Liebeskomödie: Burn-out? Haben jetzt alle!

Rezension. René Freund erzählt in „Liebe unter Fischen“ von einem erschöpften Dichter, der auf einer Berghütte allzu leicht wieder zu Lebens-, Liebes- und Schreibfreude findet.

Das Herz rast, und keiner weiß warum. Die Ärztin empfiehlt dem sensiblen Dichter drei Dinge: Psychotherapie, Meditation – und Ruhe. „Gehen Sie in die Stille. In eine Berghütte zum Beispiel“. Selten kam ein Burn-out-Syndrom so beiläufig und fast schon empörend harmlos daher wie in dem neuen Roman des Österreichers René Freund. 

Seine Hauptfigur, der Dichter Fred Firneis, steckt in einer Schaffenskrise. Er bunkert sich in seiner Berliner Wohnung ein, in der Spüle wachsen Pilze, im Wohnzimmer stapeln sich Pizzakartons, deren Inhalt er wahlweise mit Jack Daniels, Smirnoff oder Bordeaux hinunterspült. Es lebe das Burn-out-Klischee! Doch René Freund hält sich nicht lange mit Depression und Verzweiflung auf. Er lässt seinen Dichter kollabieren, und weil die Ärztin ihm ohnehin Stille rät und seine Verlegerin Susanne – oh Zufall! – eine kleine Hütte in den österreichischen Bergen geerbt hat, folgt er dem Rat. Die schwer verschuldete Verlegerin träumt derweil schon vom Nachschub in Versmaßen, der sich wie der letzte Lyrikband wieder 150.000-mal verkaufen lässt.

Des Dichters Burn-out wird später nur mehr an einer Stelle erwähnt (auf den Klappentext hat es der Begriff als werbewirksames Reizwort natürlich dennoch geschafft.) Dann nämlich, als der gar nicht mehr so erschöpfte Dichter dem Förster August erklärt, warum es ihn in die Berge verschlagen hat: „Ich hatte ein Burn-out.“ „Ein was?“ „Burn-out. Ausgebrannt.“ „Ach so, das“, sagt August. „Haben jetzt alle“, erwidert der Dichter. Damit ist alles gesagt.

Putzfimmel in der Berghütte

An einer wirklich schweren Erschöpfungsdepression kann der Dichter Fred gar nicht gelitten haben, so schnell wie der in der Bergluft wieder zu Kräften kommt. Zuerst überkommt ihn in der verstaubten Hütte seiner Verlegerin ein unerklärlicher Putzfimmel, der nicht nur das alte Holzhaus, sondern auch seine Seele im Nu wieder zum Glänzen bringt. Von Speck, Bauernbrot und den „Elbtaler Gewürzkräutern“, die er mit August raucht, erquickt, beginnt er seiner Verlegerin Briefe zu schreiben. Sein Handy hat er nämlich längst im nahen Elbsee versenkt.

Auf Glattauers Spuren

Der zweite Hinweis auf dem Klappentext, auf Daniel Glattauers E-Mail-Liebesroman „Gut gegen Nordwind“, verrät, was sich der Verlag von diesem Buch wünscht: einen ähnlichen Erfolg. Zufall oder nicht, dass Autor René Freund darin die Verlagswelt aufs Korn nimmt. Um ihren Dichter wieder zum Schreiben zu bewegen, nimmt die Verlegerin Susanne alles in Kauf.

In dem Bergidyll taucht plötzlich die geheimnisvolle Mara auf. Mit seltsamem Akzent (slowakisch?) und Doppel-s-Fehler stellt sie sich als „Gewäzzerwizzenschaftlerin“ vor, die das Fortpflanzungsverhalten der Elbsee-Fische Phoxinus phoxinus erforscht. Da wird über das Sexleben dieser Elbtaler Minipiranhas philosophiert – und schwupp, ist die Kreativität des Dichters zurück.

„Liebe unter Fischen“, das verrät der kurz angerissene Plot, ist eine simpel gestrickte, aber liebenswürdige Liebeskomödie. Dazu kommen ein Hauch sanfte Gegenwartskritik (die Smartphones, die mit ihren Menschen durch die Straßen laufen!), etwas Landlustidealisierung und eine Handvoll angedeuteter Identitätskrisen. Statt E-Mails werden hier altmodisch Briefe geschrieben, was nur deshalb nicht romantisch ist, weil sie an die Verlegerin, nicht die Herzensdamen adressiert sind. Aber erraten: Die Liebe setzt sich am Ende auch ohne elektronische Herzschmerzkorrespondenz durch. Der Titel im Frühjahrsprogramm wohl auch.

Neu erschienen

René Freund

„Liebe unter Fischen“, Deuticke, 206 Seiten, 18,40 Euro

 („Die Presse am Sonntag“, Print-Ausgabe, 10.02.2013)

Renaissance des Teilens: Nutzen als neues Besitzen

Das durch Wirtschaftskrise und Digitaltechnologien wieder populäre Sharing von Waren hat nichts mit der christlichen Tugend des Teilens zu tun. Es ist bloß die bequeme Alternative zum Privateigentum.

Von Anna-Maria Wallner und Köksal Baltaci

Es ist eine der ersten Tugenden, die Kindern im Kindergartenalter beigebracht wird: das Teilen. Wer ein guter Mensch ist, teilt seine Jause, die Schokotorte zum Geburtstag und die Lego-Sammlung mit Geschwistern oder Freunden. Sagen der Papa und die Kindergartentante. Doch Kinder wollen nicht immer gut sein, es braucht daher viel Überzeugungsarbeit und Geduld, bis das Hergeben selbstverständlich wird.

Doch aus Kindern werden irgendwann Erwachsene und das Teilen, auf Englisch „Sharing“ genannt, macht für viele von ihnen plötzlich richtig Sinn oder sogar Spaß. Allerdings: Mit der christlichen Tugend des Teilens ohne Gegenleistung, die Kindern gern mit der Legende vom heiligen Martin, der seinen Mantel mit dem Bettler teilt, beigebracht wird, hat das nicht mehr viel zu tun. Aus dem Grundsatz „Ich teile etwas mit dir“ wird „Wir teilen uns etwas, was uns nicht gehört.“ Es geht nicht mehr um das brüderliche Teilen, sondern um den gemeinschaftlichen Konsum einer Sache.

Schuld an der neuen Lust am Teilen sind vielleicht die Fahrräder. Vor gut zehn Jahren waren sie plötzlich in fast allen Großstädten zu finden: mehr oder weniger klapprige Zweiräder, die man gegen eine geringe Gebühr für kurze Strecken ausborgen konnte. Dann kamen die Autos dazu – und nun wird geteilt, was geht: die eigene Herberge (via Couchsurfing), das Büro (Co-Working-Spaces), die Musik (Streaming-Dienste wie Spotify) oder das selbst gekochte Essen (Guerilla Bakery, Private Dining). Freilich (fast) immer gegen Bezahlung. (So fließt etwa beim Couchsurfing kein Geld zwischen Gastgeber und Gast, dennoch entsteht ein Vertragsverhältnis, das auf gegenseitigem Vertrauen beruht.) Das „Time Magazine“ bezeichnet die sogenannte „Collaborative Consumption“ als eine von zehn Ideen, die die Welt verändern werden – als effektive Maßnahme, um Ressourcen und Umwelt zu schonen.

Rentrepreneur statt Entrepreneur

Wie so oft sind es die Amerikaner, die dem Rest der Welt bei der „Sharing Economy“ um eine Nasenlänge voraus sind. Viele Teil-Modelle haben ihren Ursprung in den USA. So bietet etwa das in San Francisco angesiedelte Unternehmen Airbnb auf seiner Webseite Privatunterkünfte zum Mieten und Vermieten an. Unternehmen wie Zipcar haben sogar im mehr als auto-freundlichen Staat Amerika die Liebe zum Carsharing entflammt.

Begeistert von der beginnenden „New Economy of Reuse“ stürzte sich der Autor Rob Baedeker 2011 in einen Selbstversuch. In einem Essay im Magazin „Newsweek“ schilderte der selbsternannte „Rentrepreneur“ sein Experiment: Er vermietete seinen Wohnwagen um 45 US-Dollar die Nacht, seine Gitarre um 25 Dollar für ein halbes Monat und sogar seine Hündin Clementine um drei Dollar pro Stunde. In zwei Wochen erwirtschaftete er auf diese Weise 654 Dollar. Was zeigt, worum es bei der „Collaborative Consumption“ vor allem geht: ums Geldverdienen.

Das wird gern übersehen, wenn es um die Ursprünge der jüngeren Kultur des „Re-using“ geht. Manche Experten glauben, dass die 2011 entstandene Occupy-Bewegung in den Vereinigten Staaten dem Teilen zur neuen Blüte verhalf. Eine Gruppe von Kapitalismus- und Establishment-kritischen Menschen knüpfe hier an die Ideen von Kommunarden und Hippies der späten Sechzigerjahre an.

Tatsächlich ist die Idee der gemeinschaftlichen Nutzung einer Sache alles andere als neu. Wohngemeinschaften, Bibliotheken, Mehrwegflaschen, landwirtschaftliche Genossenschaften – alle diese Modelle beruhen auf der Vorstellung, Ressourcen gemeinsam zu nutzen, um Kosten zu sparen und die Umwelt zu schützen. Eine breite Kultur von „Nutzen statt Besitzen“ (Motto der Ökologiebewegung in den 1970er-Jahren) wurde aber durch die Umständlichkeit des Leihens und Tauschens erschwert. Deshalb setzten sich lange Zeit nur solche Modelle durch, die an örtlich fixe Einrichtungen gebunden waren: Videotheken, Skiverleih und Waschsalons. Durch das Internet und soziale Netzwerke als Vermittlungsinstanz sowie die Smartphones, die unsere Mobilität erhöhen, haben sich die Rahmenbedingungen nun vereinfacht. 
Benutzen statt Besitzen. Dabei hat die heutige Idee des gemeinsamen Nutzens einer Sache nicht mehr viel mit den Modellen der Ökologiebewegung oder des Marxismus (alle besitzen etwas zu gleichen Teilen) zu tun. Vielmehr bilden die Sharing-Plattformen ein neues Geschäftsmodell, das genauso nach den Regeln des Kapitalismus funktioniert. Der Unterschied: Der Kunde zahlt nicht mehr für das Besitzen einer Sache, sondern für das Benützen. Bei Musik, Filmen oder E-Books bekommt der Kunde nicht einmal mehr das Nutzungsrecht an einer physischen Sache, sondern nur das Zugriffsrecht auf eine Zahlenkombination. Für den Philosophen Konrad Paul Liessmann ist es amüsant, „dass diese neuen Modelle des entwickelten Kapitalismus ideologisch betrachtet aus dem Arsenal der Kapitalismuskritik stammen“. Das heißt, einstige marxistische oder sozialistische Denkmodelle wurden vom Kapitalismus übernommen und für eine kommerzielle Nutzung adaptiert.

Nicht nur erfindungsreiche Start-up-Unternehmen, die sinnvolle bis skurrile Ideen für den gestressten Großstädter erdenken, verhelfen den Sharing-Modellen zu so viel Erfolg. Auch die Wirtschaftskrise und die zunehmende Mobiliät der Menschen tragen dazu bei. Was nützt mir ein Auto in der einen Stadt, wenn ich die Hälfte des Jahres in einer anderen lebe? Wozu soll ich eine Plattensammlung im Wohnzimmer anlegen, wenn ich meine Musik vor allem unterwegs, auf Reisen oder auf dem Laufband im Fitnesscenter hören will?

Daher warnt Konrad Paul Liessmann davor, Menschen, die Gegenstände lieber nutzen und nicht besitzen wollen, automatisch als „bessere Menschen“ zu bezeichnen.

Verwöhnt und gelangweilt. Was die teilwilligen Großstädter eher sind: verwöhnt. Die Generation der Zwanzig- bis Vierzigjährigen ist in materiellem Überfluss aufgewachsen. An Spielzeug, tollen Urlauben und Sportgeräten hat es nie gefehlt. Statussymbole ihrer Elterngeneration – der teure Mercedes S-Klasse, die edle Platten- oder Whiskeysammlung – sind nicht mehr erstrebenswert, weil die ohnehin immer greifbar waren. „Statussymbole verschieben sich auch aufgrund beschleunigter Zyklen der digitalen Gesellschaft“, sagt Zukunftsforscher Andreas Reiter. „Junge Leute wollen zwar das neueste iPhone, aber kein Auto besitzen. Auch, weil sie wissen, dass ein Auto im Durchschnitt nur eine halbe Stunde am Tag genutzt wird.“

Der Konsum wird also nicht verweigert, er verändert sich nur. Bekannte Spielarten des Kapitalismus sind langweilig, neue Nutzungsformen versprechen Abwechslung und Spaß. Der neue Status ist der Zugang, nicht das Eigentum.

Ein weiteres Motiv für die Freude am Teilen: Die Generation der Digital Natives kennt das Teilen aus dem Internet. Wer YouTube-Videos und die Fotos vom letzten Urlaub mit anderen teilt, der teilt klarerweise auch Platten und Filme oder sein eigenes Sofa. 1000 Likes auf Facebook sind da plötzlich erstrebenswerter als das Moped, mit dem man vor der Schule vorfährt.

Besser mehr als wenig

„Wenn ich Urlaub in London mache, kann ich wie ein gewöhnlicher Tourist in ein Hotel einchecken, oder ich übernachte bei einem Einheimischen, der mir lokale Informationen zugänglich und mich sozusagen zum Insider macht“, sagt Andreas Reiter. Eine Motivation, die elitär und egalitär zugleich sei: elitär, weil der Zugang ein gewisses Wissen voraussetzt. Egalitär, weil durch die moderne Technologie Transparenz garantiert werden. Im besten Fall führt die Reise zu einem Erlebnis, das man wieder mit den Freunden auf Facebook teilen kann. Die Qualität von Waren oder Leistung – sei es der Klang der Musik, die Sauberkeit des Sofas beim Citytrip in Helsinki – tritt dabei in den Hintergrund. Besser billiger reisen, aber mit Erfahrungen, die mir keiner wegnimmt. Besser das neueste Modell des Snowboards fahren als das eigene, das schon bald wieder veraltet ist. Müsste man ein Mantra der Generation Sharing formulieren, es könnte lauten: Lieber mehr als wenig und am besten sofort!

Sorglos nutzen

Wer in Wohlstand aufwächst, wird auch bequem. Das wissen die Erfinder von Sharing-Plattformen. Der vielleicht wichtigste Vorteil einer Sache, die ich nur nutze, nicht besitze: Ich muss mich nicht darum kümmern. Reifen wechseln, Vignette kaufen, Versicherung zahlen, Garage mieten, Garten gießen oder Platten abstauben – all das macht jemand anders. Die Carsharing-Plattform Car2go belohnt ihre Kunden sogar, wenn sie bereit sind, ein bisschen etwas von ihrer Bequemlichkeit abzugeben: Wer das ausgeborgte Auto wieder volltankt, bekommt 15 Fahrminuten geschenkt. Noch ein Vorteil: Was ich nicht besitze, kann mir keiner wegnehmen.

Philosophen haben bestimmt eine Freude mit dieser neuen Spielart des Konsums. Fragen nach dem Haben und dem Sein waren immer schon große Themen der Philosophie. Arthur Schopenhauer etwa schrieb in seinen „Aphorismen zur Lebensweisheit“, dass unser Lebensglück nur durch das entsteht, was wir sind, nicht durch das, was wir haben. Jüngst erschienen einige Bücher zum Thema: „Wir sind, was wir haben“ (Annette Schäfer, DVA), „Über das Haben“ (Harald Weinreich, C.H. Beck).

Noch kein Massenphänomen

Ein Wertewandel hat zwar im Kleinen begonnen, doch noch ist klar: Österreich hat in der Ökonomie des Teilens noch großen Aufholbedarf gegenüber Städten wie Berlin und London. Vor allem beim Crowdsourcing und Crowdfunding, meint Zukunftsforscher Andreas Reiter. Beim Crowdsourcing wird die Intelligenz der Masse genutzt. Große Firmen gründen Innovationsplattformen, auf denen die Bevölkerung (gegen Prämien) Ideen einbringen kann. Beim Crowdfunding können Projekte oder Start-ups Sponsoren suchen.

Freilich werden selbst in Berlin und London all diese Dienste derzeit nicht von der Masse, sondern von einer kleinen, gut gebildeten Konsumelite in Anspruch genommen. Und auch in Österreich nutzen erst 45.000 Menschen Car-sharing. „Von einer allgemeinen Entwicklung können wir nicht sprechen“, sagt Philosoph Liessmann. „Noch nicht“, meint Forscher Reiter. Er ist sich sicher, dass die Freunde des Teilens rasch immer mehr werden.

(„Die Presse am Sonntag“, Print-Ausgabe, Ressort Leben, 10.02.2013)

Leitartikel: Wie oft lässt sich der Leser narren? Der Boulevard testet es

In österreichischen Medien häufen sich journalistische Fehler und bewusste Täuschungen der Leser. Die Falschmeldungen werden nicht einmal richtiggestellt.

„Ich saß allein im Kompressorenraum, als […] der große 400-pferdekräftige Kompressor, der den Elektromotor für die Dampfüberhitzer speist, eine auffällige Varietät der Spannung aufzuweisen begann. […] Völlig unerklärlich ist jedoch die Erscheinung, daß mein im Laboratorium schlafender Grubenhund schon eine halbe Stunde vor Beginn des Bebens auffallende Zeichen größter Unruhe gab.“

Es war die „Neue Freie Presse“, die vor rund 100 Jahren immer wieder Opfer ihrer Leser wurde. In herausragend formulierten Leserbriefen erzählten diverse Herrschaften von haarsträubenden Erlebnissen, die einen entscheidenden Haken hatten: Sie waren erfunden. Die sensationsgierige Zeitung aber druckte die Briefe ab, weil die zuständigen Redakteure den Unsinn nicht entdeckt hatten. Der eingangs erwähnte Text stammt aus einem solchen Leserbrief, und zwar nicht, wie viele vielleicht meinen, von Karl Kraus, einem leidenschaftlichen Feind der und Leserbriefschreiber an die „NFP“, sondern vom Ingenieur Arthur Schütz. Seine Schilderung eines Erdbebens im November 1911 begründete den Begriff „Grubenhund“ als Synonym für gefälschte Neuigkeiten.
Es mag ein Zufall sein, dass exakt 100 Jahre später wieder die Grubenhunde los sind. Heutzutage nennt man solche Täuschungen „Hoax“, die Sache bleibt dieselbe: Redaktionen werden mit offenkundig falschen Fakten vorgeführt. Zuerst war es eine an Schulen verteilte Ausgabe von Kafkas „Das Schloss“, die vor Fehlern strotzte. Nun ist es eine Sexschule, die dieser Tage in Wien hätte eröffnet werden sollen, sich aber als völlig frei erfunden herausstellte. „Österreich“ und „Heute“ schrieben erregt über die „Austrian School of Sex“ (die „Krone“ nicht, der war das Thema im Advent offenbar zu heikel), der „Kurier“ äußerte zwar Zweifel, befasste sich aber doch auf einer ganzen Seite damit. Auch wenn die Aktionsgruppe The BirdBase, die hinter diesen Streichen steckt, die Medien nur als Vehikel für ihre Forderungen an die Politik (etwa ein funktionierendes Pensionssystem) benutzen will, legt sie den Finger in eine klaffende Wunde: den schlampigen und unvorsichtigen Umgang der Medien mit Informationen.

Wenn es nur Schlampigkeiten wären! Zuletzt häuften sich Täuschungen, ja Lügen in den Blättern. Sei es, dass die Reporterin aus der Tierecke der „Krone“ mit falschen Fotos und Fakten von Hundetötungen Stimmung gegen die Ukraine als Austragungsort der Fußball-EM macht (und sogar die Politik auf den Plan gerufen hat). Sei es, dass gekaufte Texte nicht als Werbung gekennzeichnet werden. Oder dass Ereignisse vorweggenommen werden, die erst nach Redaktionsschluss stattfinden. So schrieb die „Krone“ Ende November in ihrer ersten Ausgabe, die gegen 15 Uhr gedruckt wird, eine ganzseitige Kritik über George Michaels Wien-Konzert. Ein Pech, dass das Konzert kurz nach Druck wegen Krankheit des Sängers abgesagt wurde.
Fehler wie dieser passieren auch, weil die Branche immer stärker unter Druck ist. Der Markt wird härter, die Konkurrenz größer. Gerade der Boulevard unterliegt dem Irrglauben, der Leser sei ein ungeduldiges Wesen, das schon bei der geringsten redaktionellen Verspätung in seinem Blatt das Abo kündigt oder zumindest die Gratisentnahmebox wechselt. Dabei wird es der Leser auch in Zeiten der minutenaktuellen Informationswiedergabe im Internet verkraften, wenn er die ausführliche Konzertkritik oder die politische Analyse über den Ausgang des EU-Gipfels einen Tag später liest. Dasselbe gilt für Falschmeldungen, die eine Redaktion erreichen: Wenn keine Zeit für die Überprüfung der Fakten, die Nachfrage bei Dritten, den Check, Recheck, Double-Check bleibt – dann sollte die Geschichte besser warten. Und es sollte schon gar keine erfundene Geschichte in die frei gewordenen Spalten gepresst werden, auch wenn das schlechte Tradition hat, wie Kästner in seinem Roman „Fabian“ zeigt.

Natürlich passieren Fehler, auch in der „Presse“. Nur sollte es selbstverständlich sein, diese auch öffentlich zu machen. In manchen Redaktionen von heute hält man sich lieber an die Usancen der „Neuen Freien Presse“: Die Fehler werden einfach totgeschwiegen.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 14.12.2011)

„Kuckucksmädchen“: Die Nester der anderen

Rezension. Lohmann macht es ihrer entscheidungsschwachen Protagonistin zu leicht, ihr Männerproblem zu lösen.

Einer der ersten war Florian Illies. Als der deutsche Journalist im Jahr 2000 in seinem Buch „Generation Golf“ Beobachtungen über die in den 1970er-Jahren geborenen, in materieller Sorglosigkeit, zwischen Nutella und „Wetten, dass…“ aufgewachsenen Gleichaltrigen machte, wurde er nicht nur zum Bestsellerautor – er hatte dem deutschen Buchmarkt nebenbei zu einem neuen Verkaufstrend verholfen: dem Generationenbuch oder -roman. 

Seither werden Jahr für Jahr hunderte Bücher auf den Markt gespült, die zwanghaft eine bestimmte Gruppe von Menschen unter einem besonderen Schlagwort zusammenfassen wollen. Die heißen dann „Generation Doof“, „Generation Man müsste mal“ und „Generation Laminat“ oder werden, wie von Journalistin Nina Pauer, gleich in eine „Gruppentherapie“ geschickt. Ganz weit oben auf der Liste dieser Sachbücher standen zuletzt Werke über den distanzlosen Umgang mit sozialen Medien und Smartphones, die nach Meinung diverser Autoren eine rastlose, Burn-out-anfällige Jugend heranwachsen lässt.

Die „Generation Option“ hat die 31-jährige Autorin Eva Lohmann für ihren neuen Roman genauer unter die Lupe genommen. Das zumindest verspricht der Klappentext. Tatsächlich geht es in „Kuckucksmädchen“ um die ganz konkrete Geschichte von Wanda. Die 30-Jährige löst im Brotberuf die Haushalte fremder Menschen auf und ist seit drei Jahren mit ihrem Freund Jonathan zusammen. Als der ihr eines Abends über ein Thai-Curry-Huhn gebeugt einen Heiratsantrag macht und nach dem Tod ihrer Großeltern plötzlich eine große Wohnung für die Familiengründung vorhanden wäre, gerät Wanda in Panik. Sie weiß doch nicht, ob Jonathan der Mann ist, mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen will.

Das Herz, das spricht

Die reichlich banale Geschichte bekommt zusätzlich eine surreale, aber vor allem lästige Komponente durch Wandas geschwätzige innere Stimme. Es ist ihr vorlautes, bockiges Herz, das in den unpassendsten Momenten mit Wanda zu sprechen beginnt – und es bringt sie auf die Idee, ihre früheren Partner aufzusuchen. Sie besucht also Philipp und seine schwangere Freundin Larissa; danach Max, seine Frau Anouk und die Zwillinge in ihrer plüschig-bunten Heile-Welt-Wohnung und verbringt ein Wochenende mit Ilya. Noch bevor sie Kurzzeitschwarm Clemens persönlich antrifft, begegnet ihr dessen Freundin Mila, die sich als kollegiale Gesprächspartnerin mit therapeutischen Fähigkeiten entpuppt. Mila ist es auch, die Wanda nach ihrer rastlosen Beobachtermission zu den gemachten Nestern ihrer früheren Liebhaber mit sehr einfachen Ratschlägen weiterhilft. Es sei letztlich ganz egal, mit welchem Mann sie ein eigenes Nest baut und Kinder bekommt. „Am Ende sterben wir alle. Wir müssen einfach nur die Angst ablegen, es falsch zu machen. Die Angst vor falschen Entscheidungen.“ Auch wenn das Happy End in diesem nicht sehr tief gehenden Buch immer absehbar war, hinterlässt einen das uninspirierte Ende enttäuscht: Weil schon Protagonistin Wanda schon diese wenigen Sätze reichen, um zu erkennen, dass sie es mit ihrem Jonathan versuchen will.

Dieses Buch ist kein Generationenbuch und das Beste daran ist noch: Es versucht nicht einmal, eines zu sein. Denn Unentschlossenheit ist kein Symptom einer bestimmten Altersgruppe, es ist ein Wesenszug, den manche Menschen mehr und andere weniger oder überhaupt nicht haben. So einfach wie in diesem Plot lässt sie sich im realen Leben nicht immer vertreiben.

(„Die Presse am Sonntag“, Print-Ausgabe, 25.11.2012)

„Wir stecken in der digitalen Pubertät“

Der deutsche Professor Bernhard Pörksen im „Presse“-Interview über die Dynamik des digitalen Skandals, neue Akteure in der medialen Erregungsarena und die Ängstlichkeit der Politik im Angesicht des Shitstorms.

Die Presse: „Der entfesselte Skandal“ ist Ihr zweites Buch über den „Skandal“. Was fasziniert Sie so an diesem Begriff?
Bernhard Pörksen: Der Skandal ist eine Extremform der Kommunikation, die Normalität offenbart. Man erkennt, welche Normen in einer Gesellschaft gelten. Im Skandalschrei zeigen Einzelne oder ganze Gruppen ihr Verständnis von Normalität, indem sie sagen: „Nein, das darf nicht sein.“

Nun konzentrieren Sie sich auf den Skandal im Netz. Wieso so spät?
Anlass war der Sturz des deutschen Bundespräsidenten Horst Köhler. Er gab auf dem Rückflug von Afghanistan ein Interview, das erst wenig Beachtung fand. Doch dann entdeckten Blogger darin einen Skandal, angeblich eine grundgesetzwidrige Rechtfertigung von Wirtschaftskriegen. Sie haben seine Sätze weiter gemailt, getwittert, und dann war er da, der Skandal – und Köhler ist zurückgetreten. Diese Geschichte zeigt: Wir brauchen im Zeitalter der digitalen Überallmedien ein neues Verständnis des Skandals. Er ist nicht mehr räumlich und zeitlich begrenzt: Informationen im Netz bleiben auf Dauer erhalten und sind von jedem Ort der Welt aus reaktivierbar. Und es gibt ganz neue Akteure in der Erregungsarena: Bloggerschwärme, die sich über die Doktorarbeit eines Ministers erregen, aber auch der aggressive Mob. Früher konnten nur Medien einen Skandal entfachen, heute kann das jeder. Und nicht mehr nur Mächtige oder Prominente werden zum Objekt von Skandalisierung.

Wo liegt der Ursprung des Skandals?
Bereits in einer mündlich organisierten Kultur gab es lokale Skandale. Sie wurden weitererzählt, es wurde jemand ausgegrenzt. Der Bruch kam mit den Massenmedien: Mit ihnen konnte der Skandal plötzlich ganz andere Aufmerksamkeit bekommen. Die neueste Form ist der digitale Skandal.

Worin unterscheiden sich alter und neuer Skandal?
Im massenmedialen System beginnt der Skandal in einer Redaktion, die entscheidet, etwas zu publizieren; am Ende steht das passive Publikum. Im digitalen Skandal können sich die Richtungen und Rollen völlig neu darstellen. Es kann sein, dass Blogger oder Twitterer tun, was früher die klassischen Medien taten, nämlich ein Empörungsangebot anbieten. Wird dieses von vielen Menschen akzeptiert, bildet sich eine Empörungsgemeinschaft, und auch die klassischen Medien greifen den Skandalisierungsvorschlag auf.

Brauchen Online- und klassische Medien einander?
Ja. Effektive Empörung ist darauf angewiesen, dass Massenmedien das Empörungsangebot mit der nötigen Autorität versehen, es ausrecherchieren, analysieren.

„FAZ“-Herausgeber Frank Schirrmacher glaubt, klassische Medien hätten „kein Gespür mehr dafür, ob etwas relevant ist“. Hat er Recht?
Ja. Wir sind in einer Phase der Dauerskandalisierung. Derzeit wird das Netz vorschnell zum Problem erklärt, faktisch sind aber alle Medien das Problem. Es gibt einen Wettbewerb zwischen den klassischen Medien und den Netzmedien: Wer kann lauter, schneller, massiver einen Empörungsvorschlag durchsetzen? Das führt dazu, dass das Gespür des Journalisten für Relevanz oft zugunsten des schnellen Skandals vernachlässigt wird.

Im Netz werden oft Lappalien skandalisiert, echte Missstände gehen unter.
Es werden schon auch bedeutsame Geschichten vor einem Weltpublikum ausgebreitet. Etwa die Folterfotos von Abu Ghraib oder die Plagiatsenthüllungen, bei denen Politiker ins Straucheln geraten sind. Aber es gibt parallel dazu die Neigung zur Skandalisierung von Banalitäten. Derzeit wird in Deutschland ein Entwicklungsminister zum Rücktritt aufgefordert, weil er einen Teppich aus Afghanistan eingeführt hat, ohne ihn zu verzollen. Solche Fälle zeigen, dass das Gespür für Relevanz beeinträchtigt wurde. Früher war die Öffentlichkeit eine Sphäre der Information; heute ist sie auch ein Ort für Erregungsexperimente, Motto: Regt sich jemand mit mir auf, dann hat das Experiment funktioniert; wenn nicht, dann ziehen wir unseren Empörungsvorschlag zurück und bringen die nächste Geschichte.

Sind Shitstorm und digitaler Skandal dasselbe?
Der Shitstorm ist ein netzinterner Empörungsorkan, der sich zu einer Skandalisierung auch offline steigern kann. Er ist die aggressive Vorstufe einer Skandalisierung.

Sie schreiben, ein digitaler Skandal dauert bis zu acht Wochen.
Eine Empörung, die über sieben Wochen hinausgeht, ist ungewöhnlich. Danach wendet sich das Publikum ab. Doch häufig machen die Skandalisierten selbst Fehler. Wenn der Umgang mit dem Skandal zum eigentlichen Skandal wird, nennen wir dies eine Grenzüberschreitung zweiter Ordnung. Klassische Beispiele sind Ex-Minister Guttenberg und Ex-Präsident Wulff.

Wie entkommt man einem Shitstorm?
Man gesteht den Fehler ein und bittet mit einer ernsten Geste um Entschuldigung.

Und wenn man sich unschuldig fühlt?
Das wird oft als arrogant wahrgenommen, und das kann die Empörung erneut anheizen. Die Demutsgeste ist ein wirksames Mittel zur Ad-hoc-Entschärfung. Überdies kann man darauf hoffen, dass nach ein paar Tagen alles vorbei ist. Meine Empfehlung: Jeder braucht heute eine eigene Medienstrategie – und muss sich überlegen, was er von sich im Netz preisgibt.

Sie meinen, dass nur wenige diese Medienkompetenz haben…
Ich glaube, wir sind in der Phase der digitalen Pubertät. Wir können uns die mögliche Zukunft unserer Handynachrichten, Facebook-Postings und Tweets nicht vorstellen. Das wird wohl auf Dauer ein Problem bleiben. Wir können unser Bewusstsein schulen, aber die mögliche Zukunft unserer Daten kann niemand vorhersagen. Deshalb haben wir den etwas resignativen Imperativ formuliert: „Handle stets so, dass dir die öffentlichen Effekte deines Handelns langfristig vertretbar erscheinen. Aber rechne damit, dass dies nichts nutzt.“

Wäre es eine Lösung, gar nicht im Netz zu agieren oder mit Fantasienamen?
Wie soll das funktionieren? Jeder trägt heute Allzweckwaffen der Skandalisierung am Körper, man nennt sie nur anders: Fotohandys zum Beispiel, Smartphones.

Die Piraten fordern völlige Transparenz im Netz. Können sie besser mit diesen Gefahren umgehen?
Nein. Sie verkörpern zwar das Idealbild des transparenten Politikers, twittern permanent, sind fortwährend auf Sendung. Sie verstehen zwar das Netz, aber nicht die Sensationsgelüste der Mediengesellschaft. Einzelne twittern ihr Stammtischgegröle über die Frauenquote und nennen sie „Tittenbonus“ oder vergleichen das Wachstum der eigenen Partei mit dem Aufstieg der NSDAP.

„Zeit“-Chef Giovanni di Lorenzo sieht Journalisten heranwachsen, die aus Angst vor dem Shitstorm im Netz meinungsscheu sind. Sehen Sie das auch?
Nein. Nicht im Journalismus. Aber in der Politik. Dort sehe ich eine neue Ängstlichkeit im Angesicht des Shitstorms.

In Ihrem Resümee schreiben Sie, Sie wollen die beschrieben Entwicklungen nicht bewerten. Warum nicht?
Es gibt im Moment eine völlig absurde Frontenbildung zwischen Technikeuphorie und –pessimismus. Auf der einen Seite heißt es: „Das Netz ist gut!“ Auf der anderen Seite: „Das Netz ist böse!. Dabei geht es eigentlich darum, dass wir mündiger werden im Umgang mit diesen neuen Technologien. Zudem versuchen wir (Pörksen hat das Buch gemeinsam mit der wissenschaftlichen Mitarbeiterin Hanne Dettel verfasst) empirisch zu zeigen, dass dieser entfesselte Skandal zwei Gesichter hat: Mal ist er nur grausames Spektakel, dann wieder dringend benötigte Aufklärung. Meine Hoffnung ist, dass sich ein stärkeres Gespür für Relevanz, Brisanz und Glaubwürdigkeit von Information ergeben könnte.

Buch und Autor

Bernhard Pörksen (Jhrg. 1969) ist Professor für Medienwissenschaft an der Uni Tübingen. Mit Hanne Detel, wissenschaftl. Mitarbeiterin, hat er soeben das Buch „Der entfesselte Skandal“ (Herbert von Halem Verlag, 250 Seiten) veröffentlicht.
 

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 22.06.2012)

Leitartikel: Der kopflose Umgang mit dem ORF muss jetzt ein Ende haben

ORF Küniglberg. Foto: Clemens Fabry

Gerhard Zeilers Worte zur heimischen ORF-Politik werden der SPÖ noch lange wehtun. Sie lenkt lieber vom Thema ab. Und die ÖVP sucht den Gegen-Wrabetz.

ORF Küniglberg. Foto: Clemens Fabry
ORF Küniglberg. Foto: Clemens Fabry

Gerhard Zeiler wird nicht der nächste Generaldirektor des ORF sein. Aber er hat das fast Unmögliche möglich gemacht: Für die kurze Zeit eines Wochenendes waren der ORF und die Bestellung eines neuen Generaldirektors sogar wieder für jene interessant, denen dieses Thema sonst bestenfalls ein Gähnen abringt. Wenn sich einer der erfolgreichsten TV-Manager Europas für den Posten des ORF-Chefs interessiert und die verantwortlichen Politiker demonstrativ einen anderen, nämlich den bisherigen Erfüllungsgehilfen nehmen, den sie vor einiger Zeit noch loswerden wollten, dann begreift sogar der oberflächliche Beobachter aus der Ferne, dass die Politik in Sachen ORF seltsam kopflos agiert.

Gerhard Zeiler, gebürtiger Österreicher, bekennender Sozialdemokrat und mächtiger Chef des deutschen Privatfernsehtankers RTL, hat im aktuellen „Profil“ der österreichischen Politik und im Speziellen der SPÖ, den Kopf gewaschen. Er werde den Job des ORF-Generaldirektors nicht machen, obwohl ihn dieser durchaus gereizt hätte. Er habe erkannt, dass die Politik nicht den Besten für diesen Job suche, sondern einen, der „willfährig parteipolitische Personalwünsche umsetzt“. Die Ohrfeige war auch gegen den amtierenden Generaldirektor Alexander Wrabetz gerichtet.

Zeilers überraschend laute und unösterreichisch direkte Absage wirkt auf Beobachter wie eine Wohltat. Endlich sagt einer, was sich viele seit Jahren denken. Und wie reagiert die Politik? Die Verantwortlichen in der SPÖ beruhigen sich und ihre ohnehin nicht übermäßig in Aufregung geratenen Gemüter so: Sie reden sich ein, dass Zeilers harte Worte nur seiner Frustration zuzurechnen sind. Es sei doch verständlich, dass einer, der nicht bekommt, was er will, so reagiert, sagen viele hinter vorgehaltener Hand. Wie unangenehm der SPÖ Zeilers Standpauke aber tatsächlich ist, zeigt die Reaktion von Werner Faymann: Dass der Kanzler dem „Krone“-Innenpolitiker Peter Gnam Pläne einer Volksbefragung zur Wehrpflicht ins Montagsblatt diktiert hat, sieht aus wie ein Ablenkungsmanöver.

Aber Faymann verkennt vielleicht, dass ihm und seiner Partei die „Bußpredigt“ Zeilers (© Publikums- und Stiftungsrat Franz Küberl) noch lange und immer wieder sauer aufstoßen wird.

Zeiler hat gezeigt, dass er konfliktfreudig und wohl auch ein bisschen schadenfroh ist. Denn er hat genüsslich Aussagen gestreut, die nun hinter ihm wie Zündhölzer im Stroh eine Debatte entfachen, die noch sehr lange Brandwirkung haben wird. Vor allem aber hat er, obwohl selbst Sozialdemokrat, der SPÖ geschadet. Die politischen Gegner werden seine Sätze künftig bei jeder Gelegenheit aus dem Archiv kramen.
Apropos Gegner: Die ÖVP wusste nach der Lektüre des Zeiler-Interviews zunächst nicht, ob sie sich freuen oder eher grämen soll. Freuen über dessen wahre Worte zur österreichischen ORF-Politik (die vor einigen Jahren genauso auf sie selbst zugetroffen hätten)? Grämen, dass just jener Kandidat, der zwar nicht ihr ureigener war, aber doch ihr Favorit wurde, frühzeitig abgesprungen ist? Es ist wohl von beidem etwas dabei – und beflügelt durch Zeilers Kritik entwickelt die Partei nun einen trotzigen Tatendrang. Es sieht so aus, als wolle sich die Volkspartei nach einem eigenen Kandidaten umsehen, getreu dem Motto „Jetzt erst recht“. Namen werden ohnehin schon seit Wochen genannt. Viel ändern wird das aber nichts an der Tatsache, dass der neue Generaldirektor der alte sein wird.

Eine Standpauke wie die von Zeiler hätte bei den Verantwortlichen in einem privaten Unternehmen vielleicht einen Denkprozess ausgelöst – oder den Willen zur Änderung struktureller Missstände. Nicht so beim ORF. Auch wenn Fachleute in Europa und vor allem beim deutschen Nachbarn längst über die österreichische Rundfunkpolitik lachen, auch wenn der parteipolitisch gefärbte ORF Österreich bereits den Ruf eines „Klein-Berlusconistan“ eingebracht hat, reagieren die Regierungsparteien wie immer: Die einen (SPÖ) stecken den Kopf in den Sand, die anderen (ÖVP) stecken die Köpfe hektisch zusammen und suchen nach einem Kandidaten. Dabei wäre jetzt die beste Zeit, diesen kopflosen Umgang mit dem ORF zu überdenken. Bericht, Seite 23

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 07.06.2011)

Tom Rachman: Ein Nachruf auf die Zeitung

In seinem Debütroman porträtiert Tom Rachman „Die Unperfekten“ einer englischsprachigen Zeitungsredaktion in Rom, die ihre letzten Atemzüge macht. Ein Journalistenroman, der auch Nichtjournalisten gefallen könnte.

Vielleicht ist es für Zeitungsleser nicht die angenehmste Nachricht. Vielleicht haben sie es aber ohnehin schon immer geahnt: Zeitungen werden von Menschen gemacht, die nicht perfekt sind. Das ist nicht nur in Tom Rachmans Roman so. Das ist einfach so.

Und gerade Rachman muss es wissen. Er war jahrelang Journalist, zuletzt Autor der „International Herold Tribune“, davor Rom-Korrespondent der New Yorker Nachrichtenagentur Associated Press, sein Bruder Gideon Rachman ist Chefauslandskommentator der „Financial Times“. Tom Rachman weiß also, wovon er schreibt. In seinem Debütroman „Die Unperfekten“, der in den USA hymnisch gelobt wurde und soeben auf Deutsch erschienen ist, skizziert er die Protagonisten einer englischsprachigen Zeitungsredaktion in Rom.

Da ist der ideenarme und fast mittellose Paris-Korrespondent Lloyd Burko, der eine Geschichte erfindet, um sich ein paar Euro zu verdienen (Tom Kummer lässt grüßen). Da sind der verkannte Nachrufschreiber Arthur Gopal und die karriereorientierte Chefredakteurin Kathleen Solson und ihr engster Vertrauter, der intelligente Chefkorrektor Herman Cohen. Letzterer verewigt die sprachlichen Fehltritte seiner Kollegen in einem elektronischen Nachschlagewerk, das er selbst „die Bibel“ nennt. Rachman porträtiert die Journalisten mit ihren skurrilen Macken, zeigt die schwer auflösbaren Hierarchien, die in einer Redaktion herrschen, und liefert, als Gegenpol zum Berufsalltag, sehr detaillierte Einblicke in die Privatleben der einzelnen Figuren.


Die Existenz der Zeitung.
Während die erste Hälfte des Buches noch wie ein belangloser, stellenweise bemüht witziger Episodenroman wirkt, entwickelt sich der Plot ab der Mitte zu einem spannenden Drama, in dem es weniger um die Menschen als vielmehr um die Existenz der Zeitung an sich geht. Es liest sich wie ein ehrlich berührter Nachruf auf die Zeitungsbranche.

Rachman erzählt gewissermaßen eine Geschichte in der Geschichte. Vordergründig geht es um den aufreibenden Alltag in einer Printredaktion der Jetztzeit (zwischen 2006 und 2007). Tatsächlich aber erzählt der Autor am Beispiel seiner kleinen römischen Zeitung vom langsamen Scheitern einer in die Krise geratenen Branche. Vermutlich hat er seiner Modellzeitung auch deshalb keinen Namen gegeben. Das Blatt bleibt den ganzen Roman hindurch namenlos. Es steht für so viele kleine und auch größere Zeitungen, die in den vergangenen Jahren vom Tod bedroht waren.

Am Ende jedes Kapitels hüpft Rachman weit zurück. Zuerst in die Gründerjahre der Zeitung rund um 1954, als der reiche Amerikaner Cyrus Ott die „Zeitung“ aus dem Boden stampft, die zu Beginn aus nicht mehr als vier Seiten besteht, aber rasch auf zwölf Seiten und eine Auflage von 15.000 Stück anwächst. Dann in die Sechzigerjahre, in denen der gottgleiche Verleger stirbt. Sein Sohn übernimmt dessen Agenden widerwillig, setzt aber den richtigen Chefredakteur ein. Der führt die Zeitung in den Siebzigerjahren in ihre Hochblüte, beschert ihr Auszeichnungen und einen glänzenden Ruf bis in die großen Redaktionen in Washington und New York. Was auch nicht ewig währt. Der Enkel fährt den Karren im Jahr 2007 an die Wand.

Natürlich bleibt auch genug Platz für die Schilderung des simplen Journalistenalltags von der Redaktionskonferenz bis zum Blattschluss. Da werden „Seiten gebaut“ und Warnungen ausgesprochen, wie viel jede Minute Verspätung beim Redaktionsschluss kostet. Journalisten kennen das. Aber ist „Die Unperfekten“ deswegen nur für Branchenkenner lesenswert?

Die ehrliche Antwort lautet: vermutlich schon. Wobei zur Verteidigung des Autors zu sagen ist: Der Zeitungsleser kommt bei ihm nicht zu kurz. Auch eine treue Leserin porträtiert er. Und die hoffnungsvolle Antwort darf daher wohl lauten: Der wahre Zeitungsleser interessiert sich auch für den Gesundheitszustand der Branche. Und damit auch für dieses Buch.

Tom Rachman
Die Unperfekten

dtv Premium

400 Seiten

15,40 Euro

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 19.09.2010)