American Times: Sechs Wochen in „Greater New York“

Episode 1. Wie der Times Square zu seinem Namen und ich zum Wall Street Journal kam und weshalb ich Rupert Murdoch für ein Mittagessen danken muss.

Seit fast drei Wochen bin ich nun in New York stationiert und darf den Newsroom des „Wall Street Journal“ meinen temporären Arbeitsplatz nennen. Well, der Newsroom ist dort mehr als ein „Room“. Er erstreckt sich nämlich über vier Stockwerke. In den Floors 4 bis 7 des ziemlich schmucklosen Wolkenkratzers auf Nummer 1211 Avenue of the Americans (oder einfacher: der 6th Avenue), in dem die News Corporation ihren Sitz hat, ist die Redaktion der 1889 gegründeten Zeitung untergebracht, die Stockwerke sind über Stiegenaufgänge miteinander verbunden. Hier sitzt der Großteil der insgesamt 1700 Journalisten, die für das „Journal“ (gesprochen: „dschörnal“) arbeiten, wie es die New Yorker salopp nennen.

Meinen sechswöchigen Arbeitsaufenthalt verbringe ich zur Hälfte in der sogenannten „Arena Section“, der täglichen Beilage, die Themen rund um Gesundheit, Wissenschaft und Kultur abdeckt. Den zweiten Teil werde ich im Ressort „Greater New York“ arbeiten. Das ist eines der jüngsten Ressorts des Blattes, gegründet 2010, um das Journal noch stärker vom Special-Interest-Blatt für Wirtschaft und Finanzen zu einer klassischen Tageszeitung zu machen, die eben – wie die größte Konkurrenz, die „New York Times“ –  auch das Stadtleben in New York abdeckt. Apropos, zwei Dinge zum Namen der Zeitung noch: Ganz korrekt schreibt man das „Wall Street Journal“ mit einem Punkt am Ende des Namens, der gehört nämlich zur Marke dazu. Fällt niemandem auf, so wird es aber auf jeder Titelseite und auch in der Onlineversion immer geschrieben. Und wer sich wundert, dass das Journal nicht, wie der Name sagt, an der Wall Street residiert, dem sei gesagt: Bis vor wenigen Jahren war das Blatt tatsächlich dort beheimatet.

It’s on Rupert, darling! 

Seit der australische Medienmogul Rupert Murdoch und seine News Corp 2007 die Mehrheitsanteile am Journal und dem Mutterkonzern Dow Jones um fünf Milliarden Dollar übernommen haben, hat sich das Blatt stark verändert. Allerdings anders, als Kritiker und Mitarbeiter erwartet oder gefürchtet hatten. Die auflagenstärkste Zeitung der USA (rund zwei Millionen Stück täglich) ist mittlerweile vor allem für New Yorker zu einer wichtigen Stadtzeitung, für manche Erst- oder Zweitlesequelle geworden. Es ist schwer begfreibar, dass in ein und demselben Konzern, die boulvardeske, teils hetzerische Zeitung „New York Post“ und ein konservatives Qualitätsblatt wie das Journal erscheinen können. (Andererseits bei Springer geht das mit „Bild“ und „Welt“ ja auch.) Als nun Papst Franziskus zu Besuch in New York war, widmete die Post diesem Ereignis nicht nur sehr viele Seiten mit sehr viel gschmackigen Reportagen, sondern benannte sich auch gleich in „New York Pope“ um. Im Redaktionsalltag des Journal spielen Murdoch und seine Skandale aus der Vergangenheit (2011 wurde die britische „News of the World“ nach einem Abhörskandal eingestellt) kaum eine Rolle. Sagen die Kollegen zumindest. Geredet wird jedenfalls nicht darüber. Nur als mich eine Kollegin aus dem Greater New York-Ressort an meinem ersten Tag auf ein Mittagessen im nahen Theater District einlud und ich mich vielleicht etwas zu überschwänglich bedankt habe, erwiderte sie trocken: „No worries, it’s on Rupert, darling.“

Ich bin nicht zum ersten Mal in der Stadt. Ein Familienbesuch hat mich schon als Fünfjährige an der Hand meiner Eltern hierher geführt, wobei meine Erinnerungen daran sehr blass sind. Zum ersten Mal länger hier war ich im Rahmen eines Austauschprogramms mit einer Schulklasse der Abraham Lincoln High School in Brooklyn. Meine prägendste Erinnerung daran ist der bullige Klassenkollege in stilechten Baggypants, der meinte, einer seiner Cousins sei RZA (oder war es GZA?) vom WU-Tang Clan. Ich hab das freilich nie geprüft, aber als glühende Rap-Anhängerin hat mich das damals sehr beeindruckt. Erstaunlicherweise kam ich trotzdem erst 13 Jahre später wieder und staunte, wie sehr sich die Stadt verändert hat. Und selbst in den vergangenen vier Jahren seit meinem letzten Besuch hat sich wieder viel bewegt. Es gibt jetzt Citybikes! In New York! Das U-Bahn-Fahren hat sich verbessert, sieht man von den schweißtreibenden Sauna-Temperaturen in manchen U-Bahn-Stationen ab. Es gibt weniger Wartezeiten, kostenloses W-Lan in vielen Stationen (zumindest in Manhattan) und selten unerträglich überfüllte Züge – nur eiswürfelkalt, das sind sie wirklich immer. Und ja, ein außergewöhnlich guter Tag in New York beginnt immer noch mit einem Sitzplatz in der U-Bahn oder zumindest mit einem Platz an einer Haltestange.

Zum Reisen gehört für mich vor allem eines: Magazine und Zeitungen kaufen – mit sehr guten, rudimentären, aber auch mit gar keinen Sprachkenntnissen. Seit der Digitalisierung der Medien und weltweit abrufbarer Abos auf Tablets und Smartphones hat das zwar ein bisschen seinen Reiz verloren. Den „New Yorker“ oder das „New York Magazine“ lese ich aber noch immer lieber auf Papier. Umso mehr fällt mir auf, wie sehr die Zeitungen aus dem Stadtbild verschwunden sind. Gratisblätter spielen in New York faktisch keine Rolle mehr, zumindest sieht man sie nicht. Und die „Newsstands“, also die Zeitungskiose, sehen irgendwie anders aus. Sie sind nicht nur viel weniger geworden, auch die Ware, die ihnen den Namen gab, macht meist nur mehr einen sehr kleinen Teil ihres Sortiments aus. Der Newsstand ist nicht mehr dazu da, Zeitungen und Magazine zu verkaufen, sondern Getränke, Snacks und Lottoscheine. Der moderne Newsstand, das sind die sozialen Netzwerke und Newsletter, in denen Medien ihre neuesten Geschichten anpreisen.

Wie der Times Square zu seinem Namen kam

New York, das ist längst so viel mehr als Central Park, Rockefeller Center und Empire State Buildung. Es soll Besucher geben, die die klassischen touristischen Attraktionen völlig auslassen und sich stattdessen nur in den Boutiquen und Cafés der gentrifizierten Stadtteile Manhattans, wie dem Meatpacking District oder Brooklyns, wie Williamsburg und Greenpoint aufhalten. Gegen diese blitzblank herausgeputzten Gässchen mit ihren Hochglanzvitrinen und ihren Filter-Kaffee-Tempeln wirkt ein Besuch am Times Square wie eine Zeitreise in die bodenständigen 90iger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Flagshipsstores, Restaurants (etwa der Bubba-Gump-Shrimp-Laden, richtig, der aus „Forrest Gump“) und Theater haben sich kaum verändert, nur die verkehrsberuhigten Fußgängerzonen und die schon erwähnten Citybike-Stationen zeigen, dass sich doch ein bisschen etwas getan hat. Trotzdem ist der Times Square laut diverser schlauer Statistiken immer noch die meist besuchte globale Touristenattraktion. An zweiter Stelle kommt angeblich der Central Park.

Erst dieser Tage wurde mir also bewusst: Die größte Touristenattraktion der Welt ist nach einer Zeitung benannt. Den Platz gab es freilich lange davor, aber als Verleger Adolph S. Ochs das Hauptquartier seiner „New York Times“ 1904 hier ansiedelte, erhielt der Ort, der damals unaussprechlich „Longacre Square“ hieß, seinen heutigen Namen. Die Übersiedelung hatte übrigens einen einfachen Grund: Ochs sah Manhattans erste U-Bahn als Chance, die Times erhielt sogar ihre eigene U-Bahn-Station, um die Zeitungen frisch gedruckt in der Stadt zu verteilen und so schneller als die Konkurrenz an die Leser zu bringen. Auch die bis heute gültige Tradition, den Jahreswechsel an diesem Platz zu feiern, geht auf die „Times“ zurück: Um die Übersiedlung zu feiern, schmiss die Zeitung eine Silvesterparty auf dem Dach ihres Büros und 200.000 Menschen kamen, um auf der Straße das große Feuerwerk zu bestaunen. Der glitzernde Zeitball, der jedes Jahr den genauen Jahreswechsel anzeigt, kam dann 1908 zum ersten Mal zum Einsatz.

Die Newsstands der Stadt mögen weniger werden, aber der wichtigste Platz in dieser Metropole heißt noch immer nach einer Zeitung. Schön irgendwie.

Lesetipps:

>> New York: Wer mal etwas anderes als immer nur Lonely Planet oder den DuMont Kunstreiseführer lesen will, dem sei beim nächsten NY-Besuch dieses schlaue Büchlein ans Herz gelegt: „I Never Knew That About New York“ von Christopher Winn (2013). Nachteil: es geht nur um Manhatten, Brooklyn, Bronx und Staten Island werden nicht erwähnt.

>> „The Heirs“ von Gabriel Sherman, New York Magazine, 23. August 2015: Sehr ausführliche Analyse, welcher Erbe aus den Familien Ochs und Sulzberger neuer Herausgeber der „New York Times“ werden könnte?

>> TV-Tipp für alle Medien-Interessierten: „Page One“, die filmische Innenansicht in die krisengebeutelte „New York Times“ im Jahr 2011.

 

Compliance-Hinweis: Meinen Aufenthalt in den USA ermöglicht das US-Austrian Journalism Exchange Fellowship 2015. Organisiert und finanziert wird das seit bald zehn Jahren vom Kuratorium für Journalismus in Österreich und dem International Center for Journalists in Washington, D.C. Das Stipendium erlaubt mir und drei Kollegen, nach einer einwöchigen Orientierungswoche in Washington und New York, sechs Wochen bei einem US-amerikanischen oder österreichischen Medium zu arbeiten. Während ich im „Wall Street Journal“ staune und lerne, werkt Thomas Trescher vom Monatsmagazin „Datum“ bei der Wochenzeitung „Austin Chronicle“ und Nina Hochrainer von FM4 beim Radiosender KUT, beide in Austin, Texas. Unser amerikanisches Gegenüber, die Journalistin Nikki Raz ist in der Zwischenzeit bei der NZZ.at in Wien.

Phänomedial: Es fehlt der frische Wind auf Highclere Castle

Sechs Gründe, warum uns die fünfte Staffel von „Downton Abbey“ enttäuscht hat – und die eine Sache, die uns am Ende doch noch vertröstet zurückließ.

Ein bisschen viel hatte Julian Fellows, der Drehbuchautor und Regisseur der Adels-Serie „Downton Abbey“ für die fünfte Staffel versprochen. Den Butler Carson ließ er in der ersten Folge sagen: „I feel a shaking of the ground I stand on“ – und wir hatten uns schon gefreut, dass da ein bisschen frische Luft in die seit Staffel drei träge gewordene Serie und in die alten Gemäuer von Highclere Castle kommen würde. Upstairs wie Downstairs.

Nach der Weihnachtsfolge, die der britische Privatsender ITV seit 2010 traditionell am Christtag ausstrahlt, müssen wir aber sagen: Staffel fünf und vor allem die Christmas-Episode haben ziemlich enttäuscht. Die für Herbst 2015 angekündigte Staffel sechs muss da schon gehörig aufdrehen, damit wir selbiges wieder tun. Hier sind sechs Gründe, warum „Downton Abbey“ langweilig wird – und die eine Sache, die uns am Ende doch noch vertröstet hat.

1. Politik ist – immer noch – ein Nebenschauplatz

Wir kennen nun wirklich jede noch so kleine Eigenschaft und (fast) alle Geheimnisse der Bewohner von Downton Abbey sowie der Dienstboten unter der Treppe. Für ein paar ernste Themen zwischendurch oder Politik – wie in Staffel eins und zwei rund um den Ausbruch des Ersten Weltkriegs – wäre also Sendeplatz genug. Nein, wir wollen kein „House of Cards“ aus der Serie machen, wir wissen schon, dass es in den Adelskreisen nur selten um Politik oder die Probleme der Gesellschaft ging und eher um Dinnerparties und Heiratspläne, aber kaum ein Wort zu politischen oder gesellschaftlichen Umschwüngen außer in der eingangs erwähnten Folge eins? Das finden wir dann doch ein wenig realitätsfremd. Schließlich befinden wir uns im Jahr 1924, aber abgesehen von den zarten Hinweisen auf das Erstarken der Sozialisten und der Wahl des ersten sozialistischen Premierministers Großbritanniens wird nicht viel politisiert.

2. Der Kriminalfall rund um Anna und John Bates ist noch immer nicht gelöst

Zuerst war es er, nun wird plötzlich die stets so brave Anna des Mordes an Alex Green, dem Kammerdiener von Lord Gillingham, verdächtigt. Und sie muss sogar für kurze Zeit hinter Gitter. Unsere Nerven aber liegen bei diesem Paar schon etwas blank, so viel Steine wie ihnen in den Weg gelegt werden. Nach dem Krimi um Bates Ex-Frau in den ersten beiden Staffeln haben wir nun wirklich genug von Alibis, Gefängnissen und Polizeiverhören. Die Kriminalfalldichte hätte der Regisseur etwas gerechter unter den Protagonisten aufteilen können.

3. Tom Branson ist immer noch da

Wir haben aufgehört zu zählen. Folge um Folge, Staffel um Staffel kündigte Tom Branson (gespielt von Allen Leech) seinen Abgang an. Als ehemaliger Chaffeur, der seit der Hochzeit mit der jüngsten Crawley-Tochter Sybil (die bei der Geburt des gemeinsamen Kindes in Staffel drei starb) „upstairs“ lebt, fühlt er sich immer noch nicht als vollwertiges Mitglied der Crawley-Familie. Also will er mit Tochter Sybbie ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten, nach Amerika, auswandern. Am Ende der jüngsten Staffel macht er immer mehr Ernst damit. Wir glaubens erst, wenn er wirklich weg ist – und geben zu: er wird nicht nur Lord Grantham als umsichtigem Liegenschaftsverwalter fehlen. Im realen Leben ist er übrigens bestens befreundet mit Rob James-Collier, dem Darsteller des in der Serie so fies-grantigen Dieners Thomas Barrow. Schade fanden wir übrigens auch, dass Toms zarte Liebe zur Dorflehrerin Sarah Bunting auch auf Druck von Lord Grantham schon wieder aus war bevor sie überhaupt beginnen konnte. Einmal Chauffeur-Schlossbewohner-und-zurück. Das wärs doch gewesen. Oder kommt da noch was?

4. Lady Mary ist noch immer allein

Liebe wird überbewertet. So denkt nicht nur die Pointen-schleudernde Großmutter Dowager Countess of Grantham, grandios gespielt von Maggie Smith. Auch Lady Mary (Michelle Dockery) hat nach dem plötzlichen Tod von Ehemann Matthew (Dan Stevens) am Ende der dritten Staffel noch immer keinen passenden Nachfolger gefunden. Aus dem Duell zwischen den ebenso smarten wie hübschen Herren Lord Gillingham und Charles Blake stieg am Ende keiner der beiden als Sieger aus. Dabei hat sich Lady Mary sehr modern mit einem der beiden auf außerehelichen Sex eingelassen – was damals vermutlich gar nicht unüblich war, aber im britischen Aristokratie herrschte eben (wie in allen anderen Klassen noch mehr) immer die Gefahr, dass so ein Techtelmechtel auffliegt und der Ruf so richtig ruiniert wäre. Erst in der Weihnachtsfolge taucht zaghaft ein neuer Mann auf Marys Bildfläche auf. Wir vermuten: in Staffel sechs wird wieder geheiratet. Aber wieso dauert das so lange? Romantik mag überbewertet sein, aber sie ist das Salz dieser in die Jahre gekommenen Serie. Also, bitte wieder mehr davon.

5. Lord Grantham wird alt

Ein bisschen wunderlich und rückschrittlich war Pater famillias Lord Grantham (gespielt von Hugh Bonneville) eigentlich von Anfang an. Aber in den letzten beiden Staffeln wurde er noch konservativer und ja, alt. Zuletzt plagte ihn ein Magengeschwür, die harmlose Flirterei seiner Frau Cora mit dem kunstversierten Simon Bricker (gesoielt von Richard E. Grant) vertrug er gar nicht. Würde er sich nicht immer wieder von den Töchtern, seiner Frau oder seiner Mutter seine vorgefertigten Meinungen zu bestimmten Dingen ausreden lassen, wir hätten ihn längst zum Dolm der Serie ernannt. In Staffel fünf überrascht er allerdings im Umgang mit seiner bisher so stiefmütterlich behandelten Tochter Lady Edith und dem Kind, das sie adoptiert – und beweist: dieser Mann hat doch ein bisschen Gespür für Zwischentöne.

6. Sorry, Brits, aber die Amerikaner fehlten

In Staffel fünf kam kein einziger Besuch aus Übersee. Nicht der faule Bruder von Cora (Paul Giamatti), geschweige denn die Mutter Martha Levinson, grandios gespielt von Shirley MacLaine. Es gab überhaupt keinen Besuch und keinen Special Guest. Dabei hieß es irgendwann im Herbst, George Clooney würde in der Weihnachtsfolge einen amerikanischen Gast spielen. Das tat er dann aber nur in einem kleinen Sketch, den das Team für karitative Zwecke drehte. Uns fehlten die zänkischen Dialoge zwischen der britischen Dowager Countess und der amerikanischen Lady, die sich aufgrund ihrer Kulturunterschiede so gar nicht mögen.

– und die eine Sache, die uns am Ende doch noch schmunzeln ließ und mit Plot und Cast der lauwarmen Staffel fünf vertröstet hat: die soll hier, weil doch ohnehin schon so viel gespoilert wurde, nicht komplett verraten werden, weil sie erst so spät (als vorhersehbarer Cliffhanger für die nächste Staffel) am Ende der Weihnachtsfolge passiert. Nur so viel: manchmal braucht die Liebe sehr sehr lange bis sie sich entfalten kann. Vor allem unter der Treppe.

Soziale Netzwerke haben kein Taktgefühl

Eigentlich wollte ich über das Prokrastinieren schreiben, damit kenne ich mich schließlich aus. Und zum Beispiel darüber, welche Ratschläge dieses eine Online-Magazin den sogenannten „heavy procrastinators“ unlängst gegeben hat, damit die 2015 endlich! wirklich! ein für alle Mal! Schluss mit der Aufschieberitis machen. Doch dann fiel mir auf, dass ich damit zugeben würde, meinen Vorsatz aus dem letzten Blogeintrag („Nicht mehr auf die billigen Ratschlag-Fallen im Netz hereinfallen“) noch nicht einmal ansatzweise umgesetzt zu haben und außerdem gibt es immer wichtigere Dinge, als über das Prokrastinieren zu sinnieren.

Facebook zum Beispiel hat während des vergangenen Weihnachtsfestes wieder einmal ungefragt Daten und Fotos seiner Millionen Kunden zu kleinen „Year in Review“-Kollagen gemacht. Und massenweise drückten die Kunden nach der Durchsicht „ihres Jahres“ auf „Teilen“ und überschwemmten die Timelines ihrer Freunde mit ihrem persönlichen Jahresrückblick, die meisten ohne wenigstens die standardisierte Zeile „Es war ein großartiges Jahr. Danke, dass Du ein Teil davon warst“ zu löschen. Noch bevor der erste Satiriker darauf reagieren konnte, entschuldigte sich Facebook in den USA für die kleinen Pannen, die so ein selbstloser Kundendienst auslösen kann, wenn man den Algorithmus nur machen lässt.

Im Jahresrückblick eines amerikanischen Webdesigners fand sich nämlich nicht nur ein Foto seiner im vergangenen Jahr verstorbenen Tochter, es war vor allem das Titelbild. Nun war die Tochter und ihr Verlust mit Sicherheit prägender Teil seines vergangenen Jahres, dennoch zeigt die Geschichte, dass soziale Netzwerke oder Suchmaschinen eben kein Taktgefühl haben. Autonome Internetnutzer wissen das, sie veröffentlichen vermutlich auch keine heiklen oder sehr berührenden Fotos auf Facebook – und wenn doch, drücken sie nicht auf den „Teilen“-Knopf beim Jahresrückblick, auch wenn ihnen das soziale Netzwerk das täglich fünf Mal anbietet. Und allen anderen kann man auch nicht vorwerfen, sich in einem Selbstdarstellungsmedium des neuesten Selbstdarstellungswerkzeugs zu bedienen.

Interessant ist vielmehr, dass sich der Social-Media-Riese so rasch für die Unsensibilität entschuldigt hat, die sein ungesteuerter Algorithmus ausgelöst hat. Der österreichische Jurist Max Schrems, der seit Jahren gegen Datenschutzvergehen des Netzwerks vorgeht, hat so weit bekannt bisher noch keine Entschuldigung geschweige denn ein Einlenken in den wichtigen beanstandeten Punkten bekommen. In diesem Fall aber entschuldigte sich ein Produktmanager der Firma gegenüber der „Washington Post“. Die App, die diese Rückblicke generiert hat, sei für viele Menschen perfekt, aber in diesem einen Fall habe sie dem Nutzer mehr Trauer als Freude gebracht. Vielleicht ahnt Facebook, dass sich in den kommenden Tagen, wenn immer mehr Kunden ihren Jahresrückblick veröffentlichen, auch diese Pannen häufen werden und hat einfach Angst vor einem Shitstorm zwischen den Jahren? Oder das Unternehmen weiß, dass es das fehlende Taktgefühl seiner Algorithmen nur mit betonter Höflichkeit und Sensibilität wett machen kann.

Die verpatzte Schluss-Wette: ein Adieu mit drei Fragen

EinmLogo_fisch+fleisch_RGBal noch „Wetten, dass..?“. Bevor die Show ab übermorgen von allen Kanälen verschwindet. Nicht einmal in den Jahresrückblicken wird sie eine Rolle spielen. Denn Dezember-Ereignisse werden dort gern ausgelassen, weil sogar TV-Show-Regisseure einsehen, dass man sich nicht an etwas erinnern muss, was gerade erst passiert ist. Niemand will weiter auf den einhauen, der ohnehin schon erledigt in der Ecke liegt. Aber drei kleine Fragen musss man nach finalen Show am vergangenen Samstag doch noch stellen dürfen:

Waren die Tränen von Markus Lanz echt?
Er soll zum Schluss sogar Tränen in den Augen gehabt haben. Das stand in so gut wie jeder Show-Kritik und in so manchem Liveticker. Ich selbst, das geb ich zu, war zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr live dabei, kann mich also nur auf die Überlieferungen der anderen verlassen, wenn es um die Tränen von Markus Lanz geht. Fraglich ist also, wieso jemand so nah am Wasser gebaut ist, der weniger als drei von knapp 34 Show-Jahren gestaltet hat? Noch dazu, wenn nicht einmal Publikum und Gäste wehmütig wurden. Im Gegenteil, so gut wie jeder Gast (außer der Hunde-Leck-Wetten-Paul) schien sich in seinem Unwohlsein mit dem Satz zu trösten: „Gut, ist ja bald vorbei“. War es auch bei Lanz die Erleichterung, die ihn zum Weinen brachte? Der Kummer, dass er diesen Showtanker letzlich einfach nicht steuern konnte? Oder die Erkenntnis, dass sein Spitzengage ab 2015 ausbleiben wird? So traurig muss er gar nicht sein, bleibt er dem ZDF doch erhalten. Wie bisher wird er weiterhin drei Mal pro Woche den Spätabend mit seiner Talkshow füllen. Was uns zur nächsten Frage führt:

Wieso hat sich Lanz nicht auf das wichtigste Gespräch der Sendung vorbereitet?
Bis Samstagabend galt: Markus Lanz kann kleine Talkshow. Kann Gespräch. Aber kann nicht stadiongroße Hallen bespielen. Kann nicht witzig sein. Ausgerechnet bei der Schluss-Wettshow am Samstag zeigte er, dass er auch eklatante Schwächen im ernsten Gespräch hat. Zumindest hätte man sich erwarten dürfen, dass der Moderator ein respektvolles Gespräch mit Samuel Koch hinbekommt. Der junge Mann ist seit dem Unfall bei seiner Wette (mit Springschuhen über ein fahrendes Auto hüpfen) im Dezember 2010 gelähmt und hat nur eine Rolle in Til Schweigers jüngstem Film. Der im Rollstuhl sitzende Samuel Koch aber war gelassener als der Moderator und selbstironisch. Er spielte etwa darauf an, dass er sich bei seinem letzten Besuch nicht von den Leuten hinter den Kameras und den Kulissen verabschieden konnte: „Ich bin da ja irgendwie frühzeitig gegangen, da hatte ich einen steifen Hals an dem Abend.“ Doch Lanz, der den jungen Mann schon ungelenk begrüßte und seine Fragen äußerst kompliziert formulierte, wusste nicht, mit diesem Humor umzugehen – und versprach sich dann auch noch: „Und du hast offensichtlich nicht nur deinen Humor verloren.“ Die deutschen Medien schlachten diese Peinlichkeit nun genüsslich aus und bringen Gesprächsprotokolle. Die Wett-Show hat sich Lanz auch wegen dieses Gesprächs so richtig verpatzt.

Was ist lost mit Thomas Gottschalk?
Damit hat nun wirklich jeder gerechnet, selbst jene, die behaupten, die Show „nur ein oder zwei Mal“ oder „nie“ in ihrem Leben gesehen zu haben: Am Ende hätte der blondgelockte Thomas Gottschalk noch einmal einen seiner Karo- oder Samt- oder Lackanzüge (oder alle drei hintereinander) ausführen und ein paar Blödeleien ablassen sollen. Aber nein. Gottschalk fehlte ebenso wie Ur-Wetten,dass-Vater Frank Elstner. Eigentlich hätte man sich gedacht, dass sich Gottschalk einen Überraschungsbesuch nicht nehmen lassen würde, immerhin hat er die Show mehr als die Hälfte ihrer Lebenszeit moderiert. Aber offenbar sind da seit seinem Abgang Ende 2011 tiefere Gräben zwischen ihm und dem Sender ZDF entstanden oder er ist enttäuscht, dass sein Sendungs-Baby unter Lanz zu Ende ging. Wir wissen es nicht. Aber eine Show, noch dazu eine, bei der sich alles ums Erinnern und Rückschau halten drehte, ohne die beiden bekanntesten Gastgeber, wirkt wie eine Jubiläumsfeier ohne Jubilar. Die letzte Show jedenfalls hat gezeigt, dass die Sendung niemandem abgehen wird.

Sagen, was ist

ZweiLogo_fisch+fleisch_RGB Texte sind mir in den vergangenen Tagen aufgefallen. Beide waren von Journalisten, die ganz offen und ohne Umschweife Vorgänge in ihrem eigenen Medium ansprechen. Einmal mit spürbar viel Wut im Bauch, einmal mit so viel professioneller Distanz, als würde es sich um ein fremdes Unternehmen handeln. Cordt Schnibben, Reporter beim „Spiegel“, ist jener Mann mit der Wut im Bauch. Ihm ist am Donnerstagabend der Kragen geplatzt und er hat anlässlich des (lange angekündigten) Abgangs von „Spiegel“-Chefredakteur Wolfgang Büchner ein paar Dinge gerade rücken wollen. Er sei nun wieder „optimistisch und ein glücklicher, freier Mensch, der wieder gern zur Arbeit fährt“, schrieb er, und weiter: „Büchner war leider der falsche Mann zum richtigen Zeitpunkt am falschen Ort“. Interessanterweise hat sich Schnibben ebenso viel Lob wie harte Kritik für diesen Text eingefangen. Vor allem beim Konkurrenten Axel Springer – die „Bild am Sonntag“-Chefin etwa tobte – fand man diese klaren Worte über einen Chefredakteur, der ohnehin schon geschlagen vom Schlachtfeld zieht, alles andere als vornehm.

Schnibben kann vermutlich auch deshalb Kritik am jüngsten „System Spiegel“ üben, weil er als erfahrener Printredakteur in jüngster Zeit bewiesen hat, dass er umdenkt und Geschichten wie die über seinen Nazi-Vater und das Ende der DDR auch multimedial aufbereitet hat. Dennoch hat er die Kritik an seinem Arbeitgeber nicht im eigenen Medium, sondern auf seiner privaten Facebook-Seite geäußert. Angst vor einem Rauswurf braucht er sich vermutlich so und so nicht zu machen.

Noch ein bisschen mehr beeindruckt hat mich ein Text von David Carr. Der Medienredakteur der „New York Times“ schafft es wie kein Zweiter in der Branche, schonungslos offen und tatsächlich völlig unpeinlich über die Vorgänge im eigenen Haus zu schreiben. Schon beim Abgang von Chefredakteurin Jill Abramson im Frühling schrieb er einen Text, in dem so unverblümt über die wahren Gründe des Rauswurfs spekuliert und einige offengelegt wurde(n), als wäre es nicht um die „New York Times“, sondern irgendein Konkurrenzblatt gegangen. Diesmal geht es um Kürzungen. 100 Stellen will die „NYT“ streichen, bis heute, Montag können sich Mitarbeiter überlegen, ob sie sich aus ihrem Job rauskaufen lassen wollen. Das sind Fakten, die in unseren Breiten nie die Zeitung oder der Fernsehsender selbst, sondern immer das Medienressort der Konkurrenz hinausposaunen würde. Die „New York Times“ ist da anders – und lässt David Carr nicht nur erzählen, dass er Kollegen kenne, die ernsthaft überlegen, das Handshake-Angebot anzunehmen. Sondern er darf auch die genauen Konditionen schildern. (Drei Wochengehälter pro Anstellungsjahr bekommt jeder Mitarbeiter; wer mehr als 20 Jahre im Haus war bekommt zusätzlich 35 Prozent der Abfertigung draufgeschlagen.) „Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass wir Menschen verlieren werden, die eine jahrzehntelange Erfahrung im Journalismus haben“, schreibt Carr. Dabei sei zwar klar, dass die Times immer größer als jedes einzelne Individuum sei und man ohne Zweifel immer neue Menschen inner- und außerhalb der Zeitung finden würde, die auf ihre Weise sehr faszinierende Dinge tun – dennoch sei es ein bisschen beängstigend, sich damit anzufreunden, den Weg ohne ein paar Leute weiterzugehen.

Cordt Schnibben hat in seinem Text an „Spiegel“-Gründer Rudolf Augstein und dessen Worte „Sagen, was ist“ erinnert. Irgendwann haben viele Medien damit aufgehört, zu sagen, was ist, wenn es um sie selbst oder die Branche geht. Das ist prinzipiell gut so, schließlich sollen sie nicht nur Sprachrohr ihrer eigenen Befindlichkeiten sein. (Zudem ist die Branche ohnehin beinah zu geübt darin, über den allgemeinen Verfall und die Krise zu lamentieren.) Trotzdem: Solange man aber über die erfreulichen Dinge innerhalb eines Mediums berichtet, sollten auch die weniger angenehmen Dinge Platz haben. Und wenn es, so wie bei der „New York Times“, nur dazu dient, dass die Gerüchte außerhalb des Hauses weniger werden. Denn wenn Du selbst sagst, was ist, müssen es die anderen nicht mehr tun.

Phänomedial: Claire, Garett & Galina – der Netflix-Effekt

Phänomedial: Zwanzig Prozent der Eltern in den USA benennen ihre Kinder nach den Hauptfiguren aus ihren Lieblingsserien. Besonders stark vertreten ist „House of Cards“.

House of Cards kehrt im Februar für die dritte Staffel zurück. / Bild: HouseofCards

Die gute Nachricht für Fans der bitterbösen Polit-Intrige „House of Cards“: Der Termin für den Start von Staffel drei steht seit Montag fest und zeigt zunächst einmal, dass Netflix nicht zwei Mal auf den selben Schmäh zurückgreift. Staffel zwei ging heuer nämlich am 14. Februar online. Das Valentinstags-Programm war dann zumindest für jene Paare gestrichen, die nicht beide der Serie rund um den demokratischen Vizepräsidenten Frances Underwood und seiner Frau Claire verfallen sind. Diesmal aber gehen die zehn neuen Folgen erst am 27. Februar online. Der kurze Teaser zur Show, der auf Twitter mit der Zeile „A little note from the White House“ veröffentlicht wurde, ist mit zwölf Sekunden fast schon empörend kurz – und: ohne Ton. 

Wie viele Menschen sich in den USA auf die Fortsetzung der Serie freuen, lässt sich natürlich nur schwer berechnen. Dass sich die Amerikaner aber offenbar sehr von ihren Lieblingsserien beeinflussen lassen, wird nun wieder einmal bestätigt. Zumindest wenn es um die Namenwahl ihrer Kinder geht. Kürzlich wurden die beliebtesten hundert Babynamen veröffentlicht und bei Durchsicht der Liste zeigt sich etwas, was bereits den Fachbegriff „Netflix-Effekt“ bekommen hat: Zwanzig Prozent der Eltern benennen ihre Kinder nach den Hauptfiguren aus ihren Lieblingsserien. Zwar sind in den vorderen Rängen nach wie vor eher unverdächtig „normale“ Namen wie Sophia, Emma und Olivia oder Jackson, Aiden und Liam zu finden, aber auf den hinteren Rängen steigen vor allem solche Namen rapide an, die einem aus Serien bekannt sind.

Mein Sohn heißt wie der Serien-Präsident

Besonders stark vertreten ist da das eingangs erwähnte „House of Cards“: Dabei ist der beliebteste Name aus der Serie Garrett (so heißt der US-Präsident darin), erst danach kommen Frank und Frances (beide in Anlehnung an die Hauptfigur Underwood), Claire (Mrs. Underwood), Zoe (die Journalistin) und Remy (der Lobbyist). Diese Namen sind 2014 bis zu 16 Prozent öfter für den Nachwuchs ausgesucht worden als im Jahr davor. Auch Robin (zwölf Prozent) und Wright (plus 65 Prozent), also Vor- und Nachname der Schauspielerin haben deutlich zugelegt.

Noch beliebter als „House of Cards“ ist in den USA die Frauengefängnisserie „Orange is the New Black“. Wobei interessant ist, dass sich hier nicht der Vorname von Hauptfigur Piper Chapman besonderer Vorliebe freut, sondern vor allem der von Galina „Red“ Rednikov, der mächtigen Küchenchefin, mit der sich Piper zunächst anlegt.

Das private Institut, das Jahr für Jahr die Babynamen – nicht von offizieller Seite – ermittelt, beobachtet schon länger den Trend, dass sich Eltern bei der Namenssuche von Serien inspirieren lassen. 2012 war Arya jener Mädchenname, der am stärksten zugelegt hatte – so heißt eine der Figuren aus „Game of Thrones“. Die Namen Bella und Isabella wiederum sind auch deswegen beliebt, weil vor einigen Jahren so viele Menschen der Vampir-Schmonzette „Twilight“ verfallen sind. Alles in allem sagen die Namenexperten also: Einen Serientick hatten Eltern auch schon früher. Das Jahr 2014 aber könne man als das Jahr der „Bingewatching-Babys“ bezeichnen.

Ein Trend, bei dem Österreich nicht mitmacht

Übrigens: In Österreich hat sich der Trend bislang noch nicht durchgesetzt. Hier sind weder die Namen aus den US-Serien beliebt, noch jene aus den österreichischen Produktionen. Zumindest schafften es die Namen Ursula („Schnell ermittelt“), Bibi („Tatort“) sowie Gerhard und Richard (Hauptfiguren aus „Braunschlag“) bisher noch nicht unter die Top Ten. Auch ist mir nicht bekannt, dass es besonders viele unter 20-jährige Männer namens „Richard“ gibt. Was aber hätte sein können. Schließlich war damals „Kommissar Rex“ damals eine der beliebtesten Produktionen der Österreicher. Und der Hauptkommissar (gespielt von Tobias Moretti) hieß Richard. Erinnern Sie sich noch?

Jonathan und die Wagner-Damen: Eklat am Grünen Hügel

Logo_fisch+fleisch_RGBDie wahren Dramen spielen sich auch in der Kunst hinter den Bühnen ab. Das galt zuletzt für das Wiener Burgtheater und das zeigt ganz aktuell die Posse am Grünen Hügel in Bayreuth. Er sei „kein Verschwörungstheoretiker und kein Esoteriker“, sagte Jonathan Meese kürzlich der „Welt“ in einem ausführlichen Interview. Aber sicher sei er sich nun einmal trotzdem, dass da hinter seiner kurzfristigen Ausladung als Regisseur für die „Parsifal“-Aufführung bei den Bayreuther Festspielen 2016 etwas Großes steckt. „Ich sage Ihnen: Das ist mehr als nur ein kleines Skandälchen. Das ist ein ganz mieses Ding. Eine riesige Affäre, die sich bis in bestimmte Kreise zieht.“ Die genauen Details müssten bitte die Journalisten herausfinden, die ihn jetzt nach den Hintergründen gefragt hatten.

Tatsächlich erscheint die Absetzung von Jonathan Meese als Parsifal-Inszenierer aus der Ferne höchst seltsam. Warum passt den Wagner-Halbschwestern Katharina und Eva Wagner-Pasquier ausgerechnet jetzt das Enfant terrible der deutschen Kunstszene nicht mehr? Immer wieder und zuletzt 2013 war er mit provokanten Auftritten und Performances aufgefallen, bei denen er etwa den Hitlergruß zeigte und sich danach auch vor Gericht für diese Entgleisung verantworten musste (und freigesprochen wurde). Hätten solche Aktionen der Festspiel-Leitung in Bayreuth nicht gefallen, dann hätte sie Meese vermutlich schon früher abgesetzt oder gar nicht erst eingeladen. Und auch wenn Meese kein Verschwörungstheoretiker sein will, hört er sich im Interview dann doch ein bisschen so an. Er erzählt, dass im ersten Halbjahr 2014 der Ton der Festspielleitung ihm gegenüber deutlich kühler geworden sei und in Onlinekommentaren sei immer wieder behauptet worden, man wolle Meese bald absetzen. Monate später ist das nun mit dem Argument, seine Pläne für den Parsifal seien viel zu teuer und aufwendig, wirklich passiert. Meese schäumt und wehrt sich, suhlt sich in seinem gekränkten Stolz und bietet in dem Interview gar an, er würde zurückkehren an den Grünen Hügel. Die Liste seiner Bedingungen ist freilich lang. Er müsste „liebevoll“ und „von Herzen“ gefragt werden. Zudem müsste die Festspielleitung klar sagen, dass es sich um eine miese Intrige handelte und schließlich fordert Meese, „dass bestimmte Namen genannt werden“ müssten, „und deren Köpfe müssen rollen. Fertig“

Vermutlich ahnt Meese, dass seine Wünsche so bald nicht in Erfüllung gehen werden. Er hat nämlich schon einen Plan B wie er aus der Sache erhobenen Hauptes herauskommt: „Vielleicht halte ich meinen „Parsifal“ aber auch einfach jetzt als Mythos unter Verschluss. Der totale Mythos desjenigen, der Kunst aus politischideologischen Gründen nicht machen durfte – wer will das denn noch besiegen?“ Na wer?

29, 39, 49 – Sind die wichtigen Jahre jene am Vorabend einer neuen Dekade?

Man soll ja Umfragen und Studien nicht allzu viel Bedeutung zumessen. Obwohl, interessant sind sie allemal – und wenn es nur darum geht, die eigenen Lebensumstände mit den Studienergebnissen abzugleichen. Gerade hat die US-amerikanische Fachzeitschrift PNAS eine Studie zu den prägendsten Lebensjahren in unser aller Leben veröffentlicht. Demnach ist das Jahr vor dem Wechsel in eine neue Dekade für viele sehr einschneidend. Mit 29, 39, 49 oder 59 entscheiden sich überdurchschnittliche viele, bestimmte Dinge in ihrem Leben zu verändern, neu zu beginnen oder zu beenden. Die Studienautoren der UCLA und New York University haben dafür Datingplattformen und Bestzeiten-Wertungen bei Marathonläufen herangezogen und verglichen. So waren von acht Millionen neu registrierten Nutzern einer Dating-Seite 950.000 Männer im Alter von 29, 39, 49 oder 59. Zudem haben die Forscher die Bestzeiten von Marathonläufern in ihren Neuner-Jahren verglichen und herausgefunden, dass die Läufer in diesem Jahr um einiges schneller waren als in den zwei Jahren davor und danach. Soll heißen: In diesem Jahr haben die Teilnehmer besonders hart oder härter trainiert als sonst.

Die traurige Nachricht: auch die Suizid-Rate ist in den Neuner-Jahren besonders hoch. Für die Forscher ist somit bewiesen, dass runde Zahlen beim Lebensalter eine psychologische Wirkung haben und dass die Menschen am Vorabend einer neuen Dekade dazu tendieren, stärker über den Sinn des Lebens nachdenken. Sie nennen diese Jahre die „What am I doing with my life“-Years. Ich für meinen Teil kann das Studienergebenis nur mäßig unterstreichen. Meine „magischen“ Jahre, in denen sich vieles bewegt hat, waren bisher eher die zu Beginn einer Dekade. Ich hab zum Beispiel mit 21 und 31 wirklich wichtige Entscheidungen getroffen oder Dinge abgeschlossen. Aber auch mit 23 und 28 sind sehr richtungsweisende Ereignisse passiert, wie der Start in mein Berufsleben und die Entscheidung, nochmal an der Uni zu studieren. Alles in allem glaube ich also nicht unbedingt daran, dass ich nur oder gerade vor dem Start in ein neues Lebensjahrzehnt so viel öfter Dinge bewegen als sonst. Link zur Studienzusammenfassung: http://nymag.com/scienceofus/2014/11/we-make-our-big-life-decisions-at-29.html?mid=twitter_nymag

Depression auf Twitter: Mehr als nur traurig

Logo_fisch+fleisch_RGB Dieser Text wird kein Gute-Laune-Text und das obwohl seit Dienstag Fasching ist. Denn es geht um folgendes: Seit kurzem werden auf Twitter ziemlich traurige und nachdenkliche Nachrichten verbreitet. Mit dem Hashtag #notjustsad teilen depressive Menschen ihre Erfahrungen mit dieser psychischen Krankheit. Das liest sich dann in etwa so: „Wenn man dir unterstellt, dass du dich nur in den Mittelpunkt drängen willst. #notjustsad“, „Wenn du meinst zu ertrinken, während alle um dich atmen können #notjustsad“ oder „Mein Leben ist mehr als okay und ich bin trotzdem depressiv. Nur, weil ich alles habe, was ich brauche, muss es mir nicht gut gehen.“ Ausgelöst hat diese Bekenntnis-Reihe die deutsche Bloggerin Jana Seelig, die sich auf Twitter Jenna Shotgun (@isayshotgun) nennt. Weil sie sich wieder einmal von irgendjemandem anhören musste, sie solle sich nicht so gehen lassen, reagierte sie mit einer Reihe von Tweets, wie sie Süddeutsche.de erzählte.

Darin schilderte sie ihren Alltag mit Depressionen, die bei ihr mit 22 Jahren nach langer Ursachensuche diagnostiziert wurden. Und prompt wurde ihre Tweet-Serie bemerkt, favorisiert und retweetet; eine andere Twitternutzerin brachte schließlich den Hashtag #notjustsad auf, der bereits seit 2011 vereinzelt in englischsprachigen Tweets zum Thema auftaucht. Quasi über Nacht und wie schon beim Anti-Alltagssexismus-Aufruf #Aufschrei im Vorjahr hat das deutschsprachige Twitterland eine Aufmerksamkeitskampagne mit sehr ernstem Hintergrund, der sich 48 Stunden später auch in den klassischen Medien wiederfindet. Die Sache mit der Depression ist seltsam. Obwohl von Zeit zu Zeit prominente oder spektakuläre Fälle von depressiven Menschen, die sich das Leben nehmen, durch die Medien geistern, ist das Thema immer noch Tabu.

Wenn sich nicht gerade ein Star wie Robin Williams oder ein bekannter Finanzmanager das Leben nimmt und sich die Öffentlichkeit, wie derzeit, an den deutschen Tormann Robert Emke erinnert, der sich vor exakt fünf Jahren das Leben nahm, wird Depression kaum angesprochen. Das Thema geht verloren zwischen den inflationären Berichten über Burnout-Kliniken oder Digital-Fasten und der verständlichen Angst, durch Suizid-Berichte Nachahmer zu animieren. Daher ist die #notjustsad-Aktion prinzipiell gut, rückt sie doch eine weit verbreitete Krankheit ins Rampenlicht. Wenn wir auf diesem Weg erfahren, dass vier Millionen Deutsche und 400.000 Österreicher davon betroffen sind.

Und wenn darüber informiert wird, wie und wo man sich helfen lassen kann. Wenn Betroffene durch die Schilderungen anderer zwar nicht richtig aufgemuntert werden, aber zumindest für kurze Zeit das Gefühl bekommen, dass sie nicht allein sind. Und wenn darüber aufgeklärt wird, dass Depressionen manchmal besser werden oder sogar ganz verschwinden können. Dennoch hinterlässt die Aktion auch ein paar Fragen: Ist wirklich jeder Tweet eine authentische Schilderung eines depressiven Menschen? Wo verläuft die Trennlinie zwischen einer durch ein punktuelles Ereignis ausgelösten Verstimmung und der klinisch diagnostizierten Krankheitsform? Und dann sind da natürlich die Trolle, die schimpfen und wettern. Weil sie mit dem „Psychomüll“ der anderen nicht behelligt werden wollen oder manchen #notjustsad-Twitterern Effekthascherei oder Jammerei unterstellen. Andere fragen obergescheit: „Schon wieder eine Kampagne der Pharmaindustrie im Gange“?

Die Bloggerin Ada Blitzkrieg, alles andere als ein Troll, aber zumindest ehrlich, stellte fest, sie fühle sich statt besser nur noch trauriger, wo sie jetzt wüsste, „dass alle anderen auch depressiv sind“. Wobei „alle anderen“ auch wieder eine Übertreibung ist. Die Tweets können Betroffenen vielleicht eine Ablenkung oder das Gefühl vermitteln, nicht allein mit ihrer Krankheit zu sein. Und allen anderen in Erinnerung rufen, dass hinter jedem noch so mutig-frechen, pointierten Twitterer in erster Linie ein Mensch steht, der Schwachstellen hat. Doch um das Thema Depression zu enttabuisieren, braucht es mehr als ein paar tausend Kurznachrichten und eine gemeinsame Klammer, zB Texte über Therapieformen und Adressen für Hilfesuchende. Die aktuelle Hashtag-Parade kann aber jedenfalls ein guter Anfang sein. Was meint ihr?

Hilfe bei Depressionen oder Suizidgedanken:

Psychiatrische Soforthilfe: 01/31330 rund um die Uhr, http://www.psd-wien.at/psd/

Telefonseelsorge (Rufnummer 142) ist kostenlos

Kriseninterventionszentrum Wien: 01 / 406 95 95  (Mo-Fr: 10 – 17 Uhr); www.kriseninterventionszentrum.at

Für Kinder und Jugendliche: Rat auf Draht (Rufnummer 147)

in Deutschland: Deutsche Depressionshilfe: kostenlose Hotline unter 0049 (0)800-3344533

Die unerträgliche Leichtigkeit des Scheiterns

Logo_fisch+fleisch_RGB Ist Euch vielleicht auch schon aufgefallen. Dass das Scheitern seit einiger Zeit so richtig in Mode gekommen ist. Es ist die häufigste Ausrede für den geringeren digitalen oder technologischen Fortschritt, den der deutschsprachige Raum im Vergleich zu Amerika oder Asien vorzuweisen hat. Es ist der kleinste gemeinsame Nenner aller Gegenwartspessimisten. Egal, ob bei den Technologiegesprächen im Tiroler Bergdorf Alpbach, beim Wiener Startup-Großfestival Pioneers in der Hofburg, in Essay-Sammelbänden, am Titel der aktuellen Ausgabe des Wirtschaftsfeuilletons „Brandeins“ oder bei Gastauftritten weit gereister Medien- und Digitalexperten: Immer fällt irgendwann das berühmte Beckett-Zitat. Immer können sich Vortragende und Diskutanten darauf einigen, dass es um dieses „Try again. Fail again. Fail better“ geht. Und immer wird seufzend festgestellt, dass es Österreich an einer gesunden Fail-Kultur mangelt. 

Das mag sein. Aber keiner hat mir bisher erklären können, was eine gesunde Fail-Kultur eigentlich ist. Anstatt ständig romantisch das Scheitern als Mittel zum Zweck oder wie Thomas Edison, der Erfinder oder Verbesserer von Glühbirne, Telefon und Gramophon, als schmerzhaften Weg zum Erfolg zu bezeichnen, wäre mir wohler, wenn die vielen Strategen und Trendexperten konkreter werden würden. Ich will Beispiele sehen! Welcher Manager darf sich noch weiterhin in seinem Chefsessel drehen, wenn er nicht die zuvor selbst gesteckten Ergebnisse bringt? Welcher TV-Chef darf sich bei sinkenden Quoten, welcher Zeitungsmanager bei sinkender Verkaufsauflage längere Zeit auf der Fail-Better-Floskel ausruhen (es sei denn ihm gehört Sender oder Zeitung)? Scheitern ist nicht immer ein fruchtbringender Lernprozess, der uns weiser, reifer und besser macht. Manchmal ist es sogar existenziell bedrohlich, lebensverändernd oder zumindest himmelschreiend unfair. Nicht nur bei der vierten verpassten Bürgerlich-Recht-Prüfung oder dem „Leider nein“ beim Führerschein-Zweitantritt. Etwa, wenn der Pitch beim Großkunden zum dritten Mal an das Konkurrenzunternehmen geht, eine Operation zu schweren Komplikationen führt und und und. Das Scheitern-Argument klingt ein bisschen wie die sinnentleerte Tröst-Floskel der Großeltern an ihre Enkel, die erste Erfahrungen mit Blut, Schmerz oder sonst irgendeiner unangenehmen körperlichen Blessur machen: „Bis du heiratest, ist es wieder gut.“ Weil niemand kann genau sagen, wo das Scheitern aufhört und das Gewinnen beginnt. 

Daher freu ich mich auf den ersten Vortrag, bei dem der Redner ehrlich zugibt, dass man in manchen Punkten eben nicht unbedingt Scheitern sollte. Auf das erste Panel, bei dem auch mal erklärt wird, wie denn diese in Österreich angeblich so wenig verbreitete Fail-Kultur gelernt werden kann. Im Fachjargon nennt man das vielleicht „Differenzierung“. Denn wir Österreicher sind zwar vielleicht keine Experten im gesunden Umgang mit Scheitern, aber Meister im „Schauen wir mal, dann werden wir schon sehen“-Denken. Eine weitere Ausrede für dieses austriakische Laissez-faire haben wir eigentlich nicht gebraucht.