„Zuhause ist da, wo meine Bücher sind“

Rachman-Tom-c-Alessandra-RizzoWie sind Sie auf die Idee zu Ihrem zweiten Roman „Der Aufstieg und Fall großer Mächte“ gekommen, einem Roman über die verrückte Welt der 30-jährigen Tooly, die sich allein durch viele Länder schlägt?

Tom Rachman: Zuerst war da dieses Bild von einem kleinen Mädchen, das in einem Raum sitzt mit einem alten und einem jüngeren Mann. Stunden vergehen, niemand kommt, um das Mädchen abzuholen. Irgendwann begreifen die Männer, dass sie sich um dieses Kind kümmern müssen. Diese seltsame Szene warf einige Fragen auf: Wer ist dieses Kind? Wer hat es dort allein gelassen? Was würde mit ihr passieren, wenn sie allein bleibt? Ich habe einige Jahre gebraucht, um zu begreifen, dass ich diese Fragen nur beantworten kann, wenn ich ein Buch schreibe.

Eine gewisse Heimatlosigkeit verbindet die Figuren in Ihrem Buch. Das erinnert an Ihre Lebensgeschichte. Sie sind in London geboren, in Kanada aufgewachsen, haben in New York, Sri Lanka, Indien und Rom gelebt und wohnen jetzt wieder in London.

Ihre spezielle Geschichte ist nicht meine Geschichte, aber viele Fragen, die sie beschäftigen, sind solche, die ich mir auch gestellt habe.  Bis zu meinem siebenten Lebensjahr fühlte ich mich englisch und als Teil einer Gruppe. Danach wusste ich nicht mehr, wer oder was ich war. Als ich mit sieben nach Vancouver zog, lernte ich, dass ich einen anderen Akzent habe und eben kein Kanadier war, aber Engländer war ich auch nicht mehr. Ich habe schon sehr früh nicht gewusst, wohin ich gehöre. Und das wurde durch meine Familie verstärkt, die stets so empfand, weil sie nie sehr sesshaft war. Meine Vorfahren lebten in Australien, China, Südafrika, Argentinien, Brasilien und in der Schweiz. Mein Vater wurde in Afrika geboren, meine Mutter in Wales und ihre Eltern kamen aus unterschiedlichen Ländern. Vor allem in meiner Jugend bis zu meinen frühen Zwanzigern habe ich stets nach einer Gruppe gesucht, zu der ich gehöre. Nach und nach habe ich begriffen, dass es so eine Gruppe vielleicht gar nicht gibt für mich. Das führte zu vielen Fragen: Wer formt dich? Ist es deine Familie, sind es deine Freunde oder bist es einfach du?

Das trifft auch auf Tooly zu. Sie schöpft ihre Stärke vor allem aus sich selbst.

Ja, und sie verändert sich ständig. Schon als kleines Mädchen fragt sie sich immer wieder: Wer will ich jetzt sein? Auch ich habe mich jedes Jahr nach den Ferien gefragt, wer ich heuer sein möchte. Ich war jedes Jahr jemand anderer. Einmal gehörte ich zu den coolen Kindern in der Klasse, ein anderes Mal zu den fleißigen, im nächsten Jahr war ich nur auf Musik konzentriert. Ich wollte immer Schriftsteller werden und als ich jünger war, hatte ich stets Angst, dass ich das gar nicht könnte, weil mir so etwas wie Heimat fehlte. Viele berühmte Schriftsteller haben eine Kulisse für ihr Schreiben: Charles Dickens hatte London, William Faulkner den Süden von Amerika, Proust sein kleines Dorf.

Diese frühe Angst war offensichtlich unberechtigt.

Als ich meinen ersten Roman schrieb, ist mir aufgefallen, dass alle Figuren verloren und heimatlos waren. Seither denke ich, vielleicht ist das einfach mein Kontext. Und das Thema Heimatlosigkeit ist heute sicher relevanter als vor 200 Jahren. Heute ist es ganz normal, dass du in einer anderen Stadt oder einem anderen Land aufwächst als deine Ururgroßeltern, dass dein Partner aus einem anderen Land kommt und deine Kinder drei Sprachen sprechen.

Gibt es heute ein Zuhause für Sie?

Zuhause ist da, wo meine Bücher und meine Freunde sind. Da die aber in der ganzen Welt verstreut leben, ist es einfacher, meinen Büchern zu folgen.

Trotzdem haben Sie sich entschieden, wieder in Ihrem Geburtsland England zu leben.

Ich bin immer wieder für kurze Zeit zurückgekehrt, aber ich hatte Jahrzehnte nur eine vage Idee von dem Land. Ich wollte wissen, wie es sich anfühlt, wieder dort zu leben. Meine Freundin ist Italienerin, ich war allerdings Italien müde und wollte woanders leben, aber nicht so weit weg von ihr. Da erschien mir London passend.

Das Buch spielt in vielen verschiedenen Ländern, auch in einigen, in denen Sie nie gelebt haben. Wieso haben Sie genau diese gewählt?

Ich habe Länder ausgesucht, die entweder im Zentrum des Weltgeschehens stehen oder ganz weit davon entfernt sind. Die Handlung spielt zum Beispiel in New York kurz vor den Anschlägen 2001. Die Flugzeugabstürze kommen nie vor, aber der Leser weiß, dass sie passieren werden. Ich schildere eine Zeit, in der vor allem junge Menschen diese Haltung hatten, dass das Leben in Manhattan richtig langweilig sei. New York war gentrifiziert, nicht mehr so gefährlich, jeder sprach davon, dass es die Hauptstadt der Welt war. Es lag so eine Selbstzufriedenheit in der Luft. Niemand ahnte, dass sich das so schnell ändern würde. Dagegengesetzt habe ich Bangkok im Jahr 1988 – also Asien zu einer Zeit, als dieser Kontinent noch nicht einen solchen Aufschwung wie heute erlebt hat. Ich mag es, diese verschiedenen Perioden und Zeiten durcheinanderzumischen. Und zuletzt habe ich mich für Wales entschieden, den Geburtsort meiner Mutter. Vielleicht auch, damit ich einen Grund für lange Spaziergänge in Wales hatte.

Es ist paradox, dass wir in einer globalisierten Welt leben, in der Reisen und das Übersiedeln in andere Länder für viele so einfach sind und auf der anderen Seite so viele Probleme mit Flüchtlingsströmen aus Krisenregionen wie Syrien oder Afrika haben.

Das ist vielleicht das größte Paradoxon der Gegenwart. Es gibt da dieses Buch aus den 1980ern, das hieß „Jihad versus McWorld“. Damals erhielt es keine große Beachtung, aber das Szenario ist heute eingetreten: Wir haben eine geteilte Welt. Es gibt viele Gruppen, die sich in kleine Identitäten unterteilen und einander bekriegen – und auf der anderen Seite eine Masse von Menschen, die durch die Globalisierung überall Zugang hat. Im Westen kann heute jeder überallhin und auf der anderen Seite gibt es Flüchtlinge, die keinen Platz finden. Dahinter steckt die berechtigte Frage, was mit existierenden Kulturen passiert. Es gibt die Angst, dass zu viele neue Menschen die eigene Kultur zerstören. Und das ist mein zentrales Thema: Brauchen wir eine Kultur und eine Gruppe, zu der wir uns zugehörig fühlen?

Was haben Sie Neues über England gelernt, seit Sie hier wieder leben?

Ich lerne viel über England, aber ich empfinde es noch immer nicht als mein Land. Ich denke von keinem Land, es ist meines. Es gibt viele Länder, deren Kulturen ich schätze und die Einfluss auf mich haben. Was mir vor allem die britische Politik gezeigt hat, ist, dass es überall auf der Welt eine Frustration über die Demokratie gibt. Die Menschen wollen sich nicht mehr mit ihrer Machtlosigkeit zufriedengeben. Obwohl es immer so war, dass in Demokratien die Mehrheit entscheidet, gibt es den Unwillen der Minderheit, das zu akzeptieren. Das hat auch der Unabhängigkeitswunsch von Schottland gezeigt oder der Aufstieg der Tea Party in den USA.

Könnte Wales auch irgendwann die Unabhängigkeit von England fordern?

Es gibt eine nationalistische Bewegung in Wales. Aber nach der Niederlage für Schottland sind solche Versuche eher von Misserfolg gekrönt.

Ihr erster Roman „Die Unperfekten“ nahm 2009 einige der Entwicklungen der Printmedien vorweg. Welche Reaktionen bekamen Sie auf das Buch?

Viele Journalisten erzählten mir, sie würden die Charaktere aus der Zeitungsredaktion wiedererkennen. Aber das Interessante war: Das erzählten sie mir überall auf der Welt.

Heißt das, Zeitungsredaktionen sind überall gleich?

Vielleicht. Oder es heißt, dass es einen bestimmten Menschenschlag gibt, der in Zeitungsredaktionen landet. Oder es ist der Job, der diese Menschen nach einer gewissen Zeit alle gleich formt.

Für Sie war dieser Roman der Eintritt in einen neuen Beruf. Sie legten das Reporterleben ab und wurden Schriftsteller.

Eigentlich war es umgekehrt: Ich wollte immer Schriftsteller werden und begann im Journalismus, weil ich Erfahrungen sammeln wollte, über die ich schreiben könnte. Direkt nach der Universität war ich 22 und viel zu jung und unerfahren, um Romane zu schreiben, die irgendjemand lesen würde. Mit 29 habe ich mich wieder an meinen eigentlichen Berufswunsch erinnert und mich ans Bücherschreiben gemacht.

 

Herr Rachmann, darf man Sie auch fragen…

1. . . welcher Autor Sie am meisten beeinflusst hat?

So viele! Aber den größten Einfluss hatte wahrscheinlich Charles Dickens. Seine Geschichten wurden mir als Kind vorgelesen und ich zitiere Dickens oft in „Aufstieg und Fall großer Mächte“. George Orwell mochte ich als Teenager. Graham Greene, Virginia Woolf und Bruce Chatwin entdeckte ich in meiner Studentenzeit. Leo Tolstoi, Jane Austen, Anton Tschechow und Katherine Mansfield bedeuten mir viel. Zuletzt haben mich „Stoner“ von John Williams, „The Blue Fox“ von Sjón und „Man with a Blue Scarf“ von Martin Gayford begeistert.

2. . . was Literatur und Journalismus gemein haben?

Derzeit stehen sowohl der Literatur- als auch der Medienbetrieb vor den gleichen technologischen Herausforderungen. Beide erleben den größten Transformationsprozess seit ihrem Bestehen. Es ist zwar eine unsichere, aber auch fruchtbringende Zeit – und Journalisten und Autoren können wenigstens darüber schreiben.

Ela Angerer: „Wir sollten viel geduldiger mit uns sein“

Die Autorin und Fotografin Ela Angerer erzählt in ihrem Debütroman „Bis ich 21 war“ von einer wohlstandsverwahrlosten Kindheit in einem Vorarlberger Schloss. Einiges davon hat sie selbst erlebt. 

Presse am Sonntag.

Soeben ist Ihr erster Roman „Bis ich 21 war“ erschienen. War Ihnen bewusst, dass das Wörtchen „autobiografisch“ auf dem Klappentext Fragen beim Leser auslösen wird?
Ela Angerer: Das Buch ist in der Tonlage einer Halbwüchsigen geschrieben. Damit wird klar, dass nicht alles erfunden sein kann, aber es ist kein Tatsachenbericht. Mir ging es darum, dass wir alle so gut wie nie über das große Thema Kindheit sprechen. Freunde wollen wir damit nicht langweiligen, unsere Eltern wollen wir nicht kränken. Wenn wir darüber sprechen, dann sind es oft nur Allgemeinplätze und das, was von der Familie offiziell zur Wahrheit erklärt worden ist. Sobald Menschen über ihre Kindheit sprechen, fallen Sätze wie Kalendersprüche.

… und der Rest wird beim Psychotherapeuten verhandelt.
Wenn überhaupt. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man sich ganz schön lange an seiner Kindheit abarbeitet. Bei mir hat es 50 Jahre gedauert.

 Sie schildern eine Jugend im materiellen Überfluss, in einem Schloss in Vorarlberg mit viel Personal und noch mehr Foie-gras- und Kaviar-Vorräten im Keller. Sie schreiben von Drogenerfahrungen und sexuellen Abenteuern mit gleichaltrigen Männern und Frauen. Die Frage ist schrecklich platt, aber sie liegt auf der Hand: Was von all dem ist real, was erfunden?
Es ist ein Spiel mit Wahrheiten, die zu einem Kunstprodukt verdichtet werden. Es gibt einen inneren Kern, der entspricht einer Wahrheit, die ich kenne. 

Sie erwähnen, wie lähmend es ist, wenn Menschen nichts mit ihrer Zeit anzufangen wissen. Kennen Sie diese Lebens-Fadesse?
Das kennen, glaube ich, viele, die so wie ich im Bürgertum groß geworden sind. Durch nicht vorhandene Geldsorgen entsteht auch ein großes Vakuum. Viele Menschen wollen darüber nicht nachdenken, wer oder was sie sind und sich lieber ablenken. Besonders für Kinder ist es schlimm, wenn ihnen keine Inhalte vorgelebt werden. Natürlich können die Eltern auch andere Inhalte für wichtig empfinden als man selbst. Das heißt nicht, dass die Eltern falsch oder böse sind, aber man muss sich zu ihnen verhalten, sich gegen sie positionieren, um ein eigenständiger Mensch zu werden. 

Warum hat die Auseinandersetzung mit der Kindheit bei Ihnen so lange gedauert?
Auch ich war lange abgelenkt. Ich hatte einen erfüllten Beruf als Journalistin, habe ein Kind großgezogen. Irgendwann ist mir aufgefallen, dass mich viele Geschichten aus meiner Kindheit begleiten, und wann immer Stille um mich herum ist, melden die sich. Dem wollte ich nachgehen. Ich war erstaunt, wie lange diese Stimme aus der Kindheit sich meldet. 

Wie sind die Reaktionen auf das Buch?
Ich werde ganz oft gefragt, was meine Mutter zu dem Buch gesagt hat.

Und Sie antworten wie?
Ich sage wahrheitsgemäß: Ich weiß es nicht, weil ich nicht weiß, ob sie es schon gelesen hat. Meine Mutter ist eine sehr intelligente Frau, ich gehe davon aus, dass sie sich von sensationsgierigen Nachbarinnen und Freundinnen nicht verrückt machen lässt, sondern weiß, dass es sich um Literatur und keinen Tatsachenbericht handelt. 

Wie ist das Verhältnis zu Ihrer Mutter?
Kompliziert, und es war auch nicht immer so gut wie es heute ist. Das hat auch mit mir zu tun, weil ich, um mich selber zu finden, auf Distanz zu meiner Mutter gehen musste. Sie ist eine sehr beeindruckende Person, ich musste aus ihrem Schatten treten. Es gehört zu den größten Tabus in unserer Gesellschaft, zu den Eltern und vor allem zur Mutter auf Distanz zu gehen. Ich habe viele Freunde, vor allem Frauen, die jammern, dass sie ihre Eltern treffen müssen. Die sind in meinem Alter und lassen sich bis heute von ihren Müttern terrorisieren. Nur wenige trauen sich zu hinterfragen, ob die eigene Mutter zum engsten Freundeskreis gehören muss. 

Ist das in der nächsten Generation anders?
Mein Sohn ist da viel brutaler, aber ich fordere es auch nicht. Natürlich kann man sagen: Wenn nichts mehr gilt, was hält uns dann noch zusammen, außer die Familie? Ich gehöre eher zu den Menschen, die sich eine Wahlfamilie geschaffen haben. Ich arbeite mich mein ganzes Leben an der Familie ab, liebe meine Mutter aber natürlich. Wenn ich etwas geschafft habe in meinem Leben, dann, dass ich in meiner Familie die erste Frau bin, die für sich selbst sorgen kann. Unsere Mütter, die sich für die Familie entschieden haben, können das nicht verstehen, auch unsere Probleme nicht, weil sie denken: „Hättest halt einen g’scheiten Mann geheiratet und liebe Kinder bekommen.“ 

Was stimmt ist, dass Sie in Vorarlberg aufgewachsen sind. Wie hat Sie das geprägt?
Sehr. Aber es ist ein Unterschied, ob man als Kind von Vorarlbergern in Vorarlberg aufwächst oder – so wie ich – als Kind von zugereisten Wienern. Schon meine Eltern waren dort nicht sehr heimisch, und vielleicht war es deswegen auch für mich schwierig. Meine Theorie ist, dass aus den österreichischen Bergregionen die spannendsten Menschen kommen, weil die Landschaft die Menschen prägt. Die schroffen Berge rufen etwas in einem hervor. Da muss man schon eine Gegenkraft entwickeln, um dem standzuhalten. Nicht umsonst kommen so viele Künstler aus Vorarlberg. 

Wann haben Sie Vorarlberg verlassen?
Mit 18 bin ich nach Wien gegangen. Die Schönheit der Landschaft war mir zu wenig. Ich war auf der Suche nach viel mehr Reibung. 

Und wie war es dann in Wien?
Ehrlicherweise hatte ich am Anfang Angst, U-Bahn zu fahren. Aber sagen wir so: Ich bin sehr schnell heimisch geworden dank dem U4. Ich bin eine von denen, die dort viel Zeit verbracht hat. Da stand man neben Falco oder Helmut Lang am Rand der Tanzfläche und hatte das Gefühl, man ist jetzt bei etwas Wichtigem dabei. 

Stichwort U4. Bis heute zählen Sie zu einer bestimmten Wiener Medien-Kulturblase rund um die Autoren Joachim Lottmann, Thomas Glavinic und Schauspieler Philipp Hochmair. Sehen Sie das auch so?
Ja. Das ist auch der Grund, warum ich zu den Leuten gehöre, die Wien wunderbar finden. Ich war eine Zeit lang viel in Berlin und bin draufgekommen, dass Wien etwas hat, was andere Städte nicht haben. Diese ernsthafte Literatur- und Theatertradition. Hier wird mit einer anderen Ernsthaftigkeit gelebt und über Kunst nachgedacht. In Berlin reicht es, dass man jeden Abend auf irgendeiner Vernissage aufkreuzt, es geht relativ wenig um Inhalte. Hier finde ich, zumindest in dem Umfeld, in dem ich mich bewege, muss man schon etwas zu sagen haben. Zudem sind alle Künstlerfreunde, die ich habe, extrem fleißig.

Sie begeistern vor allem männliche Künstler. Autor Joachim Lottmann schwärmt in seinen Büchern von Ihnen. Wie würden Sie Ihre Rolle beschreiben? Sind Sie Muse?
Muse bin ich sicher nicht. Ich glaube, ich bin einfach eine Gesprächspartnerin, und es gibt Leute, die behaupten, dass ich auch eine sehr gute Freundin bin. Aber ich reflektiere stark auf andere und brauche den Austausch. Ich könnte nie allein auf einer Alm sitzen und ein Buch schreiben. 

Wird es eine Fortsetzung der Geschichte über das Mädchen aus dem Schloss geben?
Ich bekomme sehr viel Post von Leuten, die mir schreiben, sie warten auf eine Fortsetzung. Aber es wäre zu einfach, wenn das nächste Buch den Arbeitstitel hätte: „Bis ich 42 war“. Ich habe schon ein neues Buch begonnen und natürlich fließen da auch wieder eigene Erfahrungen ein. Aber es wird überhaupt nichts mit meiner Biografie zu tun haben.

Was die Menschen zu interessieren scheint, ist, wie jemand mit so einer krassen Kindheit erwachsen wird?
Man wird nicht von einem Jahr zum anderen ein vernünftiger und ausgeglichener Mensch. Retrospektiv kann ich sagen, wir sollten alle viel geduldiger mit uns selber sein, auch mit anderen Menschen, denen wir dabei zusehen, wie sie Irrwege gehen. Mit einer so wie im Buch beschriebenen Kindheit braucht man länger als bis 22, bis man es auf die Reihe kriegt. Mein Glück war, dass ich im Beruf meinen Mann stehen musste als Journalistin. Das hat mein Leben geregelt. Ich bin eine Schulabrecherin. Im Internat habe ich kurz vor der Matura alles hingeschmissen. Ich war also jung und dumm. Später wollte ich allen beweisen, dass ich verlässlich bin und Leistung erbringen kann. Vielleicht ist man mit einer komplizierten Kindheit sehr leistungsorientiert und schafft dann sehr viel. 

Frau Angerer, darf man Sie auch fragen…

1. . . ob die im Buch geschilderten Drogenerfahrungen Ihre eigenen sind?
Ich habe wirklich viele Drogen genommen, aber das ist zwanzig Jahre her. Seitdem habe ich nie wieder etwas angerührt und würde das auch nicht mehr tun. Drogen sind auch eine Suche, man muss nur rechtzeitig damit aufhören.

2… ob Sie dank Ihrer eigenen Erfahrungen bei diesem Thema strenger oder milder mit Ihrem Sohn waren?
Ich hab mich sicher mehr gefürchtet, weil ich wusste, was alles passieren kann. Aber ich habe es meinem Sohn damit auch sehr langweilig gemacht, für ihn war Drogenkonsum keine Grenzüberschreitung. Die Eltern seiner Generation gehen alle noch in Clubs und wissen, wie man einen Joint baut. Damit wird das Thema uninteressant.

3… ob es etwas gibt, worüber Sie nie schreiben würden?
Meinem Sohn habe ich versprochen, dass ich nie über ihn schreiben werde.

Steckbrief

Ela Angerer, (Jahrgang 1964) wächst in Vorarlberg auf, zieht mit 18 nach Wien. Nach einer Lehre für Handdruck beginnt sie im Journalismus Fuß zu fassen, schreibt u.a. für den „Standard“, bis 2013 für den „Kurier“; und fotografiert.

Ab 2010 gibt sie die Reihe „Moderne Nerven“ im Czernin-Verlag heraus. Bisher erschienen „Abwärts“, „Brennstoff“ und „Porno“. Im Rabenhof inszeniert sie die Kurzgeschichten aus „Porno“ für die Bühne. 

Aktuell. Im September erschien ihr Debütroman „Bis ich 21 war“ (Deuticke). Seit Mai betreibt sie die Agentur Mega Kommunikation, die vor allem auf das Erstellen, Optimieren und Betreuen von Websites sowie Social-Media-Maßnahmen spezialisiert ist. Angerer hat einen erwachsenen Sohn und lebt in Wien.
www.elaangerer-fotografie.com

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 05.10.2014)

Leon de Winter: „Junge Männer wollen Tiere töten“

In seinem jüngsten Roman lässt Leon de Winter den 2004 ermordeten Filmemacher Theo van Gogh auferstehen. Vor seinem Wien-Besuch spricht der holländische Starautor über seinen einstigen Feind van Gogh.

Bereits zum zweiten Mal bauen Sie einen Ihrer Romane (nach „Ein Recht auf Rückkehr“ nun „Ein gutes Herz“) rund um eine Herztransplantation auf. Erklären Sie mir bitte Ihr Faible für dieses Organ.
Leon de Winter: Sie wissen offenbar mehr über meine Arbeit als ich. Ich habe keine Ahnung, wieso mich das Herz anzieht. Es ist Quell vieler Symbole und zwar nicht nur in westlichen Kulturen. Immer wird es mit der Liebe verbunden, aber auch mit der Seele. Für Schriftsteller hatte es immer schon eine große Anziehungskraft.

Es gab also keinen konkreten Anlass, sich mit der Herzchirurgie auseinanderzusetzen?
Ich habe mein eigenes Herz noch, falls Sie das meinen. Aber mein Cousin war einer der ersten Herztransplantationsspezialisten in Holland und hat mir sehr viele Geschichten erzählt; auch davon, wie ein neues Herz das Leben und die Persönlichkeit eines Patienten verändern kann. Das gab den ersten Anstoß, darüber zu schreiben.

Der im Jahr 2004 ermordete Künstler und Filmemacher Theo van Gogh hat Sie zu seinen Lebzeiten oft beleidigt und kritisiert. Sie galten als Erzfeinde. Warum macht man so jemanden zur Hauptfigur seines Buches?
Ursprünglich wollte ich gar keinen Roman über Theo van Gogh schreiben, sondern einen spektakulären Mainstream-Thriller. Nach dem Geiseldrama in einer Schule in Beslan 2004, also im selben Jahr, in dem Theo van Gogh starb, überlegte ich, wie es wäre, würde so etwas in Holland passieren. In meiner Geschichten hätten die Terroristen im Austausch für die Geiseln die Freilassung von van Goghs Mörder, Mohammed Bouyeri, gefordert. Doch ich wollte die alten Geschichten ruhen lassen, ich wollte mich nicht mehr mit van Gogh auseinandersetzen. Zufällig stolperte ich dann aber auf YouTube über einen Ausschnitt aus einer TV-Show, in der van Gogh behauptete, ich hätte einen Fetisch für Stacheldraht. Das hat mich so wütend und machtlos gemacht, dass ich doch über ihn schreiben wollte.

 Sie vermischen Realität und Fiktion so sehr, dass man bei dieser Geschichte im Buch glaubt, sie sei frei erfunden. Ich habe mich gefragt, warum Sie nicht schon viel früher von dieser Diffamierung erfahren haben.
Das hat mich auch überrascht. Der Grund war wohl, dass wir zu dieser Zeit nicht in Holland lebten, und keiner meiner Freunde erzählte mir das.

Hätte ihm das Buch gefallen?
Er hätte es geliebt und wahrscheinlich verfilmen wollen. Und ich hätte vermutlich gesagt: „Gut, warum nicht?“

Das beschreibt Ihre paradoxe Beziehung ganz gut: Sie konnten einander nicht leiden, dabei waren Sie politisch gar nicht so weit voneinander entfernt, etwa wenn es um Kritik des Islam geht.
Es gab einige Dinge, die wir ähnlich sahen, aber die Art, wie er seine Meinung äußerte, war unzivilisiert, viel zu aggressiv und oft widerlich. Ich muss gestehen, ich habe ihn nie getroffen und nie mit ihm gesprochen. Ich weiß also nicht, wie er wirklich wahr. Am nächsten kam ich ihm in meiner Vorstellung beim Schreiben dieses Romans.

Trotzdem gehen Sie in Ihrem Buch nicht besonders hart mit ihm ins Gericht. Er kommt eigentlich ganz gut weg.
Stimmt, ich habe völlig versagt in diesem Punkt. Ich habe wirklich versucht, ihn so schrecklich, hysterisch und hässlich wie möglich zu machen. Je mehr ich mich mit ihm beschäftigt habe, desto mehr begann ich, ihn und seine Verrücktheit zu mögen und zu verstehen, welche Person er gern gewesen wäre. Doch sein Selbstzerstörungstrieb stand ihm im Weg: Er trank zu viel, nahm Drogen und war sehr unglücklich in seinen Beziehungen. 

Auch Sie selbst spielen im Roman „Ein gutes Herz“ eine Rolle – als übergewichtiger, egozentrischen Autor mit langen Nasenhaaren, der von der weiblichen Hauptfigur stehen gelassen wird. Wieso sind Sie Teil des Romans, und wieso ist dieser Leon de Winter beinah verachtenswerter als Theo van Gogh?
Ich habe mich zum ersten Mal in einen Roman hineingeschrieben, und das lag nur an Theo. Ich wusste, wenn ich über ihn schreibe, kann ich mich nicht außen vor lassen. Ich hätte mich natürlich auch als James-Bond-artigen Kerl beschreiben können, das wäre auch lustig gewesen. Aber ich entschied mich anders. Ich brauchte einen Typen wie mich, der ein ziemlicher Kotzbrocken ist, kein angenehmer Kerl. Es war ein großer Spaß, diesen Charakter zu beschreiben, der zufällig meinen Namen trägt.

Das Leitthema des Romans ist, wieso junge Migranten zweiter, dritter Generation Terroristen werden. Im Buch hat das meist ganz persönliche, weniger religiöse Gründe.
Das war für mich bei der Recherche auch interessant: Es gibt fast immer persönliche Gründe, warum jemand so radikal wird. Es ist nie die religiöse Passion allein. Der Anführer der Terroristen im Buch tut alles aus Rache an seinem Vater, der ihn und die Familie als Krimineller im Stich gelassen hat. Dazu kommt, dass Terrorismus ein bisschen wie Rock’n’Roll ist: Du übst Gewalt aus, und das wird von einer Weltreligion legitimiert. Heutzutage darfst du kein Macho mehr sein, aber als radikaler Muslim darfst du gewalttätig und männlich sein. Das ist attraktiv für manche junge Männer. Sie können die Stars in ihren eigenen virtuellen Spielen sein.

Sie glauben also, dass die Krise des modernen Mannes dazu führt, dass junge Männer Terroristen werden?
Manche unserer Soldaten, die aus Kriegsgebieten heimkommen, leiden an einem posttraumatischen Stresssyndrom. Ich frage mich: Haben die Taliban das auch, wenn sie in ihre Dörfer zurückkehren, oder werden sie als Helden verehrt? Für manche, nicht alle, junge Männer ist es attraktiv, auf dem Schlachtfeld maskulin zu sein. 

Aber die Attraktion Krieg gab es doch schon immer.
Natürlich – und die Männer zogen in den Krieg und erlebten Solidarität in einem rein männlichen Umfeld. Diese Art von Kriegen gibt es nicht mehr – Gott sei Dank.

Protagonisten Ihrer Romane sind oft schwache, unentschlossene Männer. Sind die Männer wirklich so bemitleidenswert und unbeholfen?
Unsere modernen Sozialstaaten sind weiblich. Männliche Qualitäten, die wir mit Konkurrenzdenken oder Aggression verbinden, werden, so gut es geht, unterdrückt. Das ist primär gut, weil unsere Städte deshalb so sicher sind wie nie zuvor. Doch junge Männer wollen auf die Jagd gehen, Tiere töten und Abenteuer erleben. Das Einzige, was wir unseren jungen Männern heute geben können, sind virtuelle Spiele. Das Leben dieser Männer spielt sich heute vorwiegend in ihren abgedunkelten Zimmern ab, wo sie Computerspiele spielen. Junge Frauen sind einfach viel ehrgeiziger. Sie können den ganzen Tag in einem Klassenraum sitzen und sich konzentrieren, für Buben ist das Folter. Wir leugnen, dass es viele junge Männer gibt, die frustriert sind. 

Und was ist Ihre Lösung für dieses Problem?
Eine Lösung wäre, wieder getrennte Schulen einzuführen und Stundenpläne, die auf männliche Lernbedingungen Rücksicht nehmen. In dieser wundervollen Welt der Emanzipation und des Feminismus haben wir übersehen, dass Buben wirklich Buben sind und nicht Mädchen mit einem Problem.

Von welcher wundervollen Welt der Emanzipation sprechen Sie? Für junge Frauen beginnt spätestens bei der Familiengründung die Zeit, in der sie zurückstecken müssen.
Das leugne ich nicht. Niemand hat gesagt, dass das Paradies auf uns wartet.

Neben van Gogh und Ihnen kommen auch der Rechtspopulist Geert Wilders, der Amsterdamer Bürgermeister und Ihre Frau in Ihrem Buch vor. Was hat Sie gereizt, so stark Wahrheit und Fiktion zu trennen?
Am liebsten hätte ich nur reale Personen eingebaut, nur bei den Kriminellen wurde das ein bisschen gefährlich, also habe ich sie anders genannt. Und um Probleme mit meiner Frau zu verhindern, habe ich eine fiktive Freundin für Leon de Winter gefunden. 

Stimmt es, dass sich der (echte) Anwalt Bram Moszkowicz und seine Frau nach Erscheinen des Buches wirklich getrennt haben, wie Sie es im Buch vorhersagten?
Ja, sie hat ihn drei Monate nach der Veröffentlichung verlassen. Und es ist noch ein bisschen verrückter: Ich schrieb, dass sie eine neue Talkshow mit einem bekannten Moderator hat – vor zwei Wochen hörte ich, dass die beiden nun wirklich darüber reden. 

Steckbrief

Leon de Winter, geb. 1954, ist einer der bekanntesten Autoren der Niederlande. Seine Eltern überlebten den Holocaust. Werke: „Hoffmanns Hunger“, „Zionoco“, „Recht auf Rückkehr“ und zuletzt „Ein gutes Herz“. Er ist mit der Autorin Jessica Durlacher verheiratet, die beiden haben zwei Söhne. 

Lesung in Wien 
Leon de Winter ist Gast auf der Wiener Buchmesse (21.–24.11.) und liest am 22.11. im Rabenhof aus seinem jüngsten Roman. „Presse“-Kolumnistin Sibylle Hamann moderiert (20h, 15Euro).

Dieses Interview entstand im Rahmen von Eurotours 2013, einem Projekt der Europapartnerschaft, finanziert von der EU.
Infos: www.zukunfteuropa.at

 („Die Presse am Sonntag“, Print-Ausgabe, 17.11.2013)

„Wir stecken in der digitalen Pubertät“

Der deutsche Professor Bernhard Pörksen im „Presse“-Interview über die Dynamik des digitalen Skandals, neue Akteure in der medialen Erregungsarena und die Ängstlichkeit der Politik im Angesicht des Shitstorms.

Die Presse: „Der entfesselte Skandal“ ist Ihr zweites Buch über den „Skandal“. Was fasziniert Sie so an diesem Begriff?
Bernhard Pörksen: Der Skandal ist eine Extremform der Kommunikation, die Normalität offenbart. Man erkennt, welche Normen in einer Gesellschaft gelten. Im Skandalschrei zeigen Einzelne oder ganze Gruppen ihr Verständnis von Normalität, indem sie sagen: „Nein, das darf nicht sein.“

Nun konzentrieren Sie sich auf den Skandal im Netz. Wieso so spät?
Anlass war der Sturz des deutschen Bundespräsidenten Horst Köhler. Er gab auf dem Rückflug von Afghanistan ein Interview, das erst wenig Beachtung fand. Doch dann entdeckten Blogger darin einen Skandal, angeblich eine grundgesetzwidrige Rechtfertigung von Wirtschaftskriegen. Sie haben seine Sätze weiter gemailt, getwittert, und dann war er da, der Skandal – und Köhler ist zurückgetreten. Diese Geschichte zeigt: Wir brauchen im Zeitalter der digitalen Überallmedien ein neues Verständnis des Skandals. Er ist nicht mehr räumlich und zeitlich begrenzt: Informationen im Netz bleiben auf Dauer erhalten und sind von jedem Ort der Welt aus reaktivierbar. Und es gibt ganz neue Akteure in der Erregungsarena: Bloggerschwärme, die sich über die Doktorarbeit eines Ministers erregen, aber auch der aggressive Mob. Früher konnten nur Medien einen Skandal entfachen, heute kann das jeder. Und nicht mehr nur Mächtige oder Prominente werden zum Objekt von Skandalisierung.

Wo liegt der Ursprung des Skandals?
Bereits in einer mündlich organisierten Kultur gab es lokale Skandale. Sie wurden weitererzählt, es wurde jemand ausgegrenzt. Der Bruch kam mit den Massenmedien: Mit ihnen konnte der Skandal plötzlich ganz andere Aufmerksamkeit bekommen. Die neueste Form ist der digitale Skandal.

Worin unterscheiden sich alter und neuer Skandal?
Im massenmedialen System beginnt der Skandal in einer Redaktion, die entscheidet, etwas zu publizieren; am Ende steht das passive Publikum. Im digitalen Skandal können sich die Richtungen und Rollen völlig neu darstellen. Es kann sein, dass Blogger oder Twitterer tun, was früher die klassischen Medien taten, nämlich ein Empörungsangebot anbieten. Wird dieses von vielen Menschen akzeptiert, bildet sich eine Empörungsgemeinschaft, und auch die klassischen Medien greifen den Skandalisierungsvorschlag auf.

Brauchen Online- und klassische Medien einander?
Ja. Effektive Empörung ist darauf angewiesen, dass Massenmedien das Empörungsangebot mit der nötigen Autorität versehen, es ausrecherchieren, analysieren.

„FAZ“-Herausgeber Frank Schirrmacher glaubt, klassische Medien hätten „kein Gespür mehr dafür, ob etwas relevant ist“. Hat er Recht?
Ja. Wir sind in einer Phase der Dauerskandalisierung. Derzeit wird das Netz vorschnell zum Problem erklärt, faktisch sind aber alle Medien das Problem. Es gibt einen Wettbewerb zwischen den klassischen Medien und den Netzmedien: Wer kann lauter, schneller, massiver einen Empörungsvorschlag durchsetzen? Das führt dazu, dass das Gespür des Journalisten für Relevanz oft zugunsten des schnellen Skandals vernachlässigt wird.

Im Netz werden oft Lappalien skandalisiert, echte Missstände gehen unter.
Es werden schon auch bedeutsame Geschichten vor einem Weltpublikum ausgebreitet. Etwa die Folterfotos von Abu Ghraib oder die Plagiatsenthüllungen, bei denen Politiker ins Straucheln geraten sind. Aber es gibt parallel dazu die Neigung zur Skandalisierung von Banalitäten. Derzeit wird in Deutschland ein Entwicklungsminister zum Rücktritt aufgefordert, weil er einen Teppich aus Afghanistan eingeführt hat, ohne ihn zu verzollen. Solche Fälle zeigen, dass das Gespür für Relevanz beeinträchtigt wurde. Früher war die Öffentlichkeit eine Sphäre der Information; heute ist sie auch ein Ort für Erregungsexperimente, Motto: Regt sich jemand mit mir auf, dann hat das Experiment funktioniert; wenn nicht, dann ziehen wir unseren Empörungsvorschlag zurück und bringen die nächste Geschichte.

Sind Shitstorm und digitaler Skandal dasselbe?
Der Shitstorm ist ein netzinterner Empörungsorkan, der sich zu einer Skandalisierung auch offline steigern kann. Er ist die aggressive Vorstufe einer Skandalisierung.

Sie schreiben, ein digitaler Skandal dauert bis zu acht Wochen.
Eine Empörung, die über sieben Wochen hinausgeht, ist ungewöhnlich. Danach wendet sich das Publikum ab. Doch häufig machen die Skandalisierten selbst Fehler. Wenn der Umgang mit dem Skandal zum eigentlichen Skandal wird, nennen wir dies eine Grenzüberschreitung zweiter Ordnung. Klassische Beispiele sind Ex-Minister Guttenberg und Ex-Präsident Wulff.

Wie entkommt man einem Shitstorm?
Man gesteht den Fehler ein und bittet mit einer ernsten Geste um Entschuldigung.

Und wenn man sich unschuldig fühlt?
Das wird oft als arrogant wahrgenommen, und das kann die Empörung erneut anheizen. Die Demutsgeste ist ein wirksames Mittel zur Ad-hoc-Entschärfung. Überdies kann man darauf hoffen, dass nach ein paar Tagen alles vorbei ist. Meine Empfehlung: Jeder braucht heute eine eigene Medienstrategie – und muss sich überlegen, was er von sich im Netz preisgibt.

Sie meinen, dass nur wenige diese Medienkompetenz haben…
Ich glaube, wir sind in der Phase der digitalen Pubertät. Wir können uns die mögliche Zukunft unserer Handynachrichten, Facebook-Postings und Tweets nicht vorstellen. Das wird wohl auf Dauer ein Problem bleiben. Wir können unser Bewusstsein schulen, aber die mögliche Zukunft unserer Daten kann niemand vorhersagen. Deshalb haben wir den etwas resignativen Imperativ formuliert: „Handle stets so, dass dir die öffentlichen Effekte deines Handelns langfristig vertretbar erscheinen. Aber rechne damit, dass dies nichts nutzt.“

Wäre es eine Lösung, gar nicht im Netz zu agieren oder mit Fantasienamen?
Wie soll das funktionieren? Jeder trägt heute Allzweckwaffen der Skandalisierung am Körper, man nennt sie nur anders: Fotohandys zum Beispiel, Smartphones.

Die Piraten fordern völlige Transparenz im Netz. Können sie besser mit diesen Gefahren umgehen?
Nein. Sie verkörpern zwar das Idealbild des transparenten Politikers, twittern permanent, sind fortwährend auf Sendung. Sie verstehen zwar das Netz, aber nicht die Sensationsgelüste der Mediengesellschaft. Einzelne twittern ihr Stammtischgegröle über die Frauenquote und nennen sie „Tittenbonus“ oder vergleichen das Wachstum der eigenen Partei mit dem Aufstieg der NSDAP.

„Zeit“-Chef Giovanni di Lorenzo sieht Journalisten heranwachsen, die aus Angst vor dem Shitstorm im Netz meinungsscheu sind. Sehen Sie das auch?
Nein. Nicht im Journalismus. Aber in der Politik. Dort sehe ich eine neue Ängstlichkeit im Angesicht des Shitstorms.

In Ihrem Resümee schreiben Sie, Sie wollen die beschrieben Entwicklungen nicht bewerten. Warum nicht?
Es gibt im Moment eine völlig absurde Frontenbildung zwischen Technikeuphorie und –pessimismus. Auf der einen Seite heißt es: „Das Netz ist gut!“ Auf der anderen Seite: „Das Netz ist böse!. Dabei geht es eigentlich darum, dass wir mündiger werden im Umgang mit diesen neuen Technologien. Zudem versuchen wir (Pörksen hat das Buch gemeinsam mit der wissenschaftlichen Mitarbeiterin Hanne Dettel verfasst) empirisch zu zeigen, dass dieser entfesselte Skandal zwei Gesichter hat: Mal ist er nur grausames Spektakel, dann wieder dringend benötigte Aufklärung. Meine Hoffnung ist, dass sich ein stärkeres Gespür für Relevanz, Brisanz und Glaubwürdigkeit von Information ergeben könnte.

Buch und Autor

Bernhard Pörksen (Jhrg. 1969) ist Professor für Medienwissenschaft an der Uni Tübingen. Mit Hanne Detel, wissenschaftl. Mitarbeiterin, hat er soeben das Buch „Der entfesselte Skandal“ (Herbert von Halem Verlag, 250 Seiten) veröffentlicht.
 

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 22.06.2012)