Regt euch ab! Plädoyer für eine neue Debattenkultur

Ob Bundeshymne, Binnen-I oder Gaza- und Ukraine-Konflikt: Debatten erreichen heute schnell ein menschenverachtendes Niveau – vor allem im Internet. Neue Kommunikationskanäle erfordern auch neue Umgangsformen.

Von Anna-Maria Wallner und Ulrike Weiser

Man kommt kaum an ihnen vorbei, an den Debatten der vergangenen Wochen, die besonders aufgeregt geführt wurden. Vor allem, aber nicht nur im Internet lösen immer öfter Themen, und immer öfter Gender- oder Auslandsthemen eine Welle der Empörung aus. Beispiele gefällig? So gut wie jede Asylwerber-Debatte, der Ukraine/Russland-Konflikt, die Diskussion um die Bundeshymne, ausgelöst durch Volkspopmusiker Andreas Gabalier. Die Binnen-I-Debatte. Der „Nie wieder Judenhass“-Titel der „Bild“-Zeitung, der massenhaft antisemitische Postings zur Folge hatte. Einer der traurigen Höhepunkte innerhalb der ohnehin schon so komplexen Debatte war eine spätnächtliche TV-Diskussion zum Israel/Gaza-Konflikt. ORF-Moderatorin Lisa Gadenstätter sah sich nach dem (nicht sehr geordneten) Livegespräch, bei dem UETD-Chef Abdurrahman Karayazili das Studio verlassen hatte, mit Morddrohungen konfrontiert.

Es sind aber nicht nur die sogenannten „Hassposter“ im Internet, die auffallen. Auch in Leserbriefen oder Kolumnen – wie der von „Krone“-Postler Michael Jeannée – häufen sich verbale Entgleisungen. Vielleicht wirkt das Genre der TV-Diskussion auch deshalb auf viele so blutleer, weil sie häufig sehr viel konsensueller ablaufen als Diskussionen im Internet. Wer sich gegenübersitzt, wird eben nicht so schnell ausfällig.

Immer schon hatte neben den Gelehrten auch „das Volk“ eine Meinung, der Unterschied ist nur: Heute hat dank der Demokratisierung des Internets wirklich jeder ein Ausdrucksmittel zur Hand. Sogar der Unwissendste kann sich zu jedem beliebigen Thema äußern. Das darf er natürlich, es gibt auch nichts gegen gewitzte und sogar beleidigende Schmähungen einzuwenden. Problematisch wird es, wenn sich in Diskussionen ein menschenverachtender, rassistischer Ton einschleicht – und das tut er im Netz so schnell, weil die emotionale Anteilnahme schwerer fällt. Ich kann mein Gegenüber anbrüllen und beleidigen und bin nicht mit seiner Reaktion konfrontiert. Neue Kommunikationskanäle fordern daher auch neue Umgangsformen für Debatten. Sozusagen eine moderne Ars Discutandi, die so aussehen könnte:

Kritik muss sein – aber mit (selbst)kritischem Blick auf das Niveau.
Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist ein unverzichtbares Menschenrecht. Niemand will das heuer 225 Jahre alte Recht, das erstmals in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in Frankreich erwähnt wurde, abschaffen. Die Diskussion, die Kritik und auch die Polemik sind wichtig. Was viele vor dem Enter-Taste-Drücken vergessen: Auch die Meinungsfreiheit hat ihre Grenzen, etwa, wenn die persönliche Ehre durch Beleidigung oder Verleumdung verletzt wird. Meinung sagen ja, niveaulos stänkern nein.

Wer diskutiert, sollte besser wissen, wovon er spricht.
Die Devise sollte lauten: Erst denken, dann sprechen – oder einen Tweet absetzen. Gerade, wer sich persönlich von einem Thema betroffen fühlt, denkt rasch, er sei automatisch allwissend und im Recht. So beginnen aber auch viele Rechtsstreitigkeiten und die können so oder so ausgehen.

Es gelten die Regeln der Logik und die Macht der Fakten.
Dieser Punkt ergibt sich aus dem vorigen. In einer echten Debatte ist eine Meinung nur etwas wert, wenn man sie einigermaßen logisch begründen und mit Fakten untermauern kann. Wer nur emotionale Ressentiments à la „Das mag ich einfach nicht“ zu bieten hat, ist eigentlich kein Dialogpartner, denn er ist gar nicht an einer Debatte interessiert. Interessant sind solche Behauptungen nur dann, wenn sie am Ende eines Argumente-Austauschs stehen. Denn wer als Erster „das ist nun einmal so“ sagt, hat offiziell verloren.

Die oberste Tugend ist Toleranz – Humor schadet aber auch nicht.
Schon Aristoteles wusste: „Toleranz ist die letzte Tugend einer untergehenden Gesellschaft.“ Und auch wenn man darüber diskutieren kann, was der Philosoph damit eigentlich gemeint hat (und zwar eher das Gegenteil), lässt sich dieser Spruch doch auf moderne Debatten anwenden. Dass andere Dinge anders machen und bewerten als man selbst, ist eine wichtige Erkenntnis und sollte nicht automatisch den Blutdruck erhöhen. Und wenn die kruden Thesen der anderen einen doch so empören, hilft es immer, die Situation mit Humor zu sehen. Auch sich selbst und das Gegenüber nicht so wichtig nehmen, kann die Wut und Aggression aus der Debatte nehmen.

Der digitale Imperativ: Poste nichts, was du deinem Gegenüber nicht auch ins Gesicht sagen würdest.
„Virtuelle Ethik ist die imaginierte Präsenz des anderen“, sagt die deutsche Philosophin Ariadne von Schirach (siehe rechts). „Sie ist die Grundlage für Respekt und Sachlichkeit trotz Anonymität und fehlender persönlicher Haftbarkeit.“ Anders formuliert: Sagen Sie nichts, was Sie in einer Wohnzimmerrunde nicht auch sagen würden.

Morddrohungen und Gewaltaufrufe haben in einer Debatte nichts verloren.
Aufrufe zu Gewalt gegen andere oder sogar zur Tötung sind eine Angelegenheit des Strafrechts. Punkt.

Debatten brauchen einen Rahmen.
Die gute Nachricht lautet: In Krisenzeiten erlebt die Philosophie ein Comeback. In Wiener Wohnzimmern und Berliner Cafés trifft man sich seit geraumer Zeit wieder, um zu diskutieren – und zwar so „richtig“. Das erfordert allerdings Rahmenbedingungen: Zeit, Vorbereitung, einen Moderator. Diese altmodischen Zutaten würden auch die Onlinedebatte in Form bringen. Denn wer Diskussion nicht nur anreißen, sondern zu Ende führen will, muss sich auch anstrengen. Für Internetplattformen – auch die von Medien wie der „Presse“ – bedeutet das, dass sie sich um Moderation kümmern müssten. Und für die Teilnehmer, dass sie den Online-Austausch ernst nehmen. Sonst werden sie nicht ernst genommen.

Vier Experten fordern ein Umdenken in der Debattenkultur: 

1) Philosophin Charlotte Werndl

„Kritikfähigkeit ist wichtig“

„Die Frage oder das Problem muss wieder im Vordergrund stehen, nicht ideologische Faktoren oder das Recht-haben-Wollen. Nehmen wir die Debatte, ob kleine Kinder durch Kinderbetreuung positiv oder negativ beeinflusst werden. Hier sollte nicht auf Basis von gewissen Ideologien argumentiert werden, sondern man sollte sich fragen: Was zeigen empirische Untersuchungen? Welche Evidenzen gibt es? Ein weiterer wichtiger Faktor ist Kritikfähigkeit. In der Wissenschaft ist es normal, kritisiert zu werden, außerhalb oft nicht. Im Netz können Diskussionsregeln helfen, dass Debatten zivilisiert und fair bleiben.“ Eine gute Debatte zeichnet sich dadurch aus, dass man von ihr etwas lernt.

Die gebürtige Salzburgerin hatte zuletzt eine Professur in Oxford inne und kehrt im September an die Uni Salzburg zurück. 

2) Philosophin Ariadne von Schirach

„Am Ende sitzt ein verletzlicher anderer“

„Das Internet erschwert die emotionale Anteilnahme. Wenn ich maile, kommentiere oder chatte, nehme ich keine direkte körperliche Reaktion des Gegenübers wahr. Der Philosoph Emmanuel Levinas schreibt über das Antlitz des anderen als Anrufung. Der Blick eines Menschen hat eine ethische Wucht. Doch diese Anwesenheit des anderen, seine emotionalen Reaktionen wie Freude oder Scham oder Schmerz, sind im Netz nicht erfahrbar.

Eine mögliche Lösung? Sich trotz Geschwindigkeit, Anonymität und Verfügbarkeit der Kommunikation wieder klarzumachen, dass am anderen Ende ein verletzlicher anderer sitzt. Virtuelle Ethik ist die imaginierte Präsenz des anderen.“

Schirach (*1978) ist eine deutsche Philosophin, Cousine von Strafverteidiger Ferdinand von Schirach. Zuletzt erschien: „Du sollst nicht funktionieren“ 

3) Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen

„Den Menschen nicht verdammen“

„Das Grundproblem ist: Die technisch-mediale Evolution und der aktuelle Stand der Herzensbildung passen nicht zusammen; wir sind wie Pubertierende, die auf der Weltbühne des Internets einfach alles Mögliche ausprobieren – und fröhlich über die Stränge schlagen. Nötig ist ein besseres Gespür für die Nuance, Proportionalität und Verhältnismäßigkeit: Ja, wir sollen und müssen uns streiten, hart in der Sache, aber weniger unerbittlich im Ton. Ja, es braucht die scharfe Attacke und die investigative Recherche, aber die kindlich-naive Suche nach dem Heiligen sollte ein Ende haben. Das erste Gebot einer anderen Debattenkultur lautet: Den Fehler kritisieren, aber nicht den Menschen verdammen.“

Pörksen (*1969), ist Medienprofessor in Tübingen. Im September erscheint „Kommunikation als Lebenskunst“.

4) „The European“-Chefredakteur Alexander Görlach

„Eine gute Debatte kreist immer um Ideen“

„Eine gute Debatte kreist immer um Ideen, nie um Menschen. Menschen müssen dafür frei von den Zwängen sein, in denen sie sonst stecken: Parlamentarier debattieren am besten außerhalb des Parlaments. Eine Gesellschaft braucht Räume, in denen Menschen ungeschützt, abseits von Rollen, die sie im Berufsalltag spielen, miteinander diskutieren können“, sagt Alexander Görlach, der Chefredakteur des Debatenmagazins „The European“. „ Empörung ist häufig gespielte Entrüstung. Wer wirklich etwas bewegen will, der vergeudet keine Zeit mit Empörung, die in nichts mündet. Empörung ist kein Selbstzweck. Wenn sie echt ist, dann sucht sie sich ein Ziel.“

Görlach (*1976) leitet das deutsche Online-Debatten-magazin „The European“, das hie und da auch gedruckt erscheint.

(„Die Presse am Sonntag“, Print-Ausgabe, 24.08.2014)

Die Ururgroßväter von Meredith Grey

Spitalserie. Steven Soderberghs Serie „The Knick“ spielt in der gleichnamigen New Yorker Klinik im Jahr 1900. Da spritzen Ärzte zu Techno-Sound Kokain und öffnen mutig die Bauchdecken. So blutig und düster war kaum eine Arztserie davor.

Der Auftakt sitzt, und zwar gleich doppelt. Nur langsam wacht der Arzt Dr. John Thackery in einem Opiumsalon aus seinem Medikamentenrausch auf, sanft geweckt von den zierlichen Animierdamen. Unfrisiert, mit verrutschter Krawatte und Sonnenbrille raunt er dem Kutscher vor dem Bordell zu: „The Knick“, dort wolle er hin, und zwar über den längeren Weg durch Manhattan. Denn in der Kutsche hat er noch etwas zu erledigen, wie jeden Morgen muss er sich Kokain zwischen die Zehen spritzen. Nur so übersteht er den Arbeitstag im New Yorker Krankenhaus „The Knickerbocker“.

Dort erwartet man ihn schon im OP. In den Saal mit aufsteigenden Hörsaalreihen wird eine Schwangere geschoben, die die Herren in Weiß wimmernd bittet, ihr Kind zu retten. In 100 Sekunden und mit einem Schnitt wollen Thackery und seine Kollegen das Baby aus dem Bauch der Mutter geholt haben. Flasche um Flasche füllt sich mit Blut, das Kabel der Absaugpumpe verheddert sich, die Bauchdecke wölbt sich wie Wellblech – am Ende sind Kind und Mutter, man hat es kommen sehen, tot. Die Szene spielt im Jahr 1900, ein Kaiserschnitt war damals noch ein gefährlicher Eingriff. Und der Oberarzt sagt resigniert: „It seems we are still lacking.“ Oh ja, es fehlt – an Routine, Wissen und vielem mehr.

Skalpell auf gespannter Bauchdecke

Regisseur Steven Soderbergh weiß, was er seinen Zusehern da zumutet: „Wenn du die ersten sieben Minuten aushältst“, sagte er unlängst der „Süddeutschen Zeitung“, „dann hast du es geschafft. Wenn du damit ein Problem hast, dann solltest du besser nicht weitermachen.“ Zur Übersetzung für Serien kenner: Verglichen mit „The Knick“ waren „Emergency Room“ oder „Grey’s Anatomy“ lustige Ausflüge in den geschönten Krankenhausalltag. Hier sind die Ururgroßväter von Meredith Grey und Doug Ross an der Arbeit, und Soderbergh hat den Weichzeichner weggelassen. Die Serie spielt zu einer Zeit, in der die Medizin noch mehr Feld für Experimente war und OPs nach einem Eingriff an eine Schlachtbank erinnerten. Selbst abgebrühte Zuseher werden hier reflexartig die Hände vor das Gesicht halten müssen. Soderberghs Kameraführung ist erbarmungslos: Wenn das Skalpell die Bauchdecke durchschneidet, bleibt er drauf und drauf und drauf.

Untermalt wird die Szenerie im staubig-düsteren, vom Fortschritt vernebelten Manhattan mit rasant-kühler Elektromusik. Ein genialer Kniff. Das ist perfekte Serienkunst im Jahr 2014 – zu perfekt allerdings. Schnell hat man die Muster und Rollen dieser Geschichte durchschaut: Der Einzelgänger Dr. Thackery (mieselsüchtig gespielt von Clive Owen) ist nicht nur schwer kokainsüchtig, sondern auch übellaunig, cholerisch und rassistisch. Es gefällt ihm gar nicht, dass ihm der schwarze Arzt Algernon Edwards (vornehm: Andre Holland) zur Seite gestellt wird. Cornelia Robertson, die moderne und liberale Spitalchefin und Tochter des philanthropischen Krankenhaus-Stifters hält viel von Edwards, er ist der Sohn von der Köchin und dem Chauffeur ihrer Familie.

So geht es abseits der Blutgelage im Operationssaal um das Leben in der damaligen 3,5-Millionen-Metropole New York, die zu einem Drittel von europäischen Migranten bevölkert wurde. Diese armen New Yorker Neuankömmlinge werden im „Knick“ behandelt, wo die Ärzte eben auch mit neuen Therapie- und Operationsmethoden experimentieren. So bedienen sich manche Szenen in düsteren Armen-Wohnungen etwas billiger (und vorhersehbarer) Klischees. Wir haben verstanden: Frauen (hier vorzugsweise Krankenschwestern) und Schwarze haben nichts zu melden, alle Iren sind derb, und die Ärzte sind unantastbare Götter in Weiß.

Stoff für Montagmorgen im Büro

„The Knick“ ist ein weiteres reines TV-Projekt von Soderbergh. Vor zwei Jahren kündigte der Regisseur von Filmen wie „Erin Brokovich“ und „Sex, Lügen und Videos“ seinen Abschied aus dem Kinofilmsegment an. Nach dem TV-Biopic „Behind the Candelabra“ mit Michael Douglas und Matt Damon in den Hauptrollen und „The Knick“ arbeitet er schon an zwei weitere Serien („Red Oaks“, „The Girlfriend Experience“). Das Genre reizt ihn derzeit auch deswegen, weil sich das Fernsehen jenen Platz in der kulturellen Landschaft gesichert habe, der früher dem Film gehörte. „Niemand spricht mehr Montagmorgen über Filme in der Art wie derzeit über Fernsehen gesprochen wird.“ Gut möglich, dass jene, die am Montag über „The Knick“ sprechen, dabei angewidert das Gesicht verziehen.

„The Knick“. Läuft in den USA seit Freitag bei Cinemax und ist in Österreich ab heute, 9. 8. auf Sky Go abrufbar.

Blut und Eingeweide. Dr. Thackery (Clive Owen, dritter von links) führt das Regiment im OP-Saal. [ Credit: Home Office Box, Inc ]

Die Elternzeit als Einstiegsdroge für den Mann

Die Väterbeteiligung liegt in Deutschland bei 30, in Island bei unglaublichen 96 Prozent.

Die Elternzeit sei eine „geniale Erfindung“, schrieb Journalist Jakob Schrenk vergangenes Wochenende in der „Süddeutschen Zeitung“. „Sie dient als Einstiegsdroge. Männer fremdeln nicht mehr mit ihren Babys, wie das in den Jahrhunderten zuvor der Fall war.“ Jakob Schrenk hatte genug von dem ewigen Jammern über den modernen Mann, darum wollte er zur Abwechslung einmal die Männer loben.

Die Frauen wären immer noch so streng mit den Männern, dabei würden seine Freunde und Kollegen sicher nicht von einer Existenz als Alleinverdiener und wandelnder Kreditkarte träumen. „Stattdessen tragen sie die Babykotzeflecken auf dem Hemd so selbstverständlich wie eine Krawatte […] und brechen nachmittags um halb fünf Richtung Kindergarten auf.“ Man kann Schrenks Schilderungen als verklärte Sicht eines Kreativberuflers auf den Alltag in bundesdeutschen Großstädten abtun, oder aber man sieht anerkennend, dass die jüngste Neuregelung der Elternzeit in Deutschland etwas bewegt hat. Immerhin 30 Prozent aller Väter nehmen heute Elternzeit. Noch bis zum Jahr 2006 blieb laut Schrenk so gut wie kein Vater nach der Geburt seines Kindes zu Hause. Viel sei passiert seit dem Jahr 1985 und dem Kinofilm „Drei Männer und ein Baby“ – als es noch exotisch-absurd war, wenn Männer auf ihre Kinder aufpassten. In der Komödie „Mrs. Doubfire“ musste sich Familienvater Robin Williams nach der Scheidung sogar noch Frauenkleider anziehen, um mehr Zeit mit seinen Kindern zu verbringen.

Deutschland ist Österreich also eine Spur voraus, dabei sind die Kinderbetreuungsmodelle sehr ähnlich. Hierzulande gehen erst rund 17 Prozent aller Väter in Elternzeit (siehe oben). Als Musterschüler in Sachen Gleichberechtigung gelten nach wie vor die nordeuropäischen Länder. Ein besonders gutes Babybetreuungsmodell existiert in Island. Es folgt der Drei-plus-drei-plus-drei-Logik. Zuerst geht die Mutter drei Monate, dann der Vater, danach wieder die Mutter in Elternzeit. Die Väterbeteiligung liegt dort bei unfassbaren 96,3 Prozent (2009). Für Sonja Blum vom Institut für Familienforschung zeigt das: „Väter nehmen immer in Anspruch, was für sie exklusiv reserviert ist.“ Zudem wird die Karenz in Island gut bezahlt, der Einkommensersatz beträgt 80Prozent des Durchschnittseinkommens vor der Geburt (Obergrenze: 2180Euro/Monat). Derzeit wird in Island die Ausweitung des Models auf fünf plus fünf plus zwei (also zwölf Monate) bis 2016 diskutiert. Damit würden Frauen zwar insgesamt nur einen Monat länger zu Hause sein, der Mann aber zwei Monate mehr. Österreichs Familienpolitik kann sich bei Island noch einiges abschauen.

Fakten

In Island liegt die Väterbeteiligung innerhalb des ersten Lebensjahres des Kindes bei 96 Prozent.

In Deutschland gehen 30 Prozent aller Väter in Elternzeit. 

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 03.08.2014)

Vaterschaft – die Rolle meines Lebens

Christian Goriupp, Foto: Clemens Fabry

Väter in (langer) Elternzeit sind immer noch in der Minderheit. Doch langsam bewegt sich etwas bei der Väterkarenz: 17 Prozent von Österreichs Vätern beziehen derzeit Kinderbetreuungsgeld.

Christian Goriupp, Foto: Clemens Fabry
Christian Goriupp, Foto: Clemens Fabry

Leben und Tod lagen bei Christian Goriupp nah beieinander. Ein Jahr, nachdem seine Tochter Anna zur Welt kam, starb sein Vater, was seine Einstellung zur Vaterschaft entscheidend veränderte. 

Das Verhältnis zu seinem alten Herren, erzählt er, sei zwar gut gewesen, „zu gut vielleicht sogar“, dennoch fehlte ihm etwas. „Ich hatte dieses Bild von einem alten Cowboy im Kopf, der dem jungen Cowboy etwas weitergibt. Aber mein Vater hat mir nichts Greifbares mitgegeben“, erzählt er. In Karenz gehen und auf seine Tochter aufpassen, das wollte Goriupp schon vor ihrer Geburt, doch erst durch den Tod des eigenen Vaters begann sich der heute 35-Jährige intensiver mit seiner eigenen Rolle als Vater auseinanderzusetzen.

Weil sein Arbeitgeber, ein Versicherungskonzern, seinen Wunsch, vier Monate in Karenz zu gehen, nicht akzeptierte, verlor Goriupp seinen Job. Seine Tochter Anna betreute er dann weit über die gesetzliche Kinderbetreuungszeit hinaus, insgesamt eineinhalb Jahre. Bis heute sei er für seine Tochter Anna eine gleichwertige Bezugsperson wie seine Frau. „Ich hatte immer gleich viel Zeit für sie wie meine Frau.“ Erst bei den Freunden seiner Tochter habe er gemerkt, dass die Betreuungszeit in vielen Familien immer noch 80 zu 20 zwischen Mutter und Vater aufgeteilt ist. Und Goriupp erinnert sich noch, dass er damals in der Grazer Vorstadt als Vater in langer Karenz eine Rarität war. Ob beim Zwergerltreff oder im Babyschwimmen – er war so gut wie immer der einzige Mann.

Use-or-lose. Ganz allein wäre Goriupp am Spielplatz heute nicht mehr. Seit 2010 bewegt sich etwas bei der Babybetreuung von Vätern. Die Zahlen aus dem Februar 2014 besagen, dass zuletzt 17 Prozent aller Väter Kinderbetreuungsgeld bezogen haben. Die Einführung des einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeldes 2010 bringt langsam sichtbare Veränderungen. (Zur Erinnerung: Derzeit gibt es fünf Kinderbetreuungsmodelle, bei der sich die Eltern die Zeit aufteilen können: 30+6, 20+4, 15+3, 12+2 pauschal und 12+2 einkommensabhängig mit max. 2.000 Euro netto). Arbeitnehmer in Kreativberufen, etwa im Journalismus, oder im öffentlichen Dienst, gehen immer häufiger zwei Monate in Karenz. Für Sonja Blum vom Institut für Familienforschung zeigt sich: „Väter nehmen die Zeiten, die exklusiv für sie reserviert sind, stärker in Anspruch.“ Sich aber individuell eine längere Kinderbetreuungszeit zu nehmen, das würden immer noch sehr wenige. Sie plädiert wie viele Familien- und Väterexperten für die Einführung eines Use-it-or-lose-it-Modells. Wenn der Vater die für ihn gesetzlich vorgesehene Zeit nicht in Anspruch nimmt, verfällt das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld.

Auch für Christian Pecharda wäre es in seiner Position als Chef einer Abteilung im mittleren Management eher schwierig gewesen, sechs Monate oder länger in Karenz zu gehen. Dass er aber nach dem Karenzjahr seiner Frau zwei Monate auf seine Tochter Teresa aufpassen würde, stand für ihn schon früh fest. Er sei „fertig, aber glücklich“ nach den acht Wochen Karenz, postete er vergangenen Donnerstag am Ende seiner Väterzeit auf Facebook. Die Karenz hat ihn zwei Dinge gelehrt: Er habe bemerken müssen, dass es „offensichtlich noch immer nicht selbstverständlich ist, dass Väter in Karenz gehen“. In seinem privaten Umfeld kenne er nicht viele Männer, die es wie er gemacht haben. Anders sei das in seinem Arbeitsumfeld, wo vor ihm schon einige Männer zu Hause geblieben sind. In der Wiener Vorstadt war er im Sommer 2014 zwar deutlich seltener der einzige Mann unter vielen Frauen am Spielplatz als Goriupp in Graz vor vier Jahren, dennoch bekam er vereinzelt ungläubige Fragen zu hören, wie „Wie machst du das mit dem Kochen?“ oder „Du wickelst?“.

Erkenntnis zwei: Abgesehen davon, dass Pecharda die Zeit mit seiner Tochter genossen und vom vielen Nachkrabbeln zwei Kilo abgenommen hat, hat er heute noch weniger Verständnis für Väter, die behaupten, eine Karenz ginge sich finanziell oder aus Karrieregründen nicht aus. Wenn beide Seiten wollen – also Arbeitgeber und Mann – dann funktioniere das. „Dass nicht jeder sechs Monate gehen kann, ist verständlich, aber bei zwei Monaten geht es nicht um können, sondern um wollen.“

Auch für die Partnerschaft bringe die Väterkarenz Vorteile: „Es tut beiden gut, die andere Seite kennenzulernen. Mir ist aufgefallen, dass in den vergangenen zwölf Monaten die wirkliche Arbeit die Karenz war, weil sie sieben Tage die Woche rund um die Uhr dauert.“ Umgekehrt sei seiner Frau bewusst geworden, wie sehr dem arbeitenden Teil die Zeit mit dem Kind fehlt.

Blinder Fleck Vaterschaft. Für Christian Goriupp begann mit seiner Karenzzeit ein völlig neuer Lebensabschnitt. Auf der Suche nach Studien zum Thema entdeckte er, „dass die Vaterschaft immer noch ein blinder Fleck ist“. Daher begann er selbst im Grazer Kindercafé Workshops für junge Väter anzubieten. „Die zu Beginn gar nicht angenommen wurden.“ Schließlich kam ihm die Idee, einen Dokumentarfilm zu machen, der nun im Oktober in die Kinos kommt. Für „Die Rolle meines Lebens“ begleitete er einen Vater schon während der Schwangerschaft seiner Frau bis über die Geburt hinaus. In Gesprächen mit einer Hebamme, einem Sozialarbeiter, einem Tagesvater, dem Theologen Paul Zulehner, dem Grazer Landesrat Michael Schickhofer und dem Väterforscher Harald Werneck wird diese filmische Studie zur Vaterschaft abgerundet. Ganz bewusst ließ Goriupp seine eigene Geschichte nicht in den Film einfließen. Was ihm ein besonderes Anliegen ist: Unternehmen darüber aufzuklären, wie sehr sie davon profitieren, wenn Männer in Karenz gehen. „Es hat sich noch nicht weit verbreitet, dass danach frischere Männer mit neuen Eindrücken zurückkehren.“

Papamonat wäre wichtig. Was rund um die Väterkarenz-Frage auch gern vergessen wird, ist die Zeit direkt nach der Geburt. Goriupp und Pecharda plädieren beide für die Einführung des Papamonats. Im öffentlichen Dienst wurde der zwar 2011 eingeführt (bis Ende 2013 haben ihn 13 Prozent aller Väter in Anspruch genommen), doch auf eine flächendeckende Einführung auch in der Privatwirtschaft konnte sich die Bundesregierung bisher noch nicht einigen. „Gerade im ersten Lebensmonat ist es wichtig, dass du zu Hause bist. Allein schon zur Unterstützung der Frau, zum Einkaufen gehen und für die Behördengänge. Aber auch, um beim Kind zu sein und mitzubekommen, wie alles geht, wie das mit dem Stillen funktioniert“, sagt Pecharda. Bestärkt werden die beiden Väter durch eine aktuelle EU-weite Studie im Auftrag der EU-Kommission. Demnach gibt es in ganz Europa ein steigendes Interesse der Männer an Gleichstellung und damit auch an der Kindererziehung. Daher wird derzeit überlegt, einen sogenannten Vaterschutz – nach dem Vorbild des Mutterschutzes – einzuführen. Männern soll dabei verboten werden, direkt nach der Geburt ihres Kindes zu arbeiten. Ein Modell, das in Portugal bereits existiert: Väter müssen innerhalb des ersten Monats nach der Geburt ihres Kindes zehn Tage – und können 20 Tage – zu Hause bleiben.

Auch in Literatur und Forschung wird der Blick immer häufiger auf die Väter gelenkt. Autoren wie der Familientherapeut Jesper Juul haben das populärwissenschaftliche Feld mit Büchern wie „Mann und Vater sein“ geebnet. Ein Wiener Forscherteam analysiert zudem seit Kurzem die Vaterschaft. Psychologin Lieselotte Ahnert vom Institut für Angewandte Psychologie an der Uni Wien leitet seit 2013 mit dem neu gegründeten Central European Network on Fatherhood eine groß angelegte Studie. Die Zeit sei reif dafür, weil die modernen Väter sich in einer Aufbruchstimmung befinden würden, sagt sie. „Doch auf wissenschaftlicher Ebene wissen wir fast nichts über Möglichkeiten und Effekte dieses Aufbruchs.“ Bis Februar 2016 will man mit Hilfe von 3700 Männern mehr über die Motive und Ziele der Väter im Zusammenleben mit ihren Kindern herausfinden. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass sich bis dahin die Zahl der Vaterkarenzgeher noch mal erhöht.

Mehr zum Film: www.dierollemeineslebens.at

(„Die Presse am Sonntag“, Print-Ausgabe, 03.08.2014)