Warum wir das Warten verlernt haben

Erwachsene lehren ihre Kinder gerade in der Vorweihnachtszeit Geduld. Dabei fällt ihnen selbst das Warten immer schwerer. Ein Zustand, der nicht nur dank Smartphone und Internet aus der Mode kommt.

Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier, dann steht das Christkind vor der Tür.“ Es gibt so viele Auszählreime und Sprüche für die Adventzeit, dass man ahnt, worum es bei ihrer Entstehung auch gegangen sein mag: den ganz Kleinen die Wartezeit bis zum 24. Dezember zu verkürzen. Eltern erzählen in diesen Tagen gern, warum sie den Advent abwechselnd verdammen und dann wieder schätzen. Weil die Kinder einerseits so ungeduldig und unausstehlich werden, wenn sie auf das Christkind und die Geschenke warten. Und weil die Kinder andererseits in dieser Zeit des Jahres so leicht zufriedenzustellen sind. Frühes Schlafengehen? Das sei plötzlich kaum mehr ein Problem, weil die Vorfreude auf das Öffnen des Adventkalender-Kästchens so groß ist. Und jeder Dezembertag bringt sie ein Stückchen näher zum 24.

Warten, das ist vor allem für Kinder eine schwierige Übung. Und das nicht nur im Advent – das ganze Jahr über gibt es etwas, worauf man warten kann. Auf den Geburtstag. Auf die Schule. Auf die großen Ferien. Auf die neue Playmobil-Serie. Oder darauf, dass man endlich acht, neun oder zehn Jahre alt ist. Die Eltern sind Meister darin, ihre Kleinen immer wieder zu mehr Geduld zu mahnen. Dabei sind die Erwachsenen selbst gerade dabei, das Warten zu verlernen.

Während des Zähneputzens werden E-Mails abgerufen, in der Warteschlange im Supermarkt SMS beantwortet, und an der Tankzapfsäule wird mit dem Chef telefoniert. Das alles tun wir, weil wir es tun können. Das sogenannte Multitasking wurde uns vor allem im vergangenen Jahrzehnt durch die Entwicklung der Smartphones in vieler Hinsicht erleichtert. Und führt dazu, dass wir Leerläufe im Alltag mit hektischem Hin- und Herwischen füllen, um entweder Dinge zu tun, die früher nur auf dem Schreibtisch und zu Hause erledigbar waren. Oder um eine weitere Runde „Candy Crush“ und „Quizduell“ gegen die Langeweile zu spielen.

Warten ist out

Aber auch in anderen Lebensbereichen lässt sich erkennen, dass das Warten mittlerweile out ist. Serienfans wollen nicht mehr darauf warten, dass die neueste Staffel ihrer Lieblingsserie legal und auf Deutsch synchronisiert erhältlich ist, sondern streamen die neuesten Folgen bereits kurz nach der Ausstrahlung in den USA. TV-Unternehmen wie der Bezahlsender Sky und der Online-Videodienst Netflix haben längst auf dieses Bedürfnis reagiert und bieten Serien in Europa oft nur Stunden nach der Ausstrahlung in Amerika an.

Urlaube werden immer seltener lang im Voraus gebucht, sondern kurzfristig wenige Tage oder Wochen vor dem Abflugtag. Wohl, um sich möglichst lang offenzuhalten, wohin es gehen soll, aber vielleicht auch, um die Vorfreude zu verkürzen. In der Partnerschaftsvermittlung bekommen Online-Dating-Portale, in denen man ellenlange Umfragebögen ausfüllen muss, neuerdings Konkurrenz von Schnell-Apps wie Tinder. Dort kann in Sekundenschnelle ein/e mögliche/r Partner/in gefunden werden. Und wenn er oder sie nicht mehr gefällt oder nicht schnell genug auf die letzte Nachricht antwortet, ebenso rasch wieder ein/e neue/r. US-amerikanische Kaufhausketten erfinden ausgeklügelte Systeme bei den Supermarktkassen, die den Kunden den Eindruck vermitteln, sie würden nicht mehr so lang warten müssen. Und in der Modebranche hat sich längst das Prinzip namens „Shop the Show“ durchgesetzt: Schon während die Models auf dem Laufsteg eine neue Kollektion präsentieren, sind Teile davon online bestellbar.

Die deutsche Eurodance-Band Culture Beat sang bereits vor über zwanzig Jahren in ihrem Song „Mr. Vain“ und in Abwandlung der Queen-Lyrics: „I know what I want and I want it now“. Dieses „I want it now“ hat im Englischen sogar einen Namen: Instant Gratification nennt man jenen Wunsch, Vergnügen oder Entspannung sofort und ohne Verzögerung zu genießen. Die Marktwirtschaft hat mit ihrem „more, bigger, faster“ dazu beigetragen, dass die Gesellschaft in so gut wie allen Lebenslagen nach diesem „Mehr“ und „Schneller“ verlangt.

Relax!

Dass das Warten nicht mehr so en vogue ist wie früher, ist schon seit längerer Zeit unübersehbar. Eine Allensbach-Studie aus dem Jahr 2013 ergab, dass 43 Prozent der Deutschen Warten als Stress empfinden. Die „New York Times“ empfahl bereits im Winter 2013: „Relax! You’ll Be More Productive“ und schreibt seither in regelmäßigen Abständen davon, warum es Sinn hat, öfter einmal innezuhalten und sich in Geduld zu üben. Holm Friebe schrieb zuerst in der „Süddeutschen“ und dann in seinem Buch „Die Stein-Strategie“ davon, dass die menschliche Neigung, in unübersichtlichen Situationen aktionistisch zu handeln, mitunter zu einer gehäuften Fehleranfälligkeit führt: „Man könnte den gesellschaftlichen Action Bias leicht für einen Kollateralschaden der hektischen Neuzeit halten, eine Art gesellschaftlichen Action Bias.“ Er plädiert dafür, ein bisschen mehr dem britischen Spruch „Keep calm and carry on“ zu folgen. Den hat Großbritanniens König George VI. übrigens während des Zweiten Weltkriegs auf Plakate schreiben lassen, für den Fall, dass die Deutschen die Insel tatsächlich besetzen. Da es dazu nie kam, wurden auch die Plakate nie öffentlich ausgestellt.

Für die deutsche Autorin Friederike Gräff ist es eindeutig, dass das Warten ein „unliebsamer Zustand“ geworden ist. Dabei hat diese Tugend einst einen sehr guten Ruf gehabt. In der Mythologie oder in Sagen waren oft jene Figuren, die warten konnten, Helden. Penelope wartete zwanzig Jahre auf die Rückkehr ihres Mannes, Odysseus wartete ebenso wie die Protagonisten in den Werken von Anton Tschechow oder die Figuren in Samuel Becketts Theaterstück „Warten auf Godot“.

Die Romantik des Warten

Friederike Gräff hat sich für die Recherche zu ihrem Buch über das Warten die unterschiedlichsten Aspekte dieses Zustands, der anscheinend etwas aus der Mode gerät, angesehen. Sie schreibt über die Warteschlangen des Ostblocks, in denen vor allem Frauen standen, das Trauerjahr der Witwen und wie das Warten auf lebensrettende Organe gerecht organisiert werden kann. Sie selbst gesteht zwar, keine besonders geduldige Warterin zu sein (siehe Interview rechts), kann dem Thema aber dennoch etwas Romantisches abgewinnen. Und tatsächlich hat die Kunst des langen Atems auch etwas Faszinierendes. Wir bewundern Menschen, die stoisch und gleichmütig etwa auf die große Liebe oder die Gerechtigkeit warten. Das ist der Stoff, aus dem Hollywood-Filme und dicke Romane sind. Aber im Alltag haben wir trotzdem lieber alles sofort und dalli dalli.

Autorin Gräff jedenfalls hat sich auch mit der Frage auseinandergesetzt, warum es für Kinder so wichtig ist, nicht nur im Advent Geduld zu üben. Nach Recherchegesprächen mit Psychologen und Experten kommt sie sogar zu dem Schluss, dass aus „geduldig wartenden Kindern erfolgreiche Erwachsene werden“. Das haben berühmte Studien wie das Marshmellow-Experiment an der US-Universität Stanford ergeben. Dabei wurde Kindern angeboten, entweder direkt ein Marshmellow zu bekommen oder später, wenn der Versuchsleiter nach einer Zeit von ungefähr 15 Minuten zurückkam, zwei. Es zeigte sich, dass Kinder, die warten konnten, später nicht nur selbstbewusster, sondern auch beruflich erfolgreicher und sozial kompetenter waren, mit Stress besser umgehen konnten und weniger suchtgefährdet waren.

Das Warten hat deshalb einen so schlechten Ruf, weil es uns in einen Zustand der Hilflosigkeit und Passivität versetzt, so Gräff. Wobei man das Warten auf wirklich wichtige oder sogar lebensverändernde Dinge wie ein neues Organ, ein Pflegekind oder eine Aufenthaltsgenehmigung tunlichst nicht mit den kleinen Alltagswartereien auf die neue Einbauküche, das Designersofa oder den PC, der erst hochfahren muss, verwechseln sollte.

Als letzte Warte-Bastion gilt auch in hyperdigitalen Zeiten das Wartezimmer beim Arzt. Nicht nur an so manchen Einrichtungsgegenständen ist da zu spüren, dass die Zeit stehen geblieben ist. Auch an den immer gleichen Illustrierten, die dort stapelweise gehortet werden. Die Zeit steht in diesen Räumen scheinbar still – das Warten kann einem hier niemand abnehmen. Gerade da merkt der hyperaktive Mensch, wie sehr er von modernen Kommunikationsgeräten wie dem Smartphone abhängig geworden ist. Oder haben Sie in letzter Zeit einmal versucht, einen Arztbesuch ohne ein Mobiltelefon zu überstehen? Ein aufgeladenes Mobiltelefon. [*]

BÜCHER ÜBER DAS WARTEN

[*] Frank Partnoy: „Wait. The Art and Science of Delay“ (2012, Profile Books)
[*] Holm Friebe: „Die Stein-Strategie. Von der Kunst, nicht zu handeln“ (Carl Hanser Verlag, 2013)

[*] Coen Simon: „Warten macht glücklich! Eine Philosophie der Sehnsucht“ (Theiss-Verlag, erscheint im März 2015)

Die Presse am Sonntag, 14.12. 2014

Interview:

Warten mit Zorn: »Drei Minuten können uns sehr aufbringen«

Für die deutsche Autorin Friederike Gräff hat das Warten viele Facetten: Es kann romantisch oder ausdauernd sein, aber auch krank machen. [*] VON ANNA-MARIA WALLNER

Wie kamen Sie auf die Idee, ein Buch über das „Warten“ zu schreiben?

Friederike Gräff: Mich hat die Ausdauer von Menschen fasziniert, die lange auf etwas gewartet haben – auf die Rückkehr eines wichtigen Menschen etwa oder den Erfolg eines Experiments. Was mich daran fasziniert hat, war die wilde Hoffnung, die darin liegen kann.

Warum ist das Warten-Können in der Kinder-Psychologie so wichtig?
Warten zu können bedeutet, dass man eine gewisse Selbstdisziplin besitzt und ein Bedürfnis nicht unmittelbar befriedigen muss. US-amerikanische Forschungen haben gezeigt, dass Kinder, die dazu in der Lage sind, im späteren Leben beruflich erfolgreicher und im Privaten glücklicher sind, als die, die nicht warten konnten.

Und wie lernt man das Warten später, als Erwachsener, neu oder wieder?
Ich glaube, dass man sich erst einmal bewusst machen muss, wie unverhältnismäßig der Ärger über das Warten-Müssen oft ist: Drei Minuten können uns sehr aufbringen. Von da aus kann man versuchen, diese Zeit statt mit Zorn mit etwas anderem zu füllen: in der Schlange im Supermarkt den Tag Revue passieren lassen oder beobachten, mit wem man da steht und was die anderen Leute eigentlich tun, während sie warten müssen.

Welche Erkenntnis hat Sie bei der Recherche für Ihr Buch am meisten erstaunt?
Dass Warten in der Vergangenheit für große Gruppen existenzielle Ausmaße hatte: etwa für tausende Menschen vom Land, die sich in der Sowjetunion unter Stalin vor den Lebensmittelläden anstellten – auch noch, als es wegen der Produktionseinbußen verboten wurde. Sie hatten schlicht keine Wahl.

Es ist schwierig, den schmalen Grat zwischen dem Warten-Können und dem Man-sollte-nicht-mehr-Warten zu schaffen. Das andere Extrem sind Profi-Prokrastinierer, die alles anstehen lassen oder immer auf den richtigen Zeitpunkt für etwas warten. Das ist auch gefährlich.
Sicher. Eine andere große Falle ist es, das wirkliche und schöne Leben erst in der Zukunft zu erwarten, nach dem Motto: Wenn erst der Prinz auftaucht, der herrliche Job, dann geht es los.

Warten kann aber auch existenziell bedrohlich werden und krank machen, etwa wenn es um eine Organspende oder die Zuerkennung einer Aufenthaltsgenehmigung geht.
Dieses Warten ist eben nicht selbst gewählt, sondern ein Zustand, der als große Ohnmacht erlebt wird. Warten mussten vor allem die Machtlosen – in der Vergangenheit und auch heute. Dass das Warten der Flüchtlinge auf eine Aufenthaltsgenehmigung oder eine Arbeitserlaubnis krank machen kann, ist wissenschaftlich erwiesen.

Worauf warten Sie besonders ungern?
Ich finde es mühsam, auf Antworten anderer Menschen zu warten: Man hängt in der Warteschleife und fragt sich, warum der andere nicht in die Gänge kommt und schnell einmal meine E-Mail beantwortet. [*]

STECKBRIEF

Friederike Gräff
Jahrgang 1972, Journalistin, seit 2006 Redakteurin bei der „Taz“ in Hamburg und zuständig für die Ressorts Justiz und Kultur. 2014 erschien ihr erstes Buch:

»Warten. Erkundungen eines ungeliebten Zustands«
Verlag Christoph
Links, 189 Seiten