich hätten wir selbst darauf kommen können: Am Höhepunkt von Hipster-Hass und Vollbart-Aversion musste etwas völlig Konträres kommen. Genug Zottelbart. Genug Strickmütze. Wenn jede neue Großstadt-Bar im „shabby chic“, also betont unfertig, eingerichtet wird und schon Finanzbeamte und Mittelschullehrerinnen dicke Hornbrillen und knallbunte Sneakers tragen, ist ein individueller Trend in der Masse angekommen, und es wird Zeit für den nächsten. Die Mode folgte schon immer diesem rhythmischen Auf und Ab: Nach dem Minirock kommt der knielange, ausgestellte, nach engen Hosen weite, nach Ballerinas spitze Pumps. Aber ist dieses „neue Normal“ nun wirklich etwas, das sich in unser aller Alltag breit macht? Eine Gegenreaktion zum durch Internet und soziale Netzwerke verstärkten Individualismus-Exzess. Vermutlich nicht. „Don’t Believe the Hype“ rappten die Musiker von Public Enemy schon 1988 – und das könnte die Begleitmusik zur Normcore-Debatte werden. Kira Stachowitsch, die Herausgeberin vom österreichischen Mode- und Lifestylemagazin „Indie“, glaubt nicht, „dass die halbe Menschheit in einen Trend hineingeraten ist, von dem sie nichts wusste“ (siehe Interview).

Wahrscheinlicher ist: Das neue Zauberwort Normcore kam einfach nur zur sehr rechten Zeit und ist ein künstlich geschaffener Trend, der sich im Netz viel schneller verbreitet als die vor-vor-letzte Subkultur-Kategorisierung der Hipster (siehe Glossar). Bald schon wird man von der Tyrannei des Normalen sprechen. 
Kleine Renaissance. Wobei auffällt: Den Blick muss man gar nicht so weit und nicht in die USA richten, um eine kleine Renaissance zumindest der Auseinandersetzung mit dem Normalen zu erkennen. Das deutsche Wirtschaftsmagazin „Brandeins“ widmete dem Thema schon im Herbst – und sicher ohne Kenntnis des da gerade erst erschienenen K-Hole-Reports – eine Ausgabe. Der Berater Reinhard K. Sprenger, der zur Heftkritik geladen war, hatte das Thema angeregt. Weil ihm seltsam erschien, dass Unternehmen zwar Millionen für Innovationsprogramme ausgäben, gleichzeitig alles dafür täten, den Normalbetrieb aufrechtzuerhalten, schrieb Chefredakteurin Gabriele Fischer in ihrem Editorial.

Es lohnt sich, den Begriff Normalität näher zu betrachten. Was ist eigentlich „normal“? Normen und Standards sind einem ständigen Wandel unterlegen und fungieren wie ein Messinstrument für die Gesellschaft. Doch kaum ein Begriff ist so ambivalent: Das Normale gilt gleichermaßen als erstrebens- wie verachtenswert. Wir wollen nicht als psychisch krank oder abnormal auffallen, aber auch nicht langweilig sein und in der Masse untergehen. Wer will schon als „08/15“ oder „Otto Normalverbraucher“ bezeichnet werden? Vincent van Gogh stellte schon Ende des 19. Jahrhunderts fest, die Normalität sei „eine gepflasterte Straße, auf der man gut gehen kann – doch es wachsen keine Blumen auf ihr“.

Normalverbraucher
Unternehmen wie Menschen wollen nicht normal sein, weil sie sonst nicht unterscheidbar sind, sagt der Journalist und „Brandeins“-Mitgründer Wolf Lotter. In seinem Prolog zum Heft-Schwerpunkt erinnert er daran, dass das Normale nach dem Zweiten Weltkrieg Leitbild war: „Der Normalverbraucher war das neue Normalnull nach dem verlorenen Krieg, eine dünne Existenzlinie, an dem man seine Existenz neu ausrichten konnte.“ Heute, wo wir die alte Normalität nicht mehr wollen, aber noch keine neue gefunden haben, seien wir orientierungslos. Dabei betont Lotter im Gespräch, dass Normalität, vor allem in der Wirtschaft nichts Erstrebenswertes sei: „Die Kunst ist, den Rahmen so offen zu halten, dass potenziell keine Innovation und keine Vielfalt verhindert wird. Bürokratie schafft Konformisten. Die sind unser größtes Problem.“ Und zwar eines, das dem Jugendforscher Philipp Ikrath bekannt vorkommt. Die jüngste Shell-Jugendstudie (2010) zeigte, dass für über 80 Prozent der befragten 12- bis 25-jährigen Deutschen wichtig ist, „fleißig und ehrgeizig“ zu sein. Ikrath: „Da fragt man sich schon, wo die jugendlichen Nonkonformisten geblieben sind.“

Zudem sieht der Jugendexperte ein begriffliches Problem: „Was soll der Gradmesser sein, an dem sich ein vermeintlicher ,Normcore‘ orientiert? Hören die jetzt alle Schlager, weil sich die Platten von Helene Fischer und Andrea Berg besser verkaufen als alles andere und sie deswegen eine Norm etabliert haben? Kämpfen sie für eine Rückkehr von ,Wetten, dass…?‘“

Vielleicht sei unsere Gesellschaft, in der es keine normierten Lebensläufe oder Lebensstile mehr gibt, die Individualität selbst schon Mainstream, also normal geworden, ergo Normcore das Nicht-Normale, so Ikrath. So beißt sich die Theorie selbst in den Schwanz. „Der moderne Individualist ist im Inneren konformistisch, seine Andersartigkeit zeigt sich nur an der Oberfläche und in belanglosen Details der Lebensführung: MP3 oder Vinyl? Apple oder Android? Rihanna oder Lady Gaga? Insofern leben wir ohnedies längst in Zeiten des mentalen Normcores, der aber recht erfolgreich durch sich ständig ändernde Modephänomene retouchiert wird.“

 

Glossar der Subkulturen

Eine Auswahl verschiedener Subkultur-Labels, ohne Anspruch auf Vollständigkeit:

Bobo: Erfunden hat den Begriff „Bourgeoise Bohemien“ der „New York Times“-Kolumnist David Brooks im Jahr 2000. In seinem Buch „Bobos in Paradise“ schrieb er über die „Konservativen in Jeans“ als Menschen der Oberschicht, die beruflich erfolgreich sind und eine nonkonformistische Haltung haben. Bei ihnen würde sich das Denken der Hippies und der unternehmerische Geist der Yuppies verbinden. Bobos seien Idealisten mit Hang zu sanftem Materialismus, korrekt und kreativ.

Hipster sind die jüngeren Geschwister der Bobos. Der Begriff ist seit 2010 in aller Munde und wird meist etwas spöttisch gebraucht für Menschen, die zwar szenebewusst sind, aber den Mainstream verweigern. Typisch ist das Mischen verschiedener Stile – etwa Hardcore Punk und Emotional Hardcore (Emo). Erkennbar sind sie an: Flanellhemden, übergroßen Hornbrillen, engen Hosen, Jute- oder Stoffbeuteln und einer Strickmütze.

Yuppie steht für das englische „young urban professional“. So bezeichnete man in den 1980er- Jahren junge, karrierebewusste Erwachsene der städtischen oberen Mittelschicht. Auch der Boom der Computerbranche und später jener der New Economy der 1990er-Jahre setzte diesen Trend fort. 

Nerd: Auch dieser Begriff kommt aus dem Englischen und steht für Fachidiot, Sonderling oder Außenseiter. Ähnlich wie der Geek sind damit Menschen gemeint, die sich besonders für Computer, Technik oder Wissenschaft interessieren oder sehr intelligent sind. Während der Begriff ursprünglich negativ konnotiert war, ist er heute weit verbreitet und wird durchaus als selbstironische Eigenbezeichnung gesehen. 

Yetties sind die ungewaschenen, naturnahen Hipster. Damit gemeint sind vor allem Männer, die sich besonders naturnah geben und gern strubbeliges Haar und einen dichten Bart tragen. Hygiene ist nicht unbedingt groß angeschrieben. 
 

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 27.04.2014)

„Blendle“: Eine Revolution?

Zwei 27-jährige Holländer haben mit „Blendle“ so etwas wie iTunes für Nachrichten kreiert. Ein Münchner Start-up stellte „Laterpay“ vor.

Hollands Medienbranche steckt dieser Tage alle Hoffnungen in zwei 27-jährige ehemalige Journalisten und ein Ding namens „Blendle“. Denn schließlich haben Alexander Klöpping und Marten Blankesteijn nichts weniger als „die Revolution“ für die Branche angekündigt. Was manch ältere Journalisten und Verleger noch zu einem eher ungläubigen „Na, das werden wir erst sehen“ hinreißt.

Blendle (kommt vom Englischen „Blender“, also Mixer) soll so etwas wie das iTunes für Nachrichten sein und ein soziales Netzwerk gleich dazu. Eine einfach zu bedienende Plattform, auf der man Nachrichten aus allen Medien des Landes kaufen kann. Schon vor dem offiziellen Start im April sind 95Prozent aller niederländischen Medienmarken an Bord, erzählt Marten Blankesteijn. Zweieinhalb Jahre haben er, sein Kompagnon Klöpping und zwölf Entwickler und Designer an dem Produkt gefeilt. Klöpping ist mit 155.000 Twitter-Followern und als häufiger Gast in Talkshows eine recht bekannte, manche sagen, sehr von sich überzeugte Medienfigur in Holland. Blankesteijn erzählt von den Anfängen der News-Mix-Idee: „Wir hatten zuerst nur ein Stück Papier mit unserer Idee. Die ließ sich so aber schwer verkaufen.“ Also begaben sie sich auf die Suche nach Sponsoren und Verlagen, die sich bereit erklärten, eine Demoversion mitzufinanzieren. Das wirkte schon überzeugender. „Denn sehen ist glauben“, so Blankesteijn. Sein Marketingsprech sitzt schon fast so gut wie der der großen Digitalkonzerne.

Aber wie genau funktioniert Blendle? Jeder Nutzer bekommt zu Beginn ein Guthaben von zwei Euro geschenkt, mit dem er Artikel auf der Onlineplattform kaufen kann. Die Texte kosten zehn bis 45 Cent oder mehr. Von Online-Supermärkten wie Amazon und Zalando haben sie sich die Philosophie des Rückgaberechts abgeschaut. Wer das Gefühl hat, der gekaufte Artikel hielt nicht, was er versprach, kann sich innerhalb von 24 Stunden das Geld zurückholen. Relativ viel Zeit, um sich eine Meinung über einen Text zu bilden, sogar so viel, dass man ihn fotografieren oder gar abschreiben kann. Doch gegen Missbrauch sind die Blendler angeblich gerüstet: Ein Automatismus verrät, wer wie oft den „Refund“-Knopf drückt. Man wird gesperrt, wenn das zu oft vorkommt. Generell wolle man dem Prinzip folgen: „You only pay for articles that you like.“
Spotify versus iTunes. Für das Modell von iTunes und gegen das von Spotify habe man sich bewusst entschieden. Bei dem schwedischen Musikdienst bezahlt der Nutzer eine Flatrate von 9,99 Euro pro Monat für werbefreien Musikgenuss. „Die Verlage hat diese Flatrate aber abgeschreckt.“ Kein Verleger will sein Zeitungsabo, das beispielsweise 30 Euro pro Monat kostet, zum Niedrigsammelpreis von zehn Euro pro Monat für alle Inhalte verscherbeln. Dies sei der größte Unterschied zur Musikindustrie, so Blankesteijn. „Die hatte nie Abonnenten zu verlieren, die 30 Euro pro Monat gezahlt haben.“

Ähnlich wie der iTunes-Erfinder Apple schneiden die Blendler 30 Prozent am Umsatz ihrer Kunden mit. „Der Unterschied ist aber, dass wir eine komplett fertige Plattform anbieten, die von allen Geräten abrufbar ist. Bei der Nutzung einer iTunes-App muss man erst einmal auf eigene Kosten eine App entwickeln.“ Gezahlt wird nach der Anmeldung und dem Erstellen eines eigenen Profils mit einem Klick. Insgesamt klingt das nach einem durchdachten, auf Qualitätsmedien abgestimmten Konzept – aber wird es die Medienbranche revolutionieren? Die Blendler sind sich sicher. Ihr Dienst werde den Verlagen erstmals helfen, den Wert eines einzelnen Artikels zu ermitteln. Ein Erfolg für Holland wären 25.000 zahlende Nutzer. Ein (logischer) nächster Schritt wäre die Expansion in andere Länder. Schon jetzt gebe es viele Anfragen großer europäischer Verlage.

Dass die holländischen Verlage dem Start von Blendle mit gemischten Gefühlen entgegensehen, sagt Blankesteijn natürlich nicht dazu. In Holland hat fast jede nationale Tageszeitung ihre eigene Paywall (Bezahlschranke) im Internet eingerichtet, wenn auch mit unterschiedlichem Erfolg. Das dürfte zwar den Boden für eine Bezahlkultur bereiten, wovon Blendle nun profitieren könnte. Den Verlagen wird es aber nur wenig gefallen, dass sich ihre Kosten für aufwendige Paywalls möglicherweise nicht wirklich gelohnt haben, wenn jetzt das zahlbereite Lesepublikum zum hübscheren und technisch ausgefeilteren Blendle wandert. Andererseits: Wer bereits regulärer Abonnent einer Zeitung ist, bekommt alle Texte der Publikation auf Blendle automatisch freigeschaltet. Die Erwartungen sind nicht nur in Holland groß. Für manche Blogger ist es gar die „most sexy paywall in the world“, die Spaß macht.

Spaß machen. Das ist offenbar das Wort der Zeit, wenn es um das Bezahlen im Netz geht. Auch das am Donnerstag von einem Münchner Start-up und dem Blogger Richard Gutjahr präsentierte Micropaymentsystem wurde im Blog Netzwertig gleich als so einleuchtend gepriesen, „dass es sogar Spaß machen könnte“. Bei „Laterpay“ klickt der Nutzer auf einen Artikel, erfährt, wie viel er kostet, muss sich aber erst ab einer Summe von fünf Euro registrieren und dafür zahlen. Laterpay basiert auf der optimistischen Philosophie, dass der Leser für Texte zahlen will, wenn sie ihm etwas nutzen. Ähnlich wie bei Blendle will man mit Laterpay langsam, aber bestimmt das Ende der Gratismentalität im Netz einläuten.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 23.03.2014)

(Sehn-)Sucht nach Ordnung: Die Liste ist überall

Sie war eigentlich nie weg, gerade erlebt sie aber eine kleine Renaissance im Netz: die Liste. Onlineportale wie Buzzfeed generieren mit ihr besonders viele Klicks und auch gedruckt ist sie immer noch begehrt. Es scheint, der Mensch sehnt sich in unübersichtlichen Zeiten noch mehr nach der Ordnung durch Reihung.

Diese Geschichte beginnt mit einem kleinen Test: Welche Assoziationen haben Sie zum Stichwort „Liste“? Eine nicht repräsentative Blitzumfrage in der „Presse“-Redaktion ergab erstaunlich viele Übereinstimmungen und ein paar Dinge, die wirklich jedem einfielen. Die häufigsten Nennungen in fünf Punkten, somit die Liste der Liste:

  1. Die Mutter aller Listen, das sind die Zehn Gebote.
  2. Die musikalische, das ist der Roman „High Fidelity“ von Nick Hornby.
  3. Die unterschätzte, die Einkaufsliste.
  4. Die feuilletonistische, das ist der Kanon der Literatur.
  5. Die ordentlichen, das sind ganz viele, nämlich Rankings, Hitparaden, Bestsellerlisten…

Kurz gesagt: Die Liste begegnet uns überall. Warum der Mensch immerzu nach Ordnung durch Reihung strebt, ist an sich schnell erklärt: „Es ist der alte Traum von der Übersichtlichkeit des Lebens, der in einer unübersichtlichen Zeit noch größer wird, aber unerfüllbar bleibt“, sagt der deutsche Philosoph Wilhelm Schmid. Eine Spur existenzialistischer sieht das sein italienischer Kollege Autor Umberto Eco. In seiner 2009 erschienenen subjektiven Kulturgeschichte der Liste und des Katalogs schreibt er: „Wir mögen Listen, weil wir nicht gern sterben wollen.“ Und für den Zeichner und Autor Tex Rubinowitz sind Listen gar „Seufzer des Glücks“.

Doch zu allererst wollen wir: Ordnung in das Chaos bringen. Kein Wunder, dass die Liste da, wo es besonders unübersichtlich ist, gerade eine kleine Renaissance erlebt: im Internet. Auf Onlineportalen wie Buzzfeed, Huffington Post, The Upworthiest oder Thought Catalog taucht sie in einer neuen Spielart auf. Als nicht immer ernst gemeinter Lebensratgeber oder Erklärjournalismus in Häppchen, oft garniert mit lustigen Fotos. „Buzzfeedsplaining“ nennt man scherzhaft das, was diese Portale tun, nämlich die Welt auf ihre Art, meinungsgetrieben und meist ohne Faktenprüfung, zu erklären.

Bloß nicht kompakt

Egal ob „24 Simple Tricks to Reduce Your Anxiety“ oder „19 Things You Should Thank Your Dad For“ – die Buzzfeed-Mitarbeiter und -Kolumnisten lassen kaum einen Lebensbereich aus; jedes noch so unlösbare Problem (zu dick, zu dünn, zu introvertiert, zu einsam, zu gestresst), jede Lebenssituation (Single, verheiratet, frisch geschieden, arbeitslos und immer wieder: Katzenbesitzer) wird gelistet.

Dabei achten die Listenersteller darauf, dass es niemals kompakte fünf, zehn oder zwanzig Lösungswege für ein Problem gibt, sondern eben 19, 24 oder gar 41. Diese Ungenauigkeit sei die Spezialität ihrer Reihungen, wie der britische Buzzfeed-Chef Luke Lewis dieser Tage am Queen’s College in Oxford erklärte. Und ihr simples Rezept dahinter hat schon bei Horoskopen funktioniert: Je länger die Liste, desto höher die Chance, dass sich ein Leser darin wiedererkennt, das Gelesene freudig auf Facebook oder Twitter teilt und dazu postet: „Nummer drei – das bin so ich!“

Bis zu 130 Millionen Menschen pro Monat lesen, liken und lieben Buzzfeed mittlerweile. Ein Trend, der Medienexperten die Stirn runzeln lässt. Weil Google und andere Suchmaschinen Listentexte mit ihren Suchalgorithmen bevorzugen und der Erfolg von Huffington Post und Co. neidisch macht, wird nun überall gelistet, online ebenso wie in Printmedien. Längst hat das Listenbasteln im Netz einen eigenen Namen, nämlich „Listicles“. Ihren Aufstieg im Netz hat die Liste nicht zuletzt Kurznachrichtendiensten wie Twitter zu verdanken, weil sich dort Geschichten mit einprägsamen und schrägen Titeln wie „The 22 Awful Stages of Going to a Conference“ rasch verbreiten. Seit einiger Zeit spiegelt sich der virtuelle Erfolg der Liste in der analogen Welt wider, nämlich ausgerechnet da, wo sie schon fast für tot, weil inflationär, bieder und langweilig erklärt wurde: im Buchhandel.

Neue Welle der Listomanie

Listenbücher sind das Running Sushi der Verlagsbranche: schnell gefertigt, in Massen verkauft und leicht verdaulich. Mit telefonbuchdicken Werken wie „1000 Places to see before you die“ fing diese Listomanie vor zehn Jahren an, oder eigentlich muss es heißen: erlebte ihr x-tes Revival. Eines der bekanntesten seiner Art ist das „Book of List“ der Geschwister David Wallechinsky und Amy Wallace aus dem Jahr 1974. Und die eingangs erwähnten Zehn Gebote erinnern uns daran, dass schon die Bibel zur Ordnung als Stilmittel griff. Auch mit dem Literaturkanon versuchte man ab dem 17. Jahrhundert, die nach der Einführung des Buchdrucks immer größer werdende Menge an literarischen Werken einzuordnen und zu bewerten. Was ist gut? Was ist schlecht? Was soll in den Kanon, in die Liste, was nicht? Auch die Bewertung, die Erhabenheit über andere sind essentielle Funktionen von Listen.

Das gilt auch für Musik. Mit dem Aufkommen des Pop Ende der 1950er, Anfang der 1960er-Jahre und der Aufweichung klassischer Musikstile war die In-and-out-Liste geboren. Plötzlich gab es nicht mehr nur eine Musikrichtung, die richtig und gut war, einen Kleidungsstil, eine Frisur. Erlaubt war, was gefiel. Und was heute gut oder schick war, konnte morgen bereits „out“ sein. Künstler wie Andy Warhol erstellten völlig subjektive Listen, etwa von Lieblingsorten, die nicht Ordnung, sondern Kunst schaffen wollten. 
Klammer für die Popkultur. Von der Popkultur ließ sich auch Thomas Weber, der Herausgeber des Kultur- und Szenemagazins „The Gap“, bei seinen „Gastcharts“ inspirieren. Seit 2001 lädt er in jeder Ausgabe Vertreter aus der heimischen Musik- und Medienwelt ein, Dinge, Menschen oder Beobachtungen zu reihen. Daraus entstehen dann die „Top 5“ der skurrilsten Spam-Betreffs oder die „Top 10“ der abgedroschensten Wien-Klischees. „Das ist formal eine spannende Klammer, um Popkultur in Form zu bringen“, so Weber. Also wieder: Klammer, Ordnung, Übersicht als Primärfunktion der Liste, in diesem Fall kommt aber auch der Spaß, die Ironie als Unterhaltungselement dazu.

Wo die Ordnung aufhört und das Kunststück beginnt, wird die Liste für Tex Rubinowitz (siehe Interview) erst interessant. In seinen Büchern stellt er willkürlich Dinge zusammen, auch Fiktives, seine Listen sind mehr Gedicht oder Spielerei als schnöde Aufzählung, wie schon die Titel verraten: „Die 6 drängendsten Fragen eines Sitzenden“, „9 Erfindungen, die es nicht leicht haben auf dem Patentamt“ oder „Die 4 Schwestern der Fliege in der Suppe“.

Mit Kultur haben die aktuellen Frühjahrsvorschauen mancher Verlage kaum mehr etwas zu tun. Sie erinnern eher an Junkfood, sie sind gewissermaßen Fast-Read-Produkte. Der deutsche Großverlag Schwarzkopf & Schwarzkopf hat für sich die Zahl 111 entdeckt. Dutzende dieser Bücher mit Titeln wie „111 Gründe, Katzen zu lieben“ hat er bereits im Programm, nun kommen zehn weitere dazu.

Inflationäres Sammelsurium

Dabei begann die letzte Welle der Listenhypes in Buchform noch recht charmant. Der Brite Ben Schott listete 2005 in seinem „Sammelsurium“ kuriose, aber wahre Dinge auf, etwa „Elf Nahrungsmittel mit wenig Kalorien“ oder „Zehn Worte, die Shakespeare am häufigsten benutzte“. Das gefiel vor allem den ordnungsliebenden Deutschen so gut, dass sich der Journalist in seinem jüngsten Buch „Schottenfreude“ deutschen Begriffen widmet, die auch im Englischen benutzt werden. Der Listen ist er langsam überdrüssig. Kein Wunder, jedes Jahr kommt ein neues „Sammelsurium“ heraus, daneben eigene Ausgaben über Essen und Trinken, Sport und Spiel. Die „Sammelsurium“-Bände sind wie die Notizbücher von Moleskine: ein Nice-to-have, das zu Hause meist nur ungenutzt herumliegt. Etwas humoristischer und anekdotischer legte Schotts österreichischer Kollege Christian Ankowitsch sein (ebenfalls 2005 erschienenes) „Kleines Universalhandbuch“ und die Nachfolgebände an, die ebenso erfolgreich waren wie Schotts Bücher. Seine Ratschläge (etwa für die korrekte Tischordnung) haben rückblickend betrachtet Ähnlichkeit mit den Buzzfeed’schen Lebenstipps.

Umberto Eco hat also recht, wenn er sagt: Die Liste ist und bleibt ein Dauerbrenner. Wie wichtig sie heute ist, hat am Spätabend des vorigen Jahrhunderts die BBC vorausgesehen: Die „Listomanie“ erklärte sie schon 1999 zur „Sucht des neuen Jahrtausends“.

(„Die Presse am Sonntag“, Print-Ausgabe, 16.02.2014)

 

Summary in English

In this collection of articles from the “Presse’s” newspaper Sunday edition „Presse am Sonntag“, the focus is on the return of the humble list in all its variations.

From novels like Nick Hornby’s „High Fidelity“ and Ben Schott’s „Miscellany“ as well as rankings from every walk of life to music charts and even the Ten Commandments – lists are everywhere.
Anna-Maria Wallner’s feature “Desire for order: the ubiquitous list” analyzes the current rise in lists on websites like “Buzzfeed”, “The Upworthiest” and “Thought Catalog” and presents a brief summary of the list’s cultural history, quoting philosophers and authors like “The Name of the Rose” creator Umberto Eco as well as British Buzzfeed-CEO Luke Lewis.
In an increasingly complex world, today’s yearning for lists signifies a desire for clarity and a semblance of control, as described by German philosopher Wilhelm Schmid. Additionally, it is a comforting way to simplify life around us. Buzzfeed’s concept are odd-numbered lists like „19 Things You Should Thank Your Dad For“, trying to feature elements that immediately attract as broad a readership as possible.

Also featured in the text selection is an interview by Anna-Maria Wallner with the Austrian comedian, author, caricaturist and list-aficionado Tex Rubinowitz and journalist Isabella Wallnöfer’s portrait of Buzzfeed founder Jonah Peretti.

Ein Ring, zwei Monatsgehälter

Rezension. Um jene Werberin, die 1947 den Slogan »A diamond is forever« erfand, dreht sich J. Courtney Sullivans neuer Roman. Eine Geschichte der Verlobung, etwas zu langatmig erzählt.

Endlich steht Frances Gerety auf einer großen Bühne und darf sagen, was sie sich denkt. Die Werbeagentur Ayer, für die sie mehr als 30 Jahre gearbeitet hat, und der Diamantenproduzent De Beers feiern ein halbes Jahrhundert Zusammenarbeit – und weil Frances maßgeblich für den Erfolg dieser Geschäftsbeziehung verantwortlich war, erhält sie eine späte Anerkennung.

Diese Frances Gerety gab es wirklich. Sie war eine der wenigen Frauen, die sich früh in der männlich dominierten Welt der Werbung behauptete, und wäre das nicht in Philadelphia gewesen, man könnte von der Welt der „mad men“ in New York sprechen. Der berühmte Slogan „A diamond is forever“ stammt von ihr und fiel ihr 1947 in der Nachkriegszeit ein, in der die Nachfrage für Diamantringe verschwindend gering war. Junge Frauen wollten lieber eine Waschmaschine statt einen teuren Klunker am Finger. Auch dank Frances Geretys Werbesujets wurde der Diamantring innerhalb einer Generation zum Verlobungsmuss. Und es etablierte sich die ungeschriebene, in manchen Kreisen bis heute geltende Regel, dass ein Mann mindestens zwei seiner Monatsgehälter für den Verlobungsring ausgeben soll. Ironie des Schicksals: Frances Gerety, ein Leben lang Vermarkterin diamantener Glücksversprechen, sollte selbst nie verlobt geschweige denn liiert sein.

Vier Ehen, vier Ringe

Und doch bot das Leben dieser Frau offenbar zu wenig Stoff für ein Buch. Ihre Geschichte bildet nur das Gerüst in J. Courtney Sullivans neuem Roman „Die Verlobungen“. Daneben erzählt sie viel weitläufiger und leider streckenweise auch viel langatmiger von vier Ehen bzw. Paaren zu unterschiedlichen Zeiten.

Wir begegnen Evelyn und Gerald, einem Mittelschichtspaar, das Anfang der 1970er mit ihrem Sohn, der sie mehrmals enttäuscht hat, hadert. Im Jahr 1987 lebt James, der seine Familie als Krankenwagenfahrer kaum erhalten kann und fürchtet, seine Frau, Sheila, aufgewachsen in besseren Kreisen, könnte ihn eines Tages verlassen. 25Jahre später spielt die Geschichte der Singles Delphine und Henri, die beide um die Übernahme eines kleinen Musikgeschäfts in Paris kämpfen und es von den Erben des Besitzers schließlich gemeinsam zugesprochen bekommen. Aus den Geschäftspartnern werden rasch Eheleute, deren eintöniges Leben eines Tages abrupt durch den Besuch eines jungen Violinisten aufgewirbelt wird. In der Gegenwart treffen wir auf Kate und Dan, die trotz ihrer Tochter Ava nicht heiraten wollen. Ausgerechnet die emanzipierte Kate, die die Ehe beinah für so etwas wie Folter hält, muss bei der Hochzeit ihres schwulen Cousins die Ringe bewachen.

All dies kommt dankenswerterweise ohne zuckersüße Kitschglasur aus, soll es doch eher daran erinnern, dass nicht auf jede rührende Ringübergabe eine erfüllte und problemfreie Ehe folgt. Der Verlobungsring spielt stets nur eine Randrolle. Einmal ist er vier Karat groß, einmal verschwindend klein, einmal gehütetes Erbstück, er wird mehrmals gestohlen, einmal verloren, einmal als Kette um den Hals getragen.

Trotzdem bleiben in der Fülle an Charakteren und Jahrzehnten die Figuren seltsam schablonenhaft. Richtig ärgerlich ist aber, dass der Roman trotz seiner Länge (580 Seiten) und neben den bis ins kleinste Detail beschriebenen Paarungen, die wirklich interessanten Dinge auslässt: Als etwa Frances Gerety bei der Firmenehrung auf die Bühne tritt und ihre Dankesrede hält, erfahren wir nicht, was sie den „mad men“ ihrer Zeit zu sagen hat. Dabei hätten wir das so gern gehört. 

Neu erschienen

J. Courtney Sullivan
„Die Verlobungen“, übersetzt von Henriette Heise,
Zsolnay Verlag
590 Seiten
22,60 Euro

(„Die Presse am Sonntag“, Print-Ausgabe, 09.02.2014)